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Ausgabe:

1900 Nr. 18

Spalte:

522-524

Autor/Hrsg.:

Schöner, Christian Heinrich

Titel/Untertitel:

Das evangelische Kirchenjahr und die Predigt 1900

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 18.

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die neue Formel angeregt hat und deren Urkunden zum
Theil in diefem Bande vorliegen, erhellt, dafs jene Bedenken
unbegründet waren. Es hat fich herausgeflellt,
dafs es taktifch nicht unrichtig war, eine neue Formel zu
prägen, deren exotifches Ausfehen mit dazu beigetragen
hat, zum Nachdenken zu reizen, das Intereffe zu fördern, das
Verftändnis aufzuklären und zu vertiefen, das Problem nach
den verfchiedenften Seiten zu beleuchten. Freilich Mifs-
deutungen und Mifsverftändnifse find nicht ausgeblieben:
der Eine interpretirt M.'s Ausfage dahin, dafs der felig-
machende Glaube mit der Lauterkeit der Gefinnung, der
sincerite identifch fei (268. 279); der Andere behauptet,
jener Glaube müffe eine blofse Form, ohne befiimmten
Gegenftand und Inhalt fein (272); wieder ein Anderer legt
dem Lutherthum hier den Gedanken unter, dafs der
Glaube ein Verdienft begründe (282). Mit welcher Ruhe
und Geduld geht M. auf alle Einwürfe ein! Wie verfteht
er es, die aus frommem Eifer, aus befchränkter Einficht,
vielleicht aus böfem Willen geborenen Entftellungen mit
ftets würdiger und vornehmer, mitunter von Humor gewürzter
Höflichkeit bioszulegen und zu berichtigen! Zugleich
bietet fich die ihm willkommene Gelegenheit, die
in der Erftlingsfchrift ausgefprochenen Gedanken näher
auszuführen und eingehender zu begründen. Liefern doch
die meiften folgenden Stücke fowohl neue Belege als
glückliche Anwendungen des FidHsme, der in jenen Ausfuhrungen
die wiederholte und oft überrafchend variirte
Gegenprobe auf feine Richtigkeit erfährt. Mit gleicher
Entfchiedenheit und Klarheit wendet M. feinen Grundfatz
auf die Dogmatik und Dogmengefchichte (Studien über
das Dreieinigkeitsdogma 1898, S. 320—353), auf die hifto-
rifche Kritik (Der Glaube an die Bibel und die biblifche
Gefchichte 1896, S. 208—226; die biblifche Gefchichte
und der evangelifche Heilsglaube 1899, S. 354— 386)> auf
die biblifche Theologie (Das Heil nach der Verkündigung
Jefu 1899, S. 387—415) an. In dem zuletzt genannten
Vortrage fcheut fich M. nicht, die von ihm ftatuirte Unter-
Icheidung auf die Lehre Jefu felber anzuwenden, indem
er den ewigen Gedanken Jefu aus feiner gefchichtlich
bedingten und befchränkten Hülle zu gewinnen fucht.
(Man vgl. auch die Ausführungen über Paulus und den
Autor ad Hebraeos S. 54— 58; 84—118).

Zeichnen fich die bisher wiedergegebenen Gedanken
fowohl durch ihre innere Gefchlofsenheit und Klarheit
als durch ihren echt evangelifchen Urfprung und Charakter
aus, fo bleibt doch ein Punkt in der Schwebe und
vielleicht hat das Unbeftimmte des hier angedeuteten
Ideenkreifes einige der Mifsverftändnifse hervorgerufen,
gegen welc he M. anzukämpfen hat. Der Glaube ift zu-
nächfl acte de conshration, consccration de tarne ä Dieu,
hierauf Gemeinfchaft mit Gott, union avcc Dieu (17. 18
u. öfters). Wie aber kommt diefer Glaube zu Stande?
Aus manchen Stellen könnte man folgern, dafs derfelbe
eine rein menfchliche Leiftung ift, uu ade ^ du moi taut
ena'er, par lequel riiomme s'arrache an peche et se dornte
a Dich (17. vgl. 36 u. öfter). Anderswo fcheint M. diefe
Bewegung des Ich auf die Wirkung eines göttlichen
Factors, fei es des göttlichen Geiftes (408), fei es des
Evangeliums (16), zurückzuführen. Nun ift ja zur Genüge
bekannt, dafs fowohl die neuteftamentlichen Schriften
als auch die reformatorifchen Bekenntnifse Belege für
beide Gedankenreihen liefern; aber der Dogmatiker kann
fich der Aufgabe nicht entziehen, das Problem, das in
diefen Ausfagen liegt oder durch diefelben geftellt ift,
klar zu formuliren und die Richtung anzugeben, in
welcher eine Löfung zu finden ift. Gerade hier dürfte
die evangelifche Theologie entfehiedener auf Luther zurückgehen
und von ihm lernen, dafs die Erweckung des
Heilsglaubens felbft zur göttlichen Offenbarung gehört,
dafs die fiducia cordis das Erlebnifs ift, durch welches das
Evangelium fich im Herzen bekundet und wirkfam wird.
Es liefsen fich zwar manche Aeufserungen anführen, aus j
denen erhellt, dafs M. die aus Luther entlehnte Pofition I

