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Ausgabe:

1900

Spalte:

24-26

Autor/Hrsg.:

Sell, Karl

Titel/Untertitel:

Goethes Stellung zu Religion und Christenthum 1900

Rezensent:

Hans, Julius

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23 Theologifche T.iteraturzeitung. igoo. Nr. I. 24

den CongregationalHten. Das kleine Buch wird Anfpruch
auf Beachtung auch bei uns erheben dürfen.

Die Pilgerväter bringen (1620—1660) ihre Frömmigkeit
aus der Heimath mit. Sie flehen unter dem Eindrucke
der unumfchränkten Souveränität Gottes, dem ein
Bewufstfein völliger menfchlicher Hilflofigkeit entfpricht.
Bekehrung ift darum eine fchwierige Aufgabe und die
Frömmigkeit auf eine peinlich-minutiöfe Selbftprüfung
hingewiefen. Diefer Richtung nach innen fleht aber eine
lebhafte Activität gegenüber. Denn der fouveräne Gott
hat feinen Gegner in den dämonifchen Kräften, die die
Welt beherrfchen, in der fich diefe Männer finden. Sie
aber find zu feinen Kämpen berufen, in den Gefahren
der Wildnifs fo gut wie unter Satans fpeciellen Sklaven,
den armen Indianern. Ein kräftiges Gefühl der Erwählung
entfpringt trotz jenen Bekehrungsnöthen aus diefer Lage;
in der unfehlbar autoritativen Schrift befitzt es feinen
vollgiltigen Bürgen: kein Buch derfelben wird von diefen
harten Pionieren in heidnifcher Wildnifs andächtigergelefen,
als jenes jüdifche Liebeslied, das von Chrifto und feiner
Kirche handelt. — Aber durch die Offenbarungstheorie
der Quäker u. A. wird das Anfehen der Schrift zuerft
leife untergraben. Wir treten in die zweite Periode ein:
the Puritan decline (— 1735). Aus zahlreichen Zeugnifsen
wird diefe Ueberfchrift gerechtfertigt; die Urfachen des
Niederganges werden aufgewiefen; als charakteriftifches
Symptom giebt fich eine neue Theorie über Mitgliedfchaft
in der Kirche zu erkennen: the half-way covenant. Die
Forderung einer wirklichen Gemeinde von Heiligen wird
ermäfsigt: um den immer noch feftgehaltenen Kern legt
fich eine ungleichartige Maffe, ein zwiefaches Chriftenthum
ift das Ergebnifs. Um diefe Theorie wird lange gekämpft
, fie ift in der erften Hälfte unferes Jahrhunderts
fcheinbar überwunden, um in der Gegenwart vielmehr
in die entgegengefetzte epifkopale einzumünden, der die
Kirche als corpus mixtum gilt.

Die beiden folgenden Perioden ( —179O; —1859) find
durch allgemeine Erweckungen gekennzeichnet. White- I
field's Erfcheinen (1740) ruft eine ftürmifche Erregung
hervor. Aber die Wellen legen fich überrafchend bald.
Der Verf. hat auch von den Führern Unerfreuliches zu
berichten. Trug fchon Whitefield durch feine anmafsen-
den Urtheile über die Paftoren den Streit in die Kirche,
fo war dies vollends bei den reifenden Laienpredigern
der Fall. Lay-itineracy war eine bisher unbekannte ]
Neuerung. Extravaganzen blieben nicht aus. Phyfifche
Phaenomene wurden als unumgängliche Zeichen des Er-
griffenfeins beurtheilt. Das deutlichfte Ergebnifs waren
Kreife von Separatiften, zu deren Charakteriftik inter-
effante Selbftzeugnifse mitgetheilt werden. Hingegen
fleht der kirchlich-organifirte Methodismus (feit 1766)
weder mit diefen Separatiften noch mit 1740 in unmittelbarem
Zufammenhang. Dauernden Einflufs hat die grofse
Erweckung auf die Geiftlichkeit geübt. Die Kanzel wurde
neubelebt. Zugleich tritt in ihrem Gefolge eine inten-
livere theologifche Arbeit auf. Aus ihr entwickelt fich
a characteristic New-England Theology. als deren Hauptvertreter
Edwards (R. E.3 5,171 ff.) und Hopkins erfcheinen.
Die Vcrfchiedenheit nun der zweiten Erweckungsperiode
von ihrer Vorgängerin ift wefentlich dadurch bedingt, dafs
fie diefe einheimifche theologifche Gedankenarbeit zur
Vorausfetzung hat. Das giebt ihr einen überwiegend
doctrinären, dogmatifchen Charakter, der jedoch erft fpät
t igentlich kirchliche Motive in fich aufnimmt. Das Bild
ift daher ein weniger ftürmifches; Laien-Wanderpredigt
giebt es Anfangs garnicht; körperliche Erfcheinungen
Ehlen ganz; und wenn Auswüchfe nicht ausbleiben
(aitxtous seat, four-days'-meetings), fo bewahrt die Bewegung
doch bis zum Bürgerkriege ihren auf religiöfe
Innerlichkeit gerichteten Charakter.

