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Ausgabe:

1900 Nr. 19

Spalte:

538-539

Autor/Hrsg.:

Pückert, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Aniane und Gellone 1900

Rezensent:

Deutsch, Samuel Martin

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 19.

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A. Dmitrijevskij hat, da die Trudy der Kiew'fchen geift-
lichen Academie, in denen diefer fchon 1894 denfelben
Fund mittheilte, nur fehr Wenigen zugänglich fein werden.
Auch hat Dmitrijevskij ,für die Kritik des Textes fehr
wenig gethan, und da, wo er corrigirt, thut er es meifl
flillfchweigend ohne Angabe der handfchriftlichen Lesart
; auch hat er bisweilen falfch gelefen. Der Text des
intereffanten Euchologion bedurfte alfo einer neuen Bearbeitung
, und wir können uns nur freuen, dafs diefelbe
von Wobbermin in fo befriedigender Weife durchgeführt
worden ift'. Immerhin darf die editio princeps nicht bei
Seite gefetzt werden, da auch Dmitrijevskij zuweilen beffer
gelefen und richtiger corrigirt hat. So bei N. 3 in der
Ueberfchrift ö/aöovvai ft. öiöovai; 8, 7 avuxaQausivctrco ft.
ovftjcayaßaivtToj; 8, 19 tjciöt ft. tcplös; 9, 15 oxaiov ft.
xuxov; 10, 8 + xca nach vvv; 12, 9 avrcp; 18, 6 jiayfrtvtv-
ovocov ft. jictov-tvcov tv ovocov; 19, 26 i^tveyxov ft. i§tvty-
xcöv. Auch die Conjecturen von Kurtz find fehr danlcens-
wcrth. So 6, 16 xctOaq ft. n&Ocuq; 11, 24 ägiov ft.^ dyiov;
16, 12 xaxaXXaooöutvov; 16, 13 ßovu-i]Oov pv. ßorjOo/oai;
16, 22 xanioautvoq ft. ynJ]0<xutvoq; 18, 7 döiaßkr/rcoq ft.
döudtijiTCoq; 18, 23 ur/ötv ft. unöiva. Nur einer fejner
Verbefferungsvorfchläge ift mir zweifelhaft: 12, 10 djict-
Xelfca ft. dnoxaXvipcu; ich möchte lieber hinter dem
folgenden xovrov eine Lücke annehmen. Aufserdem ift
7, 16 jcvevucxti und 9, 8 001 zu lefen. Auf eine Lücke
S. 5, 8 macht noch Drews S. 321 aufmerkfam. Als gut
überliefert kann der Text alfo nicht gelten.

Dem Funde Wobbtrmin's ift feine Bedeutung gefichert
worden durch die ausgezeichnete Abhandlung von F. Drews.
Mit eine Fülle von Material, wie es nur dem Specialkenner
im Augenblicke zur Verfügung fleht, werden hier alle
Fragen, die dem Liturgiker bei der Durchmufterung der
Gebete auffteigen, beantwortet. Durch Vergleich mit der
Markus-Liturgie ftellt er zunächft den ägyptifchen Typus
der Gebete feft, um dann auf die Frage einzugehen, wie
die Autorfchaft des Sarapion zu denken fei. Von Gebet 15,
in deffen Ueberfchrift Sarapion genannt ift, ausgehend,
conftatirt er einen gemeinfamen, fprachlichen und litur-
gifchen Charakter von 15—17, fodafs fich die Autorenangabe
vermuthlich auf alle drei bezieht; in 17 erkennt
er eine Ueberarbeitung von 5, und vermag fomit genau
anzugeben, wie der Redactor arbeitete. Bei N. 1, das
ebenfalls Sarapion zugefchrieben ift, mufs er eines folchen
Hülfsmittels entrathen; aber feine Kenntnifs der liturgifchen
Formeln läfst ihn auch hier alte und neue Beftandtheile
fondern. Endlich geht er auf den Charakter der Sammlung
ein, hebt ihre Einheitlichkeit hervor, und beantwortet
damit die wichtigfte Frage, dafs nämlich die dreifsig Gebete
wirklich das Euchologion von Thmuis um 350 bilden,
das freilich die Handfchrift nicht in guter Ordnung überliefert
hat. In diefem Allen aber fehe ich noch nicht
den Hauptwerth der Arbeit von Drews, fo bedeutend
die Gelehrfamkeit ift, die auf jeden, auch den kleinften
I'unkt, verwendet wird. Sein Darfteilung bekommt erft
Reiz in dem Augenblicke, wo er aus den antiquarifcheu
Unterfuchungen heraustritt und Hiftoriker wird. Am
Schlufs, S. 4igfT., macht er den Verfuch, den Gang der
einzelnen liturgifchen Handlungen auf Grund der Gebete
zu befchreiben. Er fchildert den Sonntagsgottesdienft,
den Verlauf der Taufe, die Ordination, das Begräbnifs,
und ftöfst dabei wiederum auf manche .überrafchend neue
und eigenthümliche Züge'. Wichtiger noch als diefe ift
mir, dafs wir überhaupt ein Bild bekommen, ein Stück
des Gemeindelebens vor uns fehen, aus einer Zeit, in der
fich grofse Umwälzungen auf diefem Gebiete vollzogen,
aber aus einem Orte, wo man noch am Alten hing.
Manchen wird vielleicht befremden, dafs Drews, um das
Fundament für feine Schilderung zu gewinnen, zu Grup-
pirungen und weitgehenden Umftellungen der dreifsig
Gebete genöthigt ift. Indefs wird man kaum daran An-
ftofs nehmen dürfen; diefe kritifchen Operationen liegen
näher und find nothwendiger, als fie fcheinen, auch wenn

es vorläufig dunkel bleibt, wie die Gebete in die gegenwärtige
Unordnung gerathen find — wenn es nämlich
wirklich eine gemachte Umftellung ift, die hier vorliegt.

