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Ausgabe:

1900 Nr. 21

Spalte:

595-597

Autor/Hrsg.:

Türck, Hermann

Titel/Untertitel:

Der geniale Mensch 1900

Rezensent:

Hans, Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 21.

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Has punctum saliens durch allgemeine Sätze, die kaum I und dafs die in denfelben ausgefprochenen Gedanken
Jemand bezweifelt, verhüllt wird, fteht in auffallendem durch das ganze Buch (ich hindurchziehen. Aber ich habe

Gegenfatz zu der Schärfe des Denkens, die fonft dem
Verf. eigen ift. Die von ihm bekämpften Vertreter der
,antichriftlichen Weltanfchauung' aber werden für diefen
bifchöflich approbirten ,Triumph' einer ,chriftlichen
Philofophie', die nicht den Muth hat, ihre Abhängigkeit
von der kirchlichen Autorität zu geftehen und die ,am
Ende des XIX. Jahrhunderts' durch die Mafsregelung
Schelks eine fo grelle Beleuchtung erfuhr, nur ein Lächeln
haben.

Riedlingen a/D. Th. Elfenhans.

Türck, Hermann, Der geniale Mensch. Vierte vermehrte
Auflage. Berlin, H. Dümmler's Verl. (XI, 400 S.
gr. 8.) M. 4.50; geb. M. 5.60

Schopenhauer fagt, Genialität fei .nichts anderes, als
die vollkommenfte Objecti vität, das heifst objective
Richtung des Geiftes, entgegengefetzt der fubjectiven, auf
die eigene Perfon, das ift den Willen gehenden'. Und Goethe
fchreibt: ,Das Erfte und Letzte, was vom Genie gefordert
wird, ift Wahrheitsliebe'. Von diefen beiden Aus-
fprüchen ausgehend, die er als gleichbedeutend annimmt,
entwickelt der Verfaffer dasWefen des genialen Menfchen.
Er zeigt, wie äfthetifches Anfchauen und im Zufammen-
hange damit auch künftlerifches Schaffen um fo reiner und
vollkommenerzuftandekommen, je weniger fubjective.s, das
ift felbftfüchtiges Intereffe an dem Gegenftande vorhanden
fei, je mehr man ihn feinem eigenen Wefen nach auf fich
wirken laffe, und wie ebenfo die Klarheit und Sicherheit
des philofophifchen Erkennens durch diefe unintereffirte
Hingabe an das zu erkennende Object bedingt fei. Was
er Objectivität und Wahrheitsliebe nennt, fteht alfo im
Gegenfatz zur Selbftfucht, man kann es im allgemeinen

Liebe nennen, und fo kommt er zu dem Schlufs: ,Soviel ! folle auch von uns innere Freiheit gewonnen und genoffen

den Eindruck, dafs der gefchloffene Aufbau fehlt und dafs
darunter das Ganze etwas leidet.

Zum Beften, was das Buch enthält, rechne ich die
Studie über Hamlet, in der auch am eingehendften und
confequenteften das über das Wefen des Genies Gefagte
durchgeführt wird. Der Verfaffer fucht den Grund für
Hamlets vielberufenes Zögern darin, dafs er zu den ob-
jectiv gerichteten, edlen und grofsen Naturen gehöre,
die nicht durch felbftfüchtige Motive zum Handeln be-
ftimmt würden. Deshalb liege es ihm fern, perfönliche
Genugthuung in dem fofortigen Vollzug der Rache zu
fuchen. Er halte fich allerdings für verpflichtet, Rache
zu üben. Aber durch die traurigen Erfahrungen, die er
macht, werde ihm der Glaube an die Menfchen überhaupt
erfchüttert, er gerathe in eine fo tiefgehende feelifche
Verftimmung, dafs ihm die felbfllofe Freude am Wirken
und Schaffen im Verein mit den Menfchen, überhaupt jedes
Motiv zur Bethätigung der grofsen in ihm fchlummernden
Fähigkeiten und Kräfte genommen fei. Sehr intereffant
ift es, dafs der Verfaffer zu diefer fehr anfprechenden
und einleuchtenden Löfung des Problems durch Matth.
12, 46fr. gekommen zu fein erklärt. Er habe fich gefragt
, ob Hamlet nicht vielleicht eine ähnliche Stellung
zu feinem Vater einnehme, wie hier Chriftus zu feinen
Angehörigen, ob nicht auch Hamlet in feinem hohen
Sinn für das Allgemeine die Anfprüche des befonderen
kleinenKreifes, dem erzufällig angehöre, als eine ungehörige
Feffel empfinde.

