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Ausgabe:

1900 Nr. 15

Spalte:

439-441

Autor/Hrsg.:

Feine, Paul

Titel/Untertitel:

Das gesetzesfreie Evangelium des Paulus 1900

Rezensent:

Grafe, Eduard

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 15.

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Auch er felbft macht gelegentlich die Beobachtung, dafs I
unfere Rede den Parallelen der Seitenreferenten zufolge
bei Marcus etwa 3,13 zu flehen käme (S. 35), ift alfo im
Befitze der richtigen Prämiffen zur Vertheilung ihres haupt-
fächlichften Inhaltes auf zwei verfchiedene Stationen der
evangelifchen Gefchichte.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Feine, Prof. D. Paul, Das gesetzesfreie Evangelium des

Paulus, nach feinem Werdegang dargeftellt. Leipzig,
J. C. Hinrichs, 1899. (VI, 232 S. gr. 8.) M. 5—

Wer nach dem Titel diefes Buches annehmen follte,
fein Verfaffer würde fleh gründlich mit der neuerdings
wieder lebhaft erörterten Frage nach dem Entwickelungs-
charakter des paulinifchen Evangeliums, befonders im
Punkte der Gefetzesausfagen, befchäftigen, wird einiger-
mafsen enttäufcht fein. Die Ausführungen von Giemen,
Sieffert u. A. werden zwar wiederholt berückfichtigt, |
aber doch mehr gelegentlich. Eine eingehende Würdigung
ihrer Gründe findet nicht flatt. Verf. glaubt das von I
feinem Standpunkte aus nicht nöthig zu haben. Auf felb-
ftändigem Wege gelangt er zu Ergebnifsen, die in der
einen wie anderen Formulirung des Entwickelungsgedan-
kens nur eine fchiefe Frageftellung erblicken laffen können.
In umftändlichen Erörterungen, die fleh nicht auf das
erfte Capitel, das ausdrücklich dem pharifäifchen und
helleniftifchen Element bei Paulus gewidmet ift (S. 12—46),
befchränken, fondern durch feine ganze Schrift hindurch
ziehen, fucht Feine den vorchriftlichenBewufstfeins-
inhalt des Apoftels feftzuftellen. Der Ertrag diefer
mühevollen Unterfuchungen ift der, dafs P. vor feiner Bekehrung
durch und durch Pharifäer, von helleniftifchen
Einflüffen in feiner Denk- und Vorftellungsweife nicht
benimmt war. Das zeigt fleh vor Allem in feinem
pharifäifchen Meffiasbild nach dem Zeugnifs von
2 Kor. 5 ie. Ebenfo hat er das Gefetz ganz nach phari-
fäifchem Mafsftabe beurtheilt. Phil. 3 g zeigt deutlich,
dafs er fleh in feinem Gefetzeseifer wohl gefühlt hat, auf
feine Werkgerechtigkeit ftolz gewefen ift. In beiden
Grundüberzeugungen hat dieBekehrung eine entfeheidende
Umwandlung herbeigeführt. Er wurde fleh bewufst, dafs
der bisherige Inhalt feines Geiftes der Finfternifs angehörte
. Es umftrahlte und durchdrang ihn der Lichtglanz
Gottes in der Erfcheinung des erhöhten und pneumati-
fchen Chriftus. Von nun an fleht er mit feiner Chrifto-
logie auf dem Boden der helleniftifch-jüdifchen An-
fchauungsform. Für die vorliegende Frage ift aber vor
Allem von Bedeutung, dafs nunmehr Fleifch, Gefetz
und Sünde einer ganz anderen Beurtheilung unterliegen.
Als Chrift erft erkennt P. das Fleifch als Sitz der Sünde
und das Gefetz als die Sünde erweckende und fteigernde
Macht. Mit feiner Bekehrung ift ihm aber auch fofort
die Erkenntnifs des Univerfalismus des Chriftenthums
aufgegangen. Eine Entwickelung in feiner chriftlichen
Beurtheilung der Bedeutung des Gefetzes liegt nicht vor.
Auch Gal. 110 5 11 laffen fleh nicht dafür geltend machen,
dafs P. früher eine der Befchneidung günftige Stellung
eingenommen habe. Im Gegentheil: er hat fchon vor
feiner Bekehrung den Standpunkt der Urapoftel als
unhaltbar erkannt. Und die ganze Beweisführung des
Galaterbriefes fpricht für feine gefetzesfreie Verkündigung.

Wie erklärt nun aber Feine die verfchieden gearteten
Ausfprüche über das Gefetz, die nun doch
ein Mal thatfächlich die paulinifchen Briefe enthalten?
Unumwunden erkennt er hier eine Zwiefpaltigkeit des
paulinifchen Bewufstfeins an, das einen treffenden Ausdruck
in Rom. 7 25b erhalten habe. Der Apoftel beurtheilt
fleh verfchieden, je nachdem er fleh als Fleifch
betrachtet oder als einen durch den Geift Chrifti dem
Fleifche und feiner Sündenmacht Geftorbenen. Ebenfo
fetzt er das eine Mal als ehemaliger Jude das Gefetz,
wenn auch das ,fublimirte' ,geiftig verflandene' ,in eine

höhere Sphäre erhobene', als Norm auch noch für den
Chriften voraus. Zum Andern weifs er als Chrift, dafs
er den Geift befitzt und mit ihm die Kraft nicht nur
fondern auch die Norm, neben der es einer anderen nicht
bedarf. Je nachdem die Verhältnifse und Anforderungen
find, die in feinem Beruf an den Apoftel herantreten,
macht er bald von diefer, bald von jener Weife der
Betrachtung Gebrauch.

