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Ausgabe:

1900 Nr. 20

Spalte:

570-571

Autor/Hrsg.:

Mengel, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Kants Begründung der Religion 1900

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 20.

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reinen Vernunft' vorbereitet ift, dafs aber daneben bereits
Spuren einer anders orientirten Auffaffung fich bemerkbar
machen, und dafs namentlich die Poftulate ,Gott' und
.Unfterblichkeit' ihrem Gehalt nach über das hinausftreben,
was der ,religionsphilofophifche Plan' erwarten liefs: die
Abweichung foll fich auch darin verrathen, dafs die
Kritik der praktifchen Vernunft, um ihre Uebereinftimmung
mit der transcendentalen Dialektik darzuthun, genöthigt
ift Veränderungen in der Bezeichnung und Reihenfolge
der Ideen vorzunehmen.

Erheblich weiter aber noch geht die .Religion innerhalb
der Grenzen der reinen Vernunft'. Der Boden des
kritifchen Idealismus wird von ihr entfchieden verlaffen:
Das Freiheitsproblem, das fie erörtert, ift thatfachlich ein
anderes als das, welches von jenem in Betracht gezogen
wird. Dazu kommt, dafs, während in der .Kritik der
praktifchen Vernunft' als Subject der Religion das Individuum
erfchien, fich hier die Aufmerkfamkeit vornehmlich
auf die fittliche Gemeinfchaft richtet: dem ent-
fprechend tritt die Unfterblichkeitsvorftellung und überhaupt
der Jenfeitsgedanke zurück, und die Gottesidee als
ein ,Hülfsbegriff, um das ethifche gemeine Wefen' ver-
ftändlich zu machen, wird ,nur in Hinficht auf die dies-
feitige fittliche Entwickelung' conftruirt.

Die .Kritik der Urtheilskraft' endlich, deren erfter
Theil allerdings feinen Zweck verfehlt, fteht mit dem
zweiten in der Mitte zwifchen der .Kritik der praktifchen
Vernunft' und der .Religion innerhalb der Grenzen der
reinen Vernunft': das erhellt deutlich aus dem Umfiand,
dafs fie das höchfte Gut bald als ,die vollendete fittliche
Gemeinfchaft', bald als ,die Einheit der Tugend und
Glückfeligkeit' deutet.

Soweit eine in flüchtigen Umrifsen gehaltene Inhaltsangabe
, in die leider manche feinfinnige Bemerkung, wie
fie beifpielsweife die Befprechung der Kantifchen Schönheitslehre
darbietet, nicht gut eingegliedert werden konnte.
Auch wer nicht immer mit des Verf. Art zu verfahren
und allen Einzelheiten feiner Schrift einverftanden ift, wird
nicht anflehen anzuerkennen, dafs wir es in dem vorliegenden
Buche nicht nur mit einer fehr fleifsigen und
gewiffenhaften Arbeit fondern auch mit einer originellen,
äufserft fcharffinnigen und anregenden Studie zu thun
haben. Als werthvoll darf zweifelsohne der Hinweis
auf die Doppelgeftalt des Freiheitsproblemes bezeichnet
werden: erft recht bedeutet eine entfchiedene Bereicherung
unferer Erkenntnifs die Darlegung, dafs uns in Kant's
Religionsphilofophie überhaupt zwei Gedankenreihen begegnen
, von denen die eine mehr das Individuum, die
andere mehr die fittliche Gemeinfchaft betrifft, von denen
die erfte über das Diesfeits hinausftrebt, während die
zweite dazu neigt, in der Erfcheinungswelt zu quiesciren.
Unzweifelhaft richtig ift aber auch der Gedanke, dafs
Kant's Religionslehre fich allmählich weiter und weiter
von den Grundfätzen des kritifchen Idealismus entfernt.

Dagegen dürfte es vielleicht nicht unanfechtbar fein,
wenn der Verfuch gemacht wird, dies aus einer Art Fortbildung
und Vertiefung des Freiheitsproblemes zu erklären:
eine folche ift doch wohl nicht zu conftatiren, fondern
nur eine Subftitution einer Frage für eine etwas ver-
fchieden geartete. Eher noch liefse fich die ganze Wandlung
, die fich unleugbar vollzieht, aus dem Umftand ableiten
, dafs Kant fich mit beftimmten gegebenen kirchlichen
Dogmen auseinanderzufetzen hatte, obwohl diefe
Deutung allein gleichfalls nicht ausreicht. Ein gewichtigeres
Bedenken könnte dagegen gerichtet werden, dafs
Schweitzer dieUebereinftimmung derKantifchen Religionsphilofophie
mit dem kritifchen Idealismus ausfchliefslich
an dem Verhältnis derfelben zur transcendentalen Dialektik
prüft. Wäre es nicht empfehlenswerth gewefen, auch
die vorhergehenden grundlegenden Theile als Mafsftab
zu verwerthen? Dann hätte fich von felbft die Einficht
aufgedrängt, dafs es nicht, wie Verf. einmal meint, eine
nothwendige Confequenz der kriticiftifchen Auffaffung war,

