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Ausgabe:

1900 Nr. 19

Spalte:

547-549

Titel/Untertitel:

Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu seinem siebzigsten Geburtstage 1900

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 19.

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verlacht, was mit dem Blute von taufend Märtyrern ver-
fiegelt ift. Alle andere Gefchichtsbetrachtung ift werthlos
. --Wie ganz unfähig find doch unfere Kirchen-

hiftoriker gewefen, Kirchengefchichte zu fchreiben: die
einen urtheilen nach rationaliftifch - moralifchen Schablonen
, die anderen nach pietiftifch frommen, die
andern nach fchwärmerifchen; kein einziger von Neander
bis Hafe, bis Möller und Müller wahrhaft nüchtern,
gefund nach den Vorfchriften der Bücher der Könige'
(S. 29). Nicht nur die Theologen der liberalen Richtung,
fondern ebenfo die angefehenften der confervativen Richtung
, wie Hengftenberg, Kahnis, Beck, Godet, Schlatter
und fogar der ,verehrte Vetter' Theodor Zahn, verfallen
feinem Verdicte. Denn fie alle haben der ,modernen'
Auffaffung Tribut gezahlt. Die Theologie von Schleiermacher
bis Ritfehl ift nichts anderes als ein grofser Irrweg
gewefen (S. 63). ,Der Jammer unferes Jahrhunderts
war der, dafs uns Gott keine Lehrer nach feinem
Herzen gefandt hat. Die beiden einzigen Zeugen der
Wahrheit waren Kohlbrügge und Wichelhaus' (S. 120).
Dem Verf. hat es offenbar feine Befcheidenheit verboten,
auszufprechen, dafs Gott neben diefen beiden doch noch
einen dritten Zeugen der gefunden Lehre gefandt und
ihn zugleich zum Richter über die Verkehrtheit aller
Anderen berufen hat.

Jena. H. H. Wendt.

Philosophische Abhandlungen. Christoph Sigwart zu feinem
fiebzigften Geburtstage, 28. März 1900, gewidmet von
Benno Erdmann, Wilhelm Windelband, Heinrich
Rickert, Ludw. Buffe, Rieh. Falckenberg, Hans Vaihingen
Alois Riehl, Wilh. Dilthey, Ed. Zeller, Heinrich
Maier. Tübingen, J. C. B. Mohr, 19OO. (III, 248 S. i
gr. 8.) M. 7. — j

Die Feftfchrift, die Chriftoph Sigwart zu feinem fiebzigften
Geburtstage überreicht worden ift, intereffirt uns
Theologen aus doppeltem Grunde, um des Jubilar's
willen und wegen ihres Inhalts. Sigwart's Lebensarbeit
ift auch für die Theologie nicht unfruchtbar gewefen. Bei
diefem Urtheil denke ich nicht etwa nur an Sigwart's
frühere philofophifch-theologifche Studien über Zwingli's
Theologie (1855) und über Schleiermacher's dogmatifche
Grundbegriffe und deren erkenntnifstheoretifche und
psychologifche Vorausfetzungen (Jahrbb. f. deutfehe Theologie
1857); fondern auch aus feinen fpäteren philofophi-
fchen Werken ift nicht weniges für den Theologen be-
deutfam: fo in feiner Logik, befonders in deren zweiter
Auflage (1889, 1893), die Unterfuchungen über die Methode
der Geifteswiffenfchaften in ihrem Verhältnifs zur
Methode der Naturwiffenfchaften, in feinen kleinen
Schriften (1881, 2. Aufl. 1889) die Auffätze über ,den
Kampf gegen den Zweck', über den ,Begriff des Willens
und fein Verhältnifs zum Begriff der Urfache', ferner, die
Vorfragen der Ethik' (1886). — Aber auch die ihm gewidmete
Feftfchrift enthält Vieles, was auch für die Theologie
wichtig ift. Die darin enthaltenen philofophifchen Abhandlungen
vertheilen fich auf die verfchiedenen Zweige
der Philofophie, denen Sigwart felbft feine Arbeit zugewandt
hat. Benno Erdmann eröffnet den Band durch
jUmriffe zu einer Pfychologie des Denkens': Die Denk-
thätigkeit ift ihrer Art nach vor Allem aus dem voll-
ftändigen formulirten Denken, das fich in Urtheilen
ausfpricht, zu erkennen; aber diefes umfehreibt noch
nicht das ganze Gebiet des Denkens, fondern daneben
tritt das unvollftändige formulirte (enthymematifche)
Denken; und dazu kommt endlich noch das unfor-
mulirte oder intuitive Denken, nicht nur als hypo-
logifches, fondern auch als metalogifches. Es ift befonders
werthvoll, dafs auf diefes metalogifche Denken, |
das fleh von der Gebundenheit an die Formulirung loslöft j
und in feinem Schauen der Sprache vorauseilt, die Auf- I