Am Schlufse theilt Wobbermin einen dogmatifchen
Brief IIeqI jrarQÖq xal vlov aus derfelben Handfchrift mit,
als deffen Verfaffer er ebenfalls Sarapion bezeichnet.

Göttingen. H. Achelis.

Puckert, weil. Prof. Wilhelm, Aniane und Gellone. Di-

plomatifch-kritifche Unterfuchungen zur Gefchichte der
Reformen des Benedictinerordens im IX. und X. Jahrhundert
. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1899. (318 S. gr. 8.)

M. 8.—

Eine Vorbemerkung von anderer Hand zu dem Werke
des verdorbenen Verfaffers fehlt, und es ift deshalb Pflicht
des Ree, zunächft darauf hinzuweifen, dafs wir augen-
fcheinlich eine vollkommen zum Abfchlufs gebrachte
Arbeit vor uns haben, bei der die letzte Hand nirgends
vermifst wird. Es ift ein fehr fpecieller Gegenftand, den
der Verf. zum Mittelpunkt feiner Unterfuchungen gemacht
I hat, nämlich das gegenfeitige Verhältnifs des durch feinen
Stifter Benedikt berühmten Klofters Aniane und des
viel weniger bekannten benachbarten Gellone, das feine
Entftehung dem fagenberühmten Grafen Wilhelm von
Orange verdankt. Ein eiferfüchtiges Streben beider Klöfter,
indem Aniane die Herrfchait über das Nachbar-Klofter
beanfpruchte, Gellone feine Selbftändigkeit zu behaupten
fuchte — die es fchliefslich auch behauptet hat — zieht
fich durch Jahrhunderte hin, und beiderfeits hat man fich
dabei des beliebten Mittels der Fälfchung zu bedienen
nicht gefcheut, theils durch Anfertigung ganzer Urkunden,
theils durch ,Verunechtung' vorhandener. Den Nachweis
folcher Verfälfchungen führt der Verf. in Verbindung mit
einer Menge der eingehendften Unterfuchungen über Ver-
hältnifse des Mönchthums wie auch über ftaatliche und
kirchliche Rechtsverhältnifse des 9. und 10. Jahrh., fo dafs
der Inhalt des Buches ein weit über den verhältnifsmäfsig
geringfügigen Hauptgegenftand hinausgehendes Intereffe
bietet. Es ift nicht möglich über den Reichthum diefes
Inhalts in Kurzem eine Ueberficht zu geben; wir müffen
uns auf Hervorhebung einiger Punkte befebränken.

Das 1. Cap. ,Aniane unter Karl d. Gr', befchäftigt
fich mit dem Diplom Karls für das Klofter (Boehmer-
Mühlb. 309). Als Verdachtsmoment erfcheint neben dem
von Karl über die Verletzer des Privilegs gefprochenen
Anathem befonders die Ertheilung der Freiheit, den Abt
auch aus einem beliebigen anderen Klofter zu wählen und
die Weihen von einem beliebigen Bifchof vollziehen zu
; laffen — beides dem Brauche diefer Zeit nicht entfprechend.
Die Unterfuchung über Aniane im Inveftiturftreit weift
mit überzeugenden Gründen die Unhaltbarkeit der bisher
, für ächt geltenden Privilegien Johanns XV v. 992 und
I Nicolaus II v. 1061 (Jaffe-Löwenf. 3844 u. 4466) für Aniane
gegenüber dem keinem Bedenken unterliegenden Bericht
über eine 1095 vor Urban II gepflogene Verhandlung (J-L
5588,_ vgl. 4713) nach. Von allgemeinerem Intereffe ift
dabei die Auseinanderfetzung über das Verfahren Urbans,
der keineswegs, wie öfter angenommen, die Exemtion der
Klöfter von der Diöcefangewalt des Bifchofs im Allgemeinen
begünftigt habe, fondern vielmehr diefe Gewalt
: aufrecht zu erhalten bedacht gewefen fei, wo nicht be-
j fondere Umftände eine Ausnahme erheifchten. Auch die
! Nachweife über das allmähliche Fortfehreiten der Privi-
j legirungen der Klöfter im Laufe des Inveftiturftreites find
fehr beachtenswerth. — Aus dem reichhaltigen 3. Cap.
,Einwirkung des Kampfes zwifchen A. und G. auf Liter-
I atur und Urkunden' fei nur der Beweis dafür erwähnt, dafs
die Vita des heil. Wilhelm (Mab. A. S. IV, 1, 72—87)
nicht, wie gewöhnlich noch angenommen wird, dem 9.
fondern früheftens dem II. Jahrh. angehört. Den Verdachtsgründen
gegen das Königsdiplom Ludwigs d. Fr.

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