das Intelligible und Moralifche zu identifiziren, fondern
dafs fchon die blofse Behauptung des Dinges an fich den
erften Schritt abfeits vom Wege bedeutet; dann wäre es
auch nicht zu der Thefe gekommen, dafs Schopenhauer
die Kantifche Erkenntnifstheorie in ihren äufserften Folgen
ausgebildet habe. Was fchliefslich die befonders günftige
Beurtheilung der .Religion innerhalb der Grenzen der reinen
Vernunft' anlangt, fo ift die Schätzung diefer Schrift
an und für fich eine Gefchmacksfache, über die hier nicht
zu ftreiten ift. Doch wird man, fo lange man mit dem
Königsberger Philofophen felbft deffen Hauptverdienft in
der Kritik der reinen Vernunft fieht, fie nicht gut als den
Höhepunkt Kantifchen Denkens bezeichnen dürfen. Damit
foll nicht etwa eine Lanze gebrochen werden zu Gun-
ften der .Kritik der praktifchen Vernunft': die eigentliche
Bedeutung Kant's für die Religionsphilofophie und vielleicht
für die moderne Theologie, befteht überhaupt nicht
in irgend einem pofitiven Beitrag fondern darin, dafs er
der Erkenntnifs Grenzen ziehen und fo für andere menfch-
liche Funktionen Raum hat fchaffen wollen. Danach wäre
auch das Urtheil über Ritfehl S. 324 zu ergänzen.

An ftiliftifchen Eigenthümlichkeiten Helsen fich wohl
gelegentlich ftörende Sätze wie der S. 49 Z. 5 v. u. oder
S. 50 Z. 13 v. o. und ähnliche befeitigen.

Indeffen genug der Vorbehalte und Einwände, die
doch irrelevant find und gegen die Richtigkeit der
hiftorifchen Darftellung als folcher nichts beweifen. Unter
allen Umftänden bleibt es dabei, dafs die Schweitzer'fche
Arbeit eine hervorragend tüchtige Leiftung ift, an der
nicht gut wird vorübergehen können, wer fich für Kant's
Religionsphilofophie intereffirt.

Strafsburg i. E. E. W. Mayer.

Mengel, Dr. Wilhelm, Kants Begründung der Religion. Ein

kritifcher Verfuch. Mit einem Vorwort über die Beziehungen
der neueren Dogmatik zu Kant. Leipzig,
W. PZngelmann, 1900. (XII, 82 S. gr. 8.) M. 1.20

Das Büchlein Mengel's ift zwar anders angelegt und
erheblich kürzer gefafst als die eben befprochene Schrift,
weift aber feinerfeits unleugbare Verdienfte auf. Es handelt
fich darin weniger um eine vergleichende Darfteilung der
verfchiedenen Formen, welche die Kantifche Religionsphilofophie
angenommen hat, als um eine Beleuchtung
und Prüfung des Verhältnifses, in dem fie zu dem ganzen
Syftem fteht. Demgemäfs wird eine weit gröfsere Anzahl
von Urkunden in Betracht gezogen. Befonders dankens-
werth ift es beifpielsweife, dafs auch die Andeutungen
J der .Metaphyfik der Sitten' verwerthet werden, während
freilich die ,Religion innerhalb der Grenzen der reinen
Vernunft' eine faft zu geringfehätzige Behandlung erfährt.

Der Gang, den der Autor einhält, ift folgender. Nachdem
er in der Einleitung die hiftorifchen Vorausfetzungen
der Aufklärung und Kant's Stellung zu diefer gekennzeichnet
hat, wendet er fich in einem erften Theile der
Erkenntnifstheorie zu, die unter fortwährender Aus-
einanderfetzung mit der neueren einfehlägigen Literatur
und vielfach im Anfchlufs an Volkelt und Buffe befchrieben
wird. Ein zweiter Abfchnitt hat es fpeciell mit der Ethik
I zu thun. Ein dritter enthält die Darfteilung und Beurtheilung
der Religionsphilofophie: deren mannigfache
| Nuancen werden zwar nicht ganz ignorirt, aber auch
nicht in befonders helles Licht gerückt. Die kritifche
Erörterung gelangt zu dem nicht überrafchenden Er-
i gebnifs, dafs Kant's Be gründung der Religion, wie fie der
j Hauptfache nach thatfächlich befchaffen ift, mit den
letzten Principien feiner Ethik fich nicht verträgt. Sie ift
überhaupt aus diefer allein nicht zu verftehen; fie ift,
I analog der Kritik der Urtheilskraft, nur ganz zu begreifen
als ein Verfuch, die beide n wichtigften Beftandtheile der
Kantifchen Philofophie, die theoretifche und die praktifche
Seite, untereinander auszugleichen und eine Einheit her-