meint, aber zu einer klaren und zufammenhängenden
Darfteilung und Begründung diefes Gedankens hat er es,
wenn ich recht fehe, doch nicht gebracht. Wie könnte
er fonft im Rechtfertigungsbewufstfein die Momente in
der Weife trennen, dafs er erklärt, dem fubjectiven Glauben
werde die Vergebung als objectiv göttliche Antwort zu
Theil. C'est ä ce mouvement que se rapporte la promesse
du pardon. Que ce mouvement sott vrai, sincere, reel, et
Dieu tut aecorde gratuitement la remission des peches, la
vie, le salut (17). Ift nicht vielmehr die hier noch ftatuirte
äufserliche Coordination von Vergebung und Glauben
durch die evangelifche Anfchauung im Princip aufgehoben ?
Gefchieht doch die Rechtfertigung gerade durch die Erweckung
des Glaubens, fo wahr als der in feinem Gc-
wiffen zerfchlagene Menfch nur durch das Heilsvertrauen
der fündenvergebenden Gnade Gottes gewifs wird.

Zu den Auffätzen, die fich direct auf den Fideisme
beziehen (vgl. noch die fchöne Meditation über den ungläubigen
Thomas, Un doute consolant, S. 73—83), hat der
Verf. in vorliegendem Bande einige Vorträge oder Artikel
hinzugefügt, welche zu wichtigen unter den Fachgenoffen
verhandelten Fragen Stellung nehmen, oder in den Gang
der theologifchen Arbeit anregend, zum Theil auch aufregend
eingegriffen haben. Hierher gehört die durch
Leop. Monod's Schrift (Theol. Literaturzeitung 1892,
Nr. 8) veranlafste Studie über die Autorität in Glaubens-
fachen (59—72); hierher vor allem die durch Decan Baur
in vortrefflicher Ueberfetzung den deutfehen Lefern zugänglich
gemachte Vorlefung über den biblifchen Wunderbegriff
(Theol. Literaturzeitung 1895, Nr. 14. 17), welche
ein grofses Auffehen erregt und eine ebenfo lärmende als
fchliefslich ohnmächtige Schilderhebung im Lager der
ftreng Confervativen verurfacht hat. Aus den Acten des
durch M.'s Vortrag hervorgerufenen Streites (Nr. 8. 9.
10. 13. 32. 33. 34. 35) erhellt, dafs die herrfchende Orthodoxie
die früheren Pofitionen zwar aufgegeben hat, dabei
aber zu einer einheitlichen und feften Begründung ihres
Standpunktes nicht gekommen ift.

In diefer Sammlung gehaltvoller und feinfinniger
Arbeiten vermifst Ref. einige Veröffentlichungen, die den
meiften Lefern fchwer zugänglich fein dürften und doch der
Vergeffenheit entriffen zu werden verdienten. Sie flehen
zwar in einem etwas ferneren Zufammenhang mit dem
auf dem Titelblatt angedeuteten Grundgedanken; fie verleugnen
aber nicht die alle Unterfuchungen und Darftellungen
des Verf. beherrfchende Methode und laffen
den Geift feiner durch Brenge Wiffenfchaftlichkeit und
weitherzige Frömmigkeit ausgezeichneten Arbeit in
fcharfen Zügen erkennen. Wollte M. feinen allerdings
nicht einwandfreien Auffatz La predestination dans la
theologiepauluiienne 1885, nicht wieder abdrucken, fo hätte
er uns doch wenigftens feinen im Lutherjahr gehaltenen
Vortrag Luther considere comme theologien nicht vorenthalten
follen. Doch es mag unbefcheiden klingen, an-
gefichts des hier gebotenen Materiales, weitere Wünfche
zu äufsern, und das Bedauern über das Vermifste darf
die Freude und den Dank nicht beeinträchtigen, den
wir dem Verf. für feine reiche Gabe fchuldig find.

Strafsburg i. E. P. Lob Bein.

Schöner, Pfr. ChriBian Heinrich, Das evangelische Kirchenjahr
und die Predigt. Archäologifch-homiletifche Studien
zur Vorbereitung für den kirchlichen DienB am
Worte Gottes. I. Band. Gotha 1899, G. Schloefsmann.
(VII, 315 S. gr. 8.) M. 7.—

Es wird dem Referenten nicht leicht, über das vorliegende
Buch Bericht zu erBatten. Wir haben es augen-
fcheinlich mit einem bejahrten Herrn zu thun, der feine
archäologifchen Kenntnifse und feine homiletifcheMethode
vor etwa 40—60 Jahren fich erworben, aber jugendliche
Frifche fich ungetrübt bewahrt hat; mit grofser