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Ausgabe:

1900 Nr. 14

Spalte:

413-414

Autor/Hrsg.:

Sieffert, Friedrich

Titel/Untertitel:

Das Recht im Neuen Testament 1900

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 14.

414

wo in Kleinafien auftauchen werden. Doch — nicht nur
um 101 Blätter handelt es fich, fondern um eine viel
gröfsere Anzahl; denn wahrfcheinlich umfafste die Hand-
fchrift einft alle vier Evangelien. Es ift eine Freude zu
wiffen, dafs Kleinafien noch immer folche Schätze birgt,
eine Freude und ein Schmerz zugleich, wenn fie nur in
Buchftücken und lofen Blättern zu Tage treten.

Berlin. A. Harnack.

Sieffert, Prof. Confift.-Rath Dr. Friedrich, Das Recht im
Neuen Testament. Rede beim Antritt des Rektorats
der Friedrich-Wilhelms-Univerfität zu Bonn am
18. Oktober 1899 gehalten. Göttingen, Vandenhoeck
& Ruprecht, 1900. (24 S. gr. 8.) M. —.60

Der Vortrag beginnt mit einem Rückblick auf die
unter dem Uebergewichte des religiöfen Factors ftatt-
habende Entwickelung des Rechtsgedankens in Israel
und der Rechtsverhältnifse im zeitgenöffifchen Judenthum.
Von den Pharifäern wird bei diefer Gelegenheit gefagt,
man habe fie mit gleichem Unrechte für eine nationale
wie für eine internationale Partei gehalten (S. 11). Aber
Erfteres kommt doch der Wahrheit ungleich näher als
Letzteres. So verftehe ich es auch nicht, wie der Wider-
facher 2 Theff. 3, 3 f. fein Modell im Kaifer Caligula haben
und doch /vorwiegend' jüdifcher Meffias fein foll (S. 19),
oder weshalb die Mahnung 1 Petr. 2, «f. zur Zeit Tra-
jan's undenkbar fein foll (S. 21). Einverftanden aber wird
man mit dem Gange der Betrachtung auf gewiffen Hauptpunkten
fein. Jefus hat an die Stelle der rechtlichen Auf-
faffung der Religion und Sittlichkeit eine fich individuell ge-
ftaltende Gefinnung und Lebensrichtung gefetzt' und dadurch
Religion und Sittlichkeit verfelbftändigt gegenüber
dem Rechte, das feinerfeits eine folcheVerinnerlichung nicht
verträgt' (S. 12). Sein weiteres Verhalten bewies, dafs er
,Religion und Recht grundfätzlich von einander fchei-
dend, jedem Gebiet, was ihm zukommt, zu Theil werden
liefs' (S. 14). Dabei wäre übrigens noch die Frage zu
berühren, ob etwa die vom Befchreiten des Rechtsweges
durchweg abmahnenden Vorfchriften der Bergpredigt
unter dem Gefichtspunkte von Lebensordnungen zu ver-
ftehen find, welche innerhalb einer enger gefchloffenen,
füllen Gemeinfchaft unbefchadet des nach aufsen zu
beobachtenden Refpectes vor der allgemeinen Rechtsnorm
des Gefetzes Pflege finden follen. Auch läfst der
Gegenfatz, welcher gerade in Beziehung auf Juftiz zwifchen
dem Gebiete des Philippus und des Antipas beftanden
zu haben fcheint (S. 7 f.), der Vermuthung Raum, es
möchte im damaligen Galiläa ein Zuftand von Rechts-
unficherheit und Rechtslofigkeit geherrfcht haben, welcher
den Gedanken an gänzlichen Verzicht auf Recht nahe
legen konnte. Weiterhin wären die gelegentlich citirte
Stellen Matth. 18, ig (S. 13) und 1 Cor. 6, 1—<i (S. 19 f.) noch
darauf anzufehen, ob fie nicht die Anfänge zu einem
innerhalb des chriftlichen Vereins fich bildenden, neuen
Rechtsbrauch darfteilen, alfo gerade den Keim für das,
auch gelegentlich erwähnte ,Kirchenrecht' (S. 2. 22). Der
Richtigkeit der über die Benutzung und Ausdeutung der
juriftifchen Beftandtheile des Pentateuchs gemachten Bemerkungen
thut es keinen Eintrag, dafs die als Beleg angeführte
Stelle Rom. 7,2.3 eine ,Vorfchrift der mofaifchen
Gefetzgebung' (S. 16) eigentlich nicht heifsen kann, da
fie vielmehr der Halacha angehört. Am meiften Intereffe,
weil verhältnifsmäfsig Neues bietend, werden die Mittheilungen
über den Anfchlufs des Paulus, zumal in feiner
Lehre von der Adoption und ihren Rechtsfolgen, an das
römifche Recht darbieten (S. 16 f.), wiewohl gerade hier,
wenigftens in Bezug auf den Galaterbrief, neuerdings
Ramfay in ^Expositor1 (1898) zu abweichendem Refultate
gelangt fein will. Mit Recht wird behauptet, dafs nach
Paulus ,der römifchen Rechtsordnung eine gewiffe fitt-
liche Vernünftigkeit zukommt' (S. 18 f.), und damit auch

