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Ausgabe:

1900 Nr. 20

Spalte:

571-572

Autor/Hrsg.:

Wegener, Rich.

Titel/Untertitel:

A. Ritschl‘s Idee des Reiches Gottes im Licht der Geschichte 1900

Rezensent:

Weiß, Johannes

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571 Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 20. 572

zuftellen zwifchen der empirifchen und fittlichen Welt.
Vorausfetzung eines derartigen Unternehmens ift freilich
die Thatfache, dafs Kant gevvifse Grundideen feiner
,Kritik der reinen Vernunft' auf die Dauer und in der
Praxis nicht confequent feftzuhalten vermochte, dafs ihm
vielmehr das Reich der Phänomene fich allmählich zu
etwas objectiv Realem neben dem des Intelligibeln verdichtete
in dem Mafse, als die lebendige Erinnerung an
die Gedankenarbeit verblafste, welche feine Erkenntnifs-
theorie erzeugt hatte. Darum ift auch mit der letzteren
feine Religionsphilofophie nicht wohl vereinbar.

Ref. hält diefe Beurtheilung im wefentlichen für richtig.
Er felbft hat in einer, übrigens fonfl nicht einwandfreien,
Jugendarbeit (Differtation über ,Das Verhältnifs der Kan-
tifchen Religionsphilofophie zum Ganzen des Kantifchen
Syftems') eine ähnliche Auffaffung zum Ausdruck gebracht.
Dagegen vermag er fich nicht die Meinung Mengel's anzueignen
, dafs die folgerichtige Kantifche Religionsphilofophie
nothwendig beim Illufionismus ausmünden
müffe. Deshalb glaubt er auch die Bedeutung des Kriticis-
mus für die Theologie etwas anders einfchätzen zu
muffen, als es der Autor thut.

An Einzelheiten fei nur die doch wohl etwas fchiefe
Darftellung der Vaihinger'fchen Auslegung S. 18 hervorgehoben
.

Mit folchen Vorbehalten foll gleichwohl dem wirklichen
Werth der fleifsigen, umfichtigen und wohldurchdachten
Schrift nicht zu nahe getreten werden.

Strafsburg i. E. E. W. Mayer.

Wegener, Pred. Erziehungsinfp. Dr. Rieh., A. Ritschl's
Idee des Reiches Gottes im Licht der Geschichte. Kritifch
unterfucht. Leipzig, A. Deichert Nachf., 1897. (VI,
127 S. gr. 8.) M. 2 —

Der Verf. hofft zur Klärung des Urtheils über die j Bemängelungen des Sprachgebrauches Ritfchl's erledigen

echt rationaliftifch gerade darin das Grofse an Jefus
erkennt, dafs er fähig war, den Gedanken zu faffen,
der vor ihm noch in keine menfehliche Seele gekommen
war, nämlich den Gedanken, ,ein Reich der Wahrheit,
Sittlichkeit und Wohlfahrt zu errichten und alle Völker
der Erde in daffelbe zu verfammeln'. Befonders wichtig
ift für die Entwickelung der Idee natürlich Kant. Wegener
hätte wohl fagen können, dafs Ritfehl felbft (III3,
II) mit Bewufstfein auf ihn zurückgreift. In Betracht
kommt hauptfächlich die Schrift ,Die Religion innerhalb
der Grenzender blofsen Vernunft 1793'. Hier ift im Unter-
fchied von den beiden Kritiken der Begriff des Reiches
Gottes als einer Vereinigung von Menfchen nach Tugend-
gefetzen, alseine Art ethifcherStaat, gefchildert. Die Darftellung
Kant's leidet, wie der ganze hiftorifche Theil unferes
Buches an einer unerträglichen Unruhe, die anftatt den
Lefer wirklich einzuführen, beftändig das Räfonnement und
leidenfehaftliche Sympathien oder Antipathien einmifcht.
Die höchft einfeitige Ausfpielung Herder's gegen Kant
fei hierfür als Beifpiel genannt. Trotz diefer formell
und menfehlich unerfreulichen Darftellung, die der Lefer
genau nachprüfen mufs, wird man das Ergebnifs im
Ganzen richtig nennen müffen. Dafs der teleologifch-
ethifche Gedanke des Reiches Gottes die nächfte Ver-
wandtfehaft mit diefen Ideen der Aufklärungszeit befitzt
, wird nicht mehr beftritten werden können, ebenfo,
wie heute hoffentlich zugeftanden werden wird, dafs der
Gedanke in diefer modernen, ethifchen Form nicht iden-
tifch ift mit der fynoptifchen ßaOiXda rov &eov. Aber
der hiftorifche Beweis, der im Einzelnen doch auch
wieder recht anfechtbar ift, dient dem Verf. als Mittel,
die Theologie Ritfchl's zu kritifiren oder zu discreditiren,
An Leidenfchaftlichkeit und Anmafsung wird feine Polemik
kaum überboten werden können. An Verftändnifs
und Urtheilsfähigkeit läfst fie um fo mehr zu wünfehen
übrig. Die höchft fchulmeifterlichen, beinahe albernen