In dem Capitel über Chriftus und Buddha wird
Chriftus als der Vertreter der thätigen, der praktifchen
Liebe zu Gott dargeftellt, die mit der thätigen Liebe
zu den Mitmenfchen zufammenfalle. In der Uebung
folcher Liebe, einem wahrhaft genialen Thun, könne und

Liebe in einem Menfchen ift, foviel Genialität; foviel | werden. Anfprechend wird gezeigt, wie der Rath Jefu
Selbftfucht, foviel Bornirtheit', ein Satz, den er dann auch in Matth. 5, 39fr. nicht ftumpffinnige Refignation, fondern

bezug auf das Handeln und, das praktifche Verhalten weiter
ausfuhrt. — Man fieht, der Verfaffer will eigentlich nicht
fowohl den genialen Menfchen als Ausnahmeerfcheinung
fchildern, als vielmehr die in diefem in markanter Weife
hervortretenden Züge idealen menfchlichen Wefens überhaupt
darftellen, und vielleicht wäre der bezeichnendere

Bewährung höchfler Liebeskraft fordere, es handele fich
darum, fich bei der Ausführung deffen, was man im Ge-
horfam gegen Gott vollbringen wolle, durch nichts ablenken
zu laffen, weder durch Gutes, noch durch Böfes,
das man erfahre, auf gar nichts Rückficht zu nehmen,
was nur auf die eigene vergängliche Perfon bezug habe.

Titel für fein Buch: Der ideale Menfch. j Mifslungen dagegen fcheint mir die Deutung der Ver

Was er nun in den drei erden Capiteln feines Buches 1 fuchungsgefchichte zu fein. Es werden durchaus moderne

theoretifch entwickelt hat, das fucht er dann an einer Reihe
von Beifpielen aus der Literatur und Gefchichte zu veran-
fchaulichen. Er befpricht: Shakefpeare's Auffaffung vom
Wefen des Genies im Hamlet, Goethe's Selbftdarftellung im
Fauft, Byron's Schilderung des Uebermenfchen im Manfred,
Genialität und Seelenfreiheit nach Schopenhauer's und
Spinoza's Lehre, die Erweckung der Seelenfreiheit durch
Chriftus und Buddha, das weltliche Uebermenfchenthum
Alexanders, Cäfars, Napoleons, die Entwickelung des
höheren Menfchen nach Darwin und Lombrofo's Irrfinns-
hypothefe und endlich die Ideale, wenn man fo fagen dart,

Gedanken in die Seele Jefu eingetragen und fogar die
,Leiden des jungen Werther' zur Erklärung der in ihm
herrfchenden Stimmungen beigezogen. Das Faften in
der Wüfte foll eine Nachahmung der Askefe Johannes
des Täufers gewefen fein. Als er das dann aber aufgegeben
und Hunger gefühlt habe, ohne jedoch Spcife
zur Hand zu haben, um feinen Hunger zu füllen, fei
ihm diefer Umftand als bezeichnend erfchienen für feine
ganze Lage. Es fei ihm der Gedanke gekommen, warum
er von einem Stück Brot abhängen müffe. R> habe
fich gefragt: ,Warum diefe Abhängigkeit von den Aeufser-

von Stirner, Nietzfche und Ibfen, in denen er ,die An- lichkeiten und Zufälligkeiten des Lebens, wo es lieh um

tifophie des Egoismus' erkennt und fich ihm der bornirte
Menfch im Gegenfatz zum genialen zu offenbaren fcheint.
Nicht alle diefe Ausführungen flehen auf gleicher Höhe
und in gleich engem Zufammenhange mit dem Thema
und der in den erften Capiteln gegebenen Entwickelung.
Das Buch ift offenbar nicht als Ganzes entftanden, fondern
der Verfaffer hat manches, was ihm unabhängig von
demfelben auf anderen Gebieten als Frucht feines Nachdenkens
und Forfchens erwachfen ift, hier angefügt oder
eingegliedert. Ich bin fogar geneigt anzunehmen, dafs
die einleitenden und grundlegenden Capitel gefchrieben
worden find, um für die zum Theil fchon vorhandenen
verfchiedenartigen Studien ein gewiffes Einheitsband her-
zuftellen. Damit will ich nicht beftreiten, dafs gerade
diefe Capitel fehr viel Treffliches und Wahres enthalten,

die Erhaltung der höchften geiftigen Wirkfamkeit handelt?'
,Soll er fich nicht auflehnen gegen den Gedanken, dafs
es einen Gott giebt, ein höchftes, vollkommenftes, freieftes,
fchöpferifches Sein, da es doch nur Zwang, Notwendigkeit
, Abhängigkeit zu geben fcheint?' Wenn man folche
Reflexionen bei Jefus vorausfetzt, kennt man den gefchicht-
lichen Hintergrund feines geiftigen Lebens fehr wenig.
Auch ift es gewifs gänzlich verfehlt, in der zweiten Ver-
fuchung, die das Herabftürzen von der Zinne des Tempels
betrifft, eine Verfuchung zum Selbftmord zu fehen.

Die Polemik im letzten Capitel richtet fich hauptfachlich
gegen Nietzfche, der in ausführlichen Citaten
felbft zum Worte kommt. Dem Grundgedanken des Ver-
faffers gemäfs wird zu zeigen verfucht, dafs der von diefem
modernen ,Antifophen' gepredigte Pigoismus das Gegen-