merkfamkeit gelenkt wird. Erdmann weift darauf hin,
wie es nicht nur von dem Künftler, Dichter, Philofophen
geübt wird, fondern auch von dem religiös Ergriffenen,
,in der gefammten Entwickelung des religiöfen .Vlyfti-
cismus'. Es wäre verlockend, dies weiter zu verfolgen;
denn in der That erbringt die Gefchichte des religiöfen
Lebens nicht nur ein reiches Material der Analyfe, fondern
auch eindringende Reflexionen über diefes metalogifche
Denken. — Die Aufgabe der Logik im Verhältnifs
zur Erkenntnifstheorie befpricht in fcharffinniger,
fpannender Darlegung der Tübinger Privatdocent Heinr.
Maier in dem Schlufsauffatz des Werkes. In kurzen
Umriffen entwirft Wilh. Windelband ein Syftem der
Kategorien, ausgehend von dem Begriff der Synthefe,
den Erdmann in feinem vorhin genannten Auffatz, von
dem Standpunkte feiner Reproductionspfychologie aus,
beftreitet, doch fchwerlich mit Recht. — Die leitenden
Gedanken und die Methode der pfychologifchen F"or-
fchung betreffen die zwei Auffätze von Rickert und
Buffe. Sigwart hat in der zweiten Auflage feiner Logik
die Frage, ob eine pfychophyfifche Kaufalität anzunehmen
oder ob fie durch die Hypothefe des Parallelismus zwifchen
phyflfchen und pfychifchen Vorgängen zu erfetzen fei,
eingehend erörtert und die Parallelismustheorie bekämpft.
In gleichem Sinne entfeheidet Heinr. Rickert auf Grund
einer umfaffenden Unterfuchung des Zufammenhanges,
in dem die Parallelismustheorie mit der mechanifchen
(quantitativen) Auffaffung alles Gefchehens fleht, und
der Grenzen, die der naturgefetzlichen Erklärung gezogen
find. In derfelben Richtung geht die Abhandlung von
Ludw. Buffe, der einen einzelnen Punkt aus Sigwart's
Befprechung des Problems herausgreift, nämlich die
Frage, ob die Annahme einer Wechfelwirkung zwifchen
Leib und Seele nicht durch das Gefetz der Erhaltung
der Energie widerlegt werde: er fucht zu zeigen, dafs
diefes Gefetz nur für eine gefchloffene Totalität phyli-
fcher Kaufalzufammenhänge gilt, dafs hingegen da, wo
Pfychifches auf Phyfifches und Phyfifches auf Pfychifches
wirkt, überhaupt die Bedingungen zur Anwendung des
Gefetzes fehlen. — Wie Robert Mayer den Grundfatz
von der Erhaltung der Energie entdeckt und bewiefen
hat, verfolgt AI. Riehl in gefchichtlicher Unterfuchung:
er weift nach, dafs Robert Mayer nicht etwa nur aus
allgemeinen formalen Sätzen, auf rein aprioriftifchem
Wege diefes Gefetz abgeleitet hat, fondern fich mit
vollem Bewufstfein zugleich auf allgemeine Denkgefetze
und auf Erfahrung ftützt und fo fein Wort als wahr bewährt
, ,dafs man durch Denken auf gute Verfuche,
aber fehr feiten durch Verfuche auf neue Gedanken
kommt'. Der Gefchichte der Philofophie, die Sigwart
befonders durch Unterfuchungen über die Renaiflance-
zeit und Spinoza bereichert hat, gehört ferner ein kleiner
Auffatz von Richard Falckenberg an, der zwei Briefe
Lotze's mittheilt, ebenfo die Abhandlung von H. Vai-
hinger über das neuerdings aufgeworfene Thema: Kant
— ein Metaphyfiker? Wie er zeigt, kann man auf diefe
Frage nicht mit einfachen Ja oder Nein antworten, fondern
, wenn man den ganzen Kant haben will, darf man
neben Kant's praktifch begründeten Anfchauungen von
der intelligiblen Welt die kritifchen Gedanken nicht über-
fehen, mit denen er fie begleitet, das ,Als ob', mit dem
er fie einfehränkt. Befonders inftruetiv ift die Wendung,
die Vaihinger der von Paulfen eingeführten Verglcichung
von Kant und Plato giebt: wie Plato fich an der Grenze
der Erkenntnifs zu feinen Mythen erhebt, fo bewegt fich
Kant in feiner praktifchen Metaphyfik mit dem Bewufstfein
, dafs man davon nur in der Weife des Vorftellens,
nicht des reinen Gedankens, oder nur in Analogien und
Metaphern reden könne. VVefentlich gefchichtlichen Inhalts
ift auch Wilh. Dilthey's Beitrag: er verfolgt das
Werden einer hermeneutifchen Wiffenfchaft im griechi-
fchen Alterthum, in der alten Kirche, im Zeitalter der
Renaiffance und Reformation bis zum 18. Jahrhundert,