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Ausgabe: | 1900 Nr. 12 |
Spalte: | 379-380 |
Autor/Hrsg.: | Wagner, Friedrich |
Titel/Untertitel: | Die sittlichen Grundkräfte 1900 |
Rezensent: | Mayer, Emil Walter |
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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 12.
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machen, dafs manche Wendung bei Quenftedt und den
orthodoxen Scholaftikern auf eine andere AuffafTung hinweift
als die ihnen zugefchriebene: folchenwiderfprechenden
Aeufserungen trägt er durchaus Rückficht, wie er denn
nur die durchfchlagende Anfchauung fchildern will.
Eher könnte man fragen, ob nicht fchon in der Con-
cordienformel der Heilsprocefs fich ftellenweife als ein
Act ausnimmt, bei dem das Bewufstfein, Denken und
Wollen nicht betheiligt find; ganz gelingt es dem Autor
felbft nicht, diefen Schein zu befeitigen (vgl. S. 80 ff ).
Ebenfo dürfte daran zu erinnern fein, dafs bereits in der
Augustana und Apologie der rechtfertigende Glaube auf
das meritum Chrifti gerichtet ift. Und was die Erklärung
der beobachteten Verfchiebung betrifft, fo wäre am Ende
zu erwägen, ob nicht die allmähliche Verdrängung pfychi-
fcher Vorgänge durch phyfifche und hyperphyfifche zum
Theil auch auf den Umftand zurückzuführen fei, dafs
geiftiges Gefchehen immer und von jeher nur durch
Bilder, die der Sinnenwelt entnommen find, fich veran-
fchaulichen läfst: was ja an und für fich unbedenklich
ift, aber gefährliche Folgen zeitigt von dem Augenblicke
an, wo eine von lebendiger Erfahrung verlaffene Theorie
die Form und die Sache nicht mehr zu unterfcheiden vermag.
Mit folch vereinzelten Bedenken foll jedoch dem
Werth der aufserordentlich fleifsigen Arbeit in keiner
Weife zu nahe getreten werden. Sie trifft wohl im Wefent-
lichen das Richtige und gewinnt an Intereffe und An.
ziehungskraft, je mehr man fich in den fpröden Stoff
vertieft.
Störende Druckfehler finden fich S. 33 Z. 4 v. u. und
S. 102 Z. 10 v. o.
Strafsburg i. E. E. W. Mayer.
Wagner, Dr. Friedrich, Die sittlichen Grundkräfte. Ein
Beitrag zur Ethik. Tübingen 1899, Laupp. (III, 91 S.
gr. 8.) M. 2.—
Was ift die Grundlage der Sittlichkeit im Menfchen?
Diefe Frage beantwortet Wagner, der fich bereits durch
eine Abhandlung über die Freiheit bekannt gemacht hat,
in zwei gefonderten Abfchnitten. Ihr Inhalt kann jedoch
hier in eins zufammengefafst werden, da fie fich gegen-
feitig ergänzen und erläutern.
Verf. bezeichnet mit .Activität' ein von Luft und
Unluft unabhängiges, dagegen durch Ideen veranlafstes
Thun und Wollen. Ein folches ift nach ihm identifch
mit dem fittlich Guten, da es eine charakteriftifche
Eigenthümlichkeit der mit der Gabe vernünftiger Ueber-
legung ausgeftatteten Menfchheit ift, und man ja gewöhnlich
dasjenige ,gut' nennt, was in einem Individuum
das Wefen der Gattung zum Ausdruck bringt.
Die Bafis der Moral im Subject befteht alfo in der
,Fähigkeit zur Activität'. Diefe fetzt fich aus zwei Komponenten
zufammen: der Willenskraft oder Energie einer-
feits, andererfeits der Idealität oder Empfänglichkeit für
Ideen, d. h. Vorftellungen, die eine gewiffe Art von
Thätigkeit oder eine als fertig gedachte Thätigkeit oder
ähnliches zum Inhalt haben. Die zwei hiermit aufge-
wiefenen Grundkräfte nehmen verfchiedene Formen an.
So erfcheint die Willenskraft bald als Thätigkeitstrieb
im allgemeinen, bald als Fleifs oder Arbeitfamkeit, Ent-
fchloffenheit, Selbftbeherrfchung, Tapferkeit, Treue oder
fpeciell als der Trieb, die Thätigkeit einer individuell
beftimmten Denk- oder Vorftellungsweife entfprechend
zu geftalten (Talent). Ebenfo ftellt fich die Idealität dar
bald als Empfänglichkeit für geiftige Dinge überhaupt,
bald als Gefchmack, Geift, Wahrheitsliebe, Genie, als
fociale oder als religiöfe Gefinnung. Ift doch die letztere
als das Vertrauen auf ,überfinnliche, göttliche Wefen, von
denen der Gläubige fich bei all feinem Thun begleitet,
befchützt, beobachtet und gerichtet fühlt', ihrem Kern
nach eine ,Hingebung unferes Innern an die ideelle Seite
der Dinge'.
