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Ausgabe:

1900 Nr. 16

Spalte:

472-476

Autor/Hrsg.:

Schian, Martin

Titel/Untertitel:

Die Sokratik im Zeitalter der Aufklärung 1900

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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47i

Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 16.

472

(D) die Folgerungen der Heilsgewifsheit, vor allem die
für das Leben der chriftlichen Perfönlichkeit: fie ift Gott
gegenüber der Vollkommenheitsftand, der im Gebet und
im Vorfehungsglauben fich kundgiebt; aber zugleich lebt
fie in der Liebe zum Nächften, in chriftlicher Berufstreue,
in Herrfcherfreiheit gegenüber den irdifchen Gütern. Aber
es werden auch noch die Folgerungen für die Stellung
des Chriften zu dem kirchlichen Dogma gezogen: das
Dogma ift nicht abfolute, unabänderliche Wahrheit, fondern
nur foviel Bedeutung kommt dem Dogma im ganzen
und dem einzelnen Dogma zu, als es das religiöfe Leben
beftimmen und der religiöfen Praxis, in letzter Linie der
Pleilsgewifsheit, dienen kann.

Es ift ein vollständiger Aufrifs der Dogmatik und
Ethik, der hier gegeben wird. Die drei Hauptabfchnitte
des Buchs, ,das Wesen der Heilsgewifsheit, der Weg zur
Heilsgewifsheit, die Folgerungen der Heilsgewifsheit',
erinnern an den dritten Band von Ritfchl's Rechtfertigung
und Verföhnung, in dem auch der Begriff der Rechtfertigung
an der Spitze fteht und zum Schlufs die Folgerungen
dargelegt werden, die objectiven und fubjectiven
Vorausfetzungen dazwifchen treten. Diefe Beziehung ift
nicht zufällig; denn was der Verf. als .moderne Theologie'
darftellt, ift die Ritfchl'fche-Theologie. Zwar nennt er
weder die Theologen, deren Gedanken er darftellt —
aufser Ritfehl hat offenbar Herrmann, ferner Gottfchick
befonderen Einflufs auf ihn gewonnen —, noch bekämpft
er unter ausdrücklicher Namensnennung die Gegner, gegen
die er fich wendet. Häufig fetzt er fich mit Bekämpfungen
der modernen Theologie auseinander, die nicht in wiffen-
fchaftlichen Büchern und Kirchenzeitungen, fondern nur
in Conferenzvorträgen und gelegentlichen Ausfprachen
laut werden. Diefe eingeftreute Zwiefprache giebt dem
Buche, das im Uebrigen mit grofser Ruhe und nicht ohne
Breite und Wiederholungen gefchrieben ift und das eben
dadurch den Lefer ermüden könnte, doch immer wieder
eine lebhafte Bewegung. — Der Verf. hat fich allerdings
dadurch, dafs er als die ,moderne Theologie', die der
orthodoxen und der liberalen gegenüberfteht, kurzweg die
Ritfchl'fche anfleht, feine Aufgabe erleichtert. Sie würde
wefentlich complicirt, wenn auch die Erneuerung einer
metaphyfifch gerichteten, liberalen Strömung in derSyfte-
matik und das Mächtigwerden eines undogmatifchen
Plifloricismus zu der gefammten Signatur der modernen
Theologie gerechnet und als die Richtungen in Betracht
gezogen würden, gegen die fich eine von Ritfchl's An-
fchauungen geleitete Dogmatik felbft erft durchkämpfen
mufs. — Auch in der Ausführung der Ritfchl'schen Theologie
giebt der Verf. wefentlich eine popularifirende Darfteilung
der von feinen dogmatifchen ruhrern herftammen-
den Gedanken, durchaus verftändig, oftrecht gefchickt
formulirend; aber man vermifst eine felbftändige Weiterverfolgung
von Problemen, die fich aus dem dargeftellten
Gedankenkreis erheben und gerade bei dem gewählten
Mittelpunkt der Heilsgewifsheit befonders lebhaft fich
aufdrängen. So ift es z. B. in der Lehre von der Heilsgewifsheit
eines der fchwierigften Probleme, inwieweit das
eigene Bewufstfein des Begnadigtfeins und die lebhafte
Freude darüber unmittelbar mit dem Glauben zufam-
menhängt, wieweit dagegen diefes freudige Bewufstfein
noch von anderen Umftänden, von individuellen Gemüths-
anlagen, von befonderen (auch körperlich bedingten)
Dispofitionen, von fchwereren oder leichteren Lebensführungen
abhängt. Diefes Problem ift nur eben berührt,
ebenfo die Frage, inwiefern der Wandel in Gottes- und
Nächftenliebe, wenn er .unferem Geilte Zeugnis giebt',
doch irgendwie auch deffen ,gewifs macht', dafs wir wirklich
bei Gott in Gnaden find (vgl. S. 172), ohne doch zur
Grundlage der Heilsgewifsheit zu werden. Auch der
Begriff der chriftlichen Erfahrung ift, wenn auch S. 137
richtig zwifchen einer auf den Glauben gegründeten und
zwifchen einer den Glauben begründenden Erfahrung
unterfchieden wird, nicht zur vollen Klarheit durchgearbeitet.