Diefe Hauptgedanken hat Verf. in einer Darftellung
zu begründen unternommen, die nicht gerade geeignet
ift, mit Erfolg für feine Anfchauung zu werben. Man
vermifst die rechte Straffheit des Zufammenhanges, den
ficheren, den Lefer zur Gefolgfchaft nöthigenden Fort-
fchritt der Gedanken, eine überfichtliche, einleuchtende
1 Anordnung des Stoffes. Peinlicher noch wirkt die Vor-
I liebe des Verfaffers, ausgefprochene Behauptungen hernach
fo einzufchränken, dafs von der urfprünglichen
Thefe wenig mehr übrig bleibt. Vor Allem aber können
I fchwere fachliche Bedenken nicht unterdrückt werden.

Es ift im Rahmen einer Anzeige unmöglich, den compli-
1 cirten exegetifchen Darlegungen des Verfaffers im Einzelnen
nachzugehen und zu widerfprechen. Nur ein
Hauptpunkt, dem auch mit Recht die breitefte Erörterung
gewidmet ift, foll hervorgehoben werden. Capitel 4
handelt von den Spuren vorchriftlichen Sündengefühls
in den paulinifchen Briefen (S. 91 —168). Es wurde fchon
bemerkt, dafs folche F. nicht zu entdecken vermag.
Darum mufs er fich mit dem Römerbrief, vor Allem
7 7ff., auseinanderfetzen. Schon die Erklärung von C.
I—3 fucht er auf einen befferen und fefteren Boden zu
ftellen. Dabei verfleht er mit Hülfe einer höchft gewagten
Deutung von <pv<su Rom. 2 uf. wieder ein Mal von
Chriften. Den ftärkften Widerfpruch aber mufs feine,
freilich neuerdings auch von Anderen wieder bevorzugte
Beziehung von 7 ug. auf den Chriften erwecken. Gerne
fei hier von vornherein zugegeben, dafs auch die übliche
Erklärung mit grofsen Schwierigkeiten, die vielfach zu
leicht genommen werden, zu kämpfen hat. Sie liegen
einerfeits in dem mit V. 14 einfetzenden Präfens anderer-
feits in dem Schlufs V. 25b- Allein das Präfens erklärt
fich zur Genüge daraus, dafs der Apoftel mit einem
auch, aber nicht etwa, wie Feine meint, nur von den
Chriften anerkannten Satze beginnt: oiöa/isv ort o vöfioq
Jtvevfiaxixöq eoxiv. Was lag näher, als nun bei lebhafter
Vergegenwärtigung des früheren Zuftandes noch im
Präfens fortzufahren? Der Schlufs freilich, das ift auch
von Anderen fchon anerkannt worden, ift an diefer Stelle
hinter dem Dankausruf V. 25 a faft unerträglich. Als Zu-
fammenfaffung des bisher Gefagten aber würden die Worte
V. 25 b hinter V. 23 vorzüglich paffen. Diefe zweifellofen
Schwierigkeiten wiegen jedoch leicht gegenüber der Unmöglichkeit
, V. I4b—24 auf den Chriften zu beziehen. Von
der Feine'fchen Deutung des xvevfiaxixöq V. I4a auf ein
geiftliches, fublimirtes Gefetz mag abgefehen werden.
Aber wie kann Paulus, der eben erft 7 « und vorher 6 er.
dictirt hat, fich nun als einen OaQxivoq, jtsjiQafitvoq vjco
xhv afiaQxiav bezeichnen? Eine Stelle wie Gal. 524, nach
der eine Kreuzigung des Fleifches ftattgefunden hat,
wird vom Verf. überhaupt nicht gewürdigt. F. meint
zwar, da, wo der Apoftel von der fiegreichen Ueber-
windung des Fleifches, von einem Wandel im Geift
redet, handele es fich um ,Glaubensausfagen, aus der
Fülle desjenigen, was der Apoftel als gottgewolltes Ziel
erfafst hatte und felbft erftrebte, hervorgegangen'. Allein
damit kann er der chriftlichen Siegesgewifsheit und dem
Bewufstfein des Apoftels, endgültig von den Feffeln der
Sündenmacht befreit zu fein, nicht gerecht werden.
Das Sein im Geift war für ihn eine Thatfache, kein Ideal.
Einen zwiefpaltigen Zweifeelenmenfchen anzunehmen,
wie ihn Feine auf Grund von Rom. 7 fich ausmalt, verbieten
zu viele klare Zeugnifse. Hätte fich aber Paulus
in feinem Gefetzesdienft fo zufrieden gefühlt, feine durch
eigene Leiftungen erworbene Gerechtigkeit fo ausreichend