die, kürzlich noch von Feine (Das gefetzesfreie Evangelium
des Paulus, S. 113 f.) auf die Heidenchriften mifs-
deutete Stelle Rom. 2, u. 15 (S. 20), fowie der Umfiand,
dafs Paulus nach der Apoftelgefchichte römifcher Bürger
ift (S. 16) und als folcher gerade bei den Vertretern des
römifchen Regimentes rechtlichen Schutz findet (S. 19),
in Verbindung gebracht. Nicht wenig Intereffantes zur
Sache wäre wohl aus Mommfen's neuefter Veröffentlichung
über römifches Strafrecht zu gewinnen.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Gardner, Percy, Litt. D., Exploratio evangelica. A brief
examination of the basis and origin of the Christian
belief. London, A. & Ch. Black, 1899. (X, 521 S. gr. 8.)

Sh. 15.—

Diefes Buch des rühmlich bekannten Archäologen
und Hiftorikers führt fich ausdrücklich als das Werk
eines Laien ein und will als folches verftanden fein. Der
Verf. ift von der hohen Wichtigkeit der religiöfen Frage
tief durchdrungen und die Gewalt, mit welcher die theo-
logifchen Probleme fich den Denkenden unter den Zeit-
genoffen aufdrängt, hat ihn ergriffen und veranlafst, den
religionsphilofophifchen und religionsgefchichtlichen Un-
terfuchungen der Gegenwart feine Aufmerkfamkeit zu
widmen. Das fchön ausgeftattete, lichtvoll gefchriebene,
vom wärmften Intereffe für feinen Gegenftand getragene
Buch ift eine populäre Einführung in einige der wich-
tigften Probleme der die chriftliche Religionsgefchichte
und Lehrentwickelung betreffenden Disciplinen. Die Abficht
des Verf. war weder ein destructive, noch ein construc-
tive, but rather critical vuork zu fchaffen. ,It may per-
haps most appropriately be compared to the Operations
which precede construetion, to the investigation of the
ground and the digging of trenches, with a view to
foundations. Das Werk zerfällt in drei Theile. Das erfte
Buch (First Principles, 1—117) enthält die grundlegende
Principienlehre, deren Geht und Standpunkt durch das
der ganzen Schrift als Motto vorangeftellte Wort Amiel's
charakterifirt wird: Le deplacement du christianisme de la
region historüjue dans la region psychologique est le voeu
de notre epoque. Allerdings bringt der Verf. diefes
fcharf formulirte Entweder-Oder nicht ganz in derfelben
Weife zur Anwendung wie Amiel, welcher fchliefslich
die pofitiv hiftorifche Religion in fubjective Erlebnifse
aufzulöfen beftrebt war. Gardner fieht vielmehr in der
Gefchichte felbft eine ins Grofse gehende Pfychologie,
die Actualifirung der Kräfte, die den eigentlichen Gegenftand
der Völkerpfychologie bilden. Diefe Eigentümlichkeit
bewährt fich an der Uebereinftimmung der
Grundanfchauungen Gardner's mit den Gedanken Saba-
tier's, welcher in feiner Esquisse d'une Philosophie de la
religion gleichfalls nicht in einfeitiger Weife das pfycho-
logifche Phänomen der Religion im fubjectiven Bewufst-
fein analyfirt, fondern ftets die innern Erlebnifse in das
Licht der Gefchichte ftellt. Demgemäfs handelt auch
das zweite Buch von der early Christian history (118—
288) und das dritte von der early Christian doctrine
(289—509). Jener Theil bringt wichtige Capitel aus dem
Leben Jefu, der neuteftamentlichen Zeitgefchichte, Literatur
und Theologie; diefer trägt einen überwiegend
dogmen-hifiorifchen Charakter. Das innere Band, welches
die einzelnen Elemente zufammenhält, nimmt fich zuweilen
etwas locker aus; namentlich bietet das zweite
Buch weniger eine innerlich gefchloffene und organifche
Darfteilung als eine ziemlich lofe an einander gereihte
Gruppe geiftvoller Effays, die zwar anregend und aufklärend
wirken, die aber den in Angriff genommenen
Gegenftand in keiner Weife erfchöpfen. Gardner vertraut
fich zuverläffigcn und gründlichen Führern; Harnack
und befonders Schürer werden von ihm nicht
nur rühmend anerkannt, fondern verftändnifsvoll ver-
werthet; Rüville's Jesus de Nazareth ift, nach feinem

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