Es fcheint mir, dafs fich der Verf. auch die Auseinander-
fetzung mit Luther's Anfchauungen von der Bufse und
mit Luther's doppeltem Glaubensbegriffe zu leicht macht.
— Aber wenn auch manche Darfteilung des Verf. Fragen
übrig läfst, fo ift die Schrift doch ein achtungswerther
I Beweis der Energie, mit der der Verf. die Gedanken der
Ritfchl'fchen Theologie durchdacht und verarbeitet hat,
und ein höchft erfreuliches, nachahmenswerthes Beifpiel
von tüchtiger theologifcher Arbeit, die in einem Pfarrhaufe
gethan worden ift.

Halle a/S. Max R ei fehle.

Schian, Lic. Pfr. Dr. Martin, Die Sokratik im Zeitalter
der Aufklärung. Ein Beitrag zur Gefchichte des Religionsunterrichts
. Breslau, Dülfer's Sort., 1900. (335 S.
gr. 8.) M. 5. — ; geb. M. 6.—

In der vorliegenden Monographie giebt der Verfaffer
eine Darftellung der Unterrichts-Methode und Unterrichts-
Praxis des endenden achtzehnten und des beginnenden
neunzehnten Jahrhunderts, die allgemein mit dem Namen
,Sokratik' bezeichnet zu werden pflegt. Diefe Methode
wurde auf alle Fächer des Unterrichtes angewendet; der
Verfaffer befchränkt feine Aufgabe auf die Theorie und
Praxis des Religionsunterrichts. Sein Buch ift eine Art
Ehrenrettung der Sokratik; es nöthigt zu einer Revifion
! des landläufigen oberflächlichen Urtheils; es fucht der
| gefchichtlichen Bedeutung der Sokratik gerecht zu werden,
j indem es, ohne die Schwächen zu verkennen, den Gewinn
] hervorhebt, den wir den begeifterten Pädagogen und
| Katechetikern um dieWendedes i8.und 19. Jahrhunderts für
den Religionsunterricht zu verdanken haben. Da der Hauptvertreter
des landläufigen Urtheils über die Sokratik, das
I diefe von Lorenz v. Mosheim herzuleiten und fich an den Namen
des marktfchreierifchenBafedow und des talentvollen,
aber in fittlicher Fäulnifs verkommenen Karl Friedrich
1 Bahrdt, fowie an der religiös-feichten Aufklärerei jener
Zeit zu orientiren pflegt, in Gerhard von Zezfchwitz
j (Syftem der chriftlich-kirchlichen Katechetik II 2. Abth.
2. Hälfte 1872) mit Recht gefehen wird, fo hält es der
Verfaffer für feine Aufgabe, auf Schritt und Tritt v.Zezfch-
witz zu controliren und auch nicht die kleinften Verftöfse
ungerügt paffiren zu laffen. Im Intereffe der gefchichtlichen
Wahrheit ift das Verfahren gewifs zu rechtfertigen,
wenn wir auch eine weniger animofe Polemik würden vor-
j gezogen haben.

Das Werk des Verfaffers gliedert fich in zwei dem
1 Umfange nach fehr ungleiche Haupttheile: I. Gefchichte
der Sokratik (S. 5—294), nämlich 1. Mosheim's grundlegende
Anregungen. 2. Die Wirkung der Mosheim'fchen
Anregungen bis zu den Philanthropen. 3. Die Entftehung
der Sokratik. 4. und 5. Die Sokratik auf ihrem Höhepunkt
in Theorie und Praxis. 6. Die Gegenbewegung
gegen die Sokratik. II. Die Bedeutung der Sokratik
(S. 294—334), nämlich 1. Die gefchichtliche Bedeutung
! der Sokratik. 2. Eigene Beurtheilung des Werthes der
j Sokratik.

Das pofitive Ergebnifs der Unterfuchungen ift etwa
folgendes. Mosheim hat in feinem grofsen Werke:
Sittenlehre der heiligen Schrift (9 Theile in 8 Quartbänden
1735—1770, Band 7—9 herausgegeben von Johann
Peter Miller) Band I. Capitel 2 § 12 S. 470—484 (Schian
citirt das Werk ungenau S. 6) unter Hinweis auf das Vorbild
des Sokrates eine Erneuerung der Unterrichtsmethode
j angebahnt; er fetzt zwar das Verfahren der Orthodoxie
I (nicht, wie Schian durchgehends fagt: des Pietismus)
im gedächtnifsmäfsigen Lernen des Katechismus voraus,
fucht jedoch die reiferen und begabteren Schüler in einem
Lehrgefpräch zum Verftändnifs des Stoffes zu bringen,
indem er nicht wie ein Lehrer, fondern wie ein Schüler
fragt. Der Hinweis Mosheim's auf Sokrates veranlafst
| vielleicht die fpätere technifche Bezeichnung ,fokratifchc