Theologie Ritfchl's, d. h. zu ihrer Kritik und Ueber-
windung beitragen zu können, indem er auf ihre Central-
idee vom Reiche Gottes das Licht der Gefchichte fallen
läfst. Der neue Geift, der in der proteftantifchen Theologie
erweckt ift und der herrfchenden Zeitlaune entgegenkommt
, .fofern er der fyftematifchen Theologie
ein fehr moralifches Ausfehen giebt und fie mit allen
wohlberechneten Mitteln einer gefallfüchtigen Weltweisheit
in verfchwenderifcher Weife ausftattet' — ift in
Wahrheit der moralifche Geift der Aufklärung des vorigen
Jahrhunderts. Die Idee des Reiches Gottes, die mit
Ritfehl von Neuem ihren feierlichen Einzug in die fyfte-

fich einfach dadurch, dafs die Stelle beachtet wird, in
welcher R. feinen Anfchlufs an den uns ,geläufigen'
Sprachgebrauch rechtfertigt. Die Unklarheit, die durch
Aufnahme des Begriffes ,höchftes Gut' allerdings ent-
ftanden ift, will gefchichtlich begriffen fein als Anfatz
zu einer völligen Umbildung des Begriffes Reich Gottes
ins Religiöfe, wozu Kaftan den Anftofs gegeben hat.
Ein fo fcharfer Kritiker hätte wohl die Verpflichtung
gehabt, fein Opfer darauf hin etwas genauer zu ftudiren.
Wer Ritfehl nicht kennt, müfste aus diefem Buche, wenn
er es wirklich bis zu Ende durchläfe und verftünde, den
Eindruck haben, dafs die ganze Theologie Ritfchl's in

matifche Theologie gehalten hat, ift eine Lieblingsidee I der Reichgottes-Idee fich erfchöpfe. Dafs er aufserdem
der Aufklärung des vorigen Jahrhunderts, die zu ihren ' eine ungeheuere Kraft fyftematifcher Arbeit auf den
Stimmungen und Tendenzen nur allzu gut pafste (S. 41.). j Ausbau der Erlöfungslehre verwandt hat, davon merkt
Vor Allem ift es die fpeculative Betrachtung der der Lefer nichts. Wie Beides zufammenhängt und wie
Dinge unter dem Gefichtspunkte des Zweckes und die > nicht, davon hat der Verf. nichts gemerkt. Dafs der
ftarke Betonung des Vorfehungsglaubens, welche die j Vorfehungsglaube und die Teleologie bei Ritfehl eine
Aufnahme der Reichgottesidee nahe legte. Schon vor Folgerung aus der Verföhnung ift, das wird, wie geKant
ift fie daher in der Theologie ftark erörtert worden, wohnlich, verfchwiegen. Natürlich fehlt auch die thörichte
Der Verf. giebt einige Stichproben'. Joh. Jakob Hefs Befchuldigung nicht, Ritfehl habe für den religiöfen
in feinem Buche vom Reiche Gottes 1774, 2. Aufl. 1781, Individualismus keinen Sinn gehabt. Kurz — es zeigt
Reinhard in feinem, Verfuch über den Plan, welchen 1 fich auch bei unferem Verf. die übliche Methode der

der Stifter der chriftlichen Religion zum Betten der
Menfchheit entwarf (1781). In der That ift es von
gröfstem Intereffe, die heutige theologifche Idee hier
bei ihren Ahnherrn zu ftudiren und es müffen über
rafchende Berührungen zugeftanden werden. Dem Exe-

verftändnifslofen Beurtheilung Ritfchl's. Was aber bei
ihm bemerkenswerth ift, das ift fein Hafs gegen die
Teleologie, der faft pathologifch ift und jedenfalls ahnen
läfst, dafs er ein Syftem in petto hat, das aller Teleologie
den Garaus machen wird. Leider verräth er von diefem

geten fei geftattet, darauf hinzuweifen, dafs J. J. Hefs Geheimnifs einftweilen nichts. So unerfreulich und ärgerin
feinen Ausführungen einen feineren exegetifchen Takt lieh mir die Leetüre des Buches gewefen ift, fo mufs ich
beweift, infofern, als er entfehieden mehr im Sinne des doch dem Verf. danken, dafs er mich auf Studien über
Urchriftenthums, als Reinhard die eigentliche Begrün- | die Gefchichte der Idee des Reiches Gottes geführt hat.

Wenn ich dazu komme, fie zu veröffentlichen, werde
ich mich auch im Einzelnen mit ihm auseinanderfetzen.

dung des Reiches Gottes, defsen Anfänge er in der jüdi-
fchen Theokratie fieht, nicht in der Sammlung des Jünger-
kreifes und der Predigt der Gerechtigkeit, fondern in der
Erhöhung des Meffiaskönigs findet, während Reinhard

Marburg. J. Weifs.