Der Bürgerkrieg macht einen tiefen Einfchnitt auch
in der Gefchichte der Frömmigkeit. Zwar die freien
v ereinsbildungen, die einen Ungeheuern Umfang erreichen,

haben fchon früher angefetzt. Aber fie flehen jetzt auf
neuem Grunde. Kben die Innerlichkeit der alten Zeit ift
dahin. Reden und Handeln in und durch Vereine ift an
die Stelle des Grübelns über Sünde und Erlöfung, Bekehrung
und Heiligung, getreten. Das religiöfe Leben
ift ethifch geworden, wo es dogmatifch war. Die Predigt
mufs auf alles Doctrinäre verzichten. Die Kirche ift aus
einer Stätte zur Rettung Einzelner zu einem Inftrument
für die Umwandlung der Gefellfchaft geworden, fie ift
ein, die Zukunft anticipirendes Modell einer Welt voll
focialer Aufgaben und Zwecke. Evangelifation auf diefem
Grunde wird zu einer Profeffion, faft zu einem Gefchäft.
Ihre Sendlinge werden aus Bureaus bezogen, in denen
ihre Specialität fo gut wie ihr Preis feftgefetzt wird. Die
Welt der Adiaphora erobert fich wieder einen breiten
Raum, während zugleich moderne Bibelkritik zum erften
Male in diefer Gefchichte in ausgedehnterem Mafse die
Gemeinden beeinflufst. Dennocb weifs der Verf. auch
auf Lichtfeiten hinzuweifen: The sense of duty to do sonie-
thing, in some way, as Christians, has certainly been 011
the advance. Time once used in introspection and solitary
iliougld is now, in very considerable degree at least, used
in labor for others. Und übrigens gilt für den Hiftoriker
der Wahlfpruch: The present not final. — The proper
attitude of a Student of religious history is patience and
expectancy. Let him watch. Let htm tvait.

Rumpenheim. S. Eck.

Seil, Prof. Dr. Karl, Goethes Stellung zu Religion und
Christenthum. Vortrag mit Erläuterungen. Freiburg
i. B., J. C. B. Mohr, 1899. (IV, 104 S. gr. 8.) M. 5.—

Der Verfaffer beftimmt fein Thema näher dahin:
,Nicht das darf die Frage fein, wie Goethe fich perfön-
lich gefleht hat zu einzelnen Forderungen des Chri-
ftenthums, oder wie feine Dichtung befleht vor dem
Codex irgend einer kirchlichen Lehre, . . . fondern wie
Goethe, der Dichter und Denker, der gröfste Mann
in der Vereinigung diefer Gaben, den wir befitzen, zu
den weltgefcbicbtlichen Mächten der Religion und
des Chriftenthums in allen ihren verfchiedenen Gehalten,
die ihm entgegengetreten find, fich verhalten habe, das
ift die eine Frage, und die andere ift die: ob fein Verhalten
blofs auf willkürlichen Sympathien und Antipathien
, oder ob es ruht auf dem tiefen Grunde feiner
Natur und feiner erworbenen Weltanfchauung'.
Selbftverftändlich kann die erfte Frage nur in der Weife
beantwortet werden, dafs die Entwickelung aufgezeigt
wird, die Goethe auch in diefer Hinficht durchgemacht
hat. Seil rechnet ihn zu den ,darftellenden' Naturen
(im Gegenfatz zu den .umwälzenden'), die der vollendete
und vollendende Ausdruck des Gefammtinhaltes einer
Zeit' find, auf die die geiftigen Strömungen der Zeit
grofsen Einflufs üben und in deren perfönlicher Entwickelung
darum auch die allgemeine Entwickelung des
Geifteslebens ihrer Zeit fich fpiegelt. Er theilt dann das
Leben des Dichters in fünf Perioden und will zeigen,
dafs er in der erften, in der eigentlichen Jugendzeit, unter
dem Einflufs der religiöfen Aufklärung geftanden
habe, in der zweiten, bis zur Ueberfiedelung nach Weimar
, Pietift und dann religiöfer Separatift gewefen
fei, in der dritten, in der Weimarer Zeit bis zur italie-
nifchen Reife, fich zum Evangelium der Humanität
bekannt und pantheiftifch gedacht habe, in der vierten,
während des Zufammenlebens mit Schiller, für den kri-
tifchen und religiös-fittlichen Idealismus gewonnen
worden fei, und in der fünften endlich, der Zeit der Vollendung
feiner Weltanfchauung, die Verföhnung von
Glauben und Wiffen und ein praktifches Chriftenthum
vertreten habe, Theift gewefen fei. Seil fieht in diefer
Entwickelung einen Fortfehritt in der Erkenntnifs der
Wahrheit. .Goethe ift am Schluffe feiner Bahn der Ent-