Bei Pflichtencollifionen hat den Vortritt diejenige
Handlungsweife, für die im Subject das ftärkfte Bedürfnifs
und die meifte Kraft vorhanden ift, weil dadurch die
Realifirung der gröistmöglichen Summe von Activität
gefichert wird. Dem entfprechend beruht der höhere
Werth, den ein fittlicher Trieb vor andern voraus hat,
nicht fowohl darauf, dafs er mehr für das Wohl der
Gefammtheit leiftet, als darauf, dafs er der relativ kräftigere
ift. Sofern er fich als folcher bekundet, enthält er einen
Hinweis auf den Beruf des Individuums.
Das Unfittliche ift etwas Negatives. Es ift nicht
zu fuchen in irgend einer Art der Activität, fondern
allein in der Paffivität, das heifst, in der Abhängigkeit von
Luft und Unluft, von dem (Materiellen'. Weil eben diefes
nichts Pofitives wirkt, fondern nur in einem Mangel an
Leiftungen, einem Defect fich documentirt, ift es als etwas
nicht Reales gegenüber dem Ideellen zu beurtheilen.
Man wird der ganzen Darfteilung Wagner's, die für
fich den Vorzug beanfprucht, die Gleichförmigkeit der
religiöfen Ethik mit einer anders begründeten aufzudecken,
Originalität nicht abfprechen können. Sie ift reich an
feinfinnigen und anregenden Bemerkungen. Man wird
aber auch an der eigenthümlichen und überrafchenden
ConftructionGefallen finden und daraus Belehrung fchöpfen
können, ohne fich deshalb die Anfchauungen anzueignen,
bei denen fie ausmündet. Fraglich wird es jedenfalls
manchem erfcheinen, ob es wirklich ein fo gegen den
Affect indifferentes Handeln giebt, wie es der Autor
ftellenweife ftatuirt. Er felbft kann fich doch nicht enthalten
von einer ,Befriedigung' fittlicher Triebe, von einer
mit ,Freude' erfüllenden, ,befeligenden Idee' zu reden;
er fpricht von einem ,Bedürfnifs' nach Activität und con-
ftatirt, dafs diefe zwar nicht um der Luft willen, jedoch
,aus Luft' erfolge. Und gefetzt felbft, es liefse fich ein
vom Gefühl irgendwie unabhängiges Wollen aufzeigen,
genügt es, dasfelbe als durch Ideen beftimmt zu kennzeichnen
, um es als fittlich zu legitimiren? Kommt es
nicht vor, dafs durch ,Vorftellungen von Thätigkeit' ver-
brecherifche Handlungen ausgelöft werden? Verf. entzieht
fich freilich diefem Zugeftändnifs durch die Bemerkung
, dafs das Verwerfliche in den letzteren auf
felbftifche und fchädliche Affecte zurückzuführen fei,
die mit im Spiele find, wie Hafs, Rachfucht, Habfucht
(S. 48). Wird aber nicht gerade damit dem Unterfchied
von egoiftifchen und altruiftifchen Regungen doch eine
gröfsere Bedeutung für die Charakteriftik des Moralifchen
eingeräumt, als Wagner es fonft Wort haben will? That-
fächlich motivirt er denn auch die höhere Schätzung eines
fittlichen Triebes vor dem anderen doch nicht blofs mit
deffen Stärke, fondern mit dem Hinweis darauf, dafs er
als der kräftigere mehr für das Gefammtwohl zu leiften
vermag als die fchwächeren (S. 85). Im übrigen verräth
die Abhandlung den Einflufs proteftantifchen Geiftes, infofern
fie unter allen Umftänden jedes Thun als werthlos
bezeichnet, das um einer anderen als der in der Handlung
felbft liegenden Luft willen gefchieht. Auch das lebhafte
Vcrftändnifs für den Beruf fällt angenehm auf.
Strafsburg i. E. E. W. Mayer.
Zum Abgarbrief.
Bei den Ausgrabungen an dem Hafen von Ephefos,
über die R. Heberdey in dem Anzeiger der philofophifch-
hiftorifchen Claffe der K. Akademie der Wiffenfchaften
in Wien vom 7. Februar 1900 n. V (wiederholt in den
Jahresheften des Oefterreichifchen Archäologifchen Infti-
tutes in Wien III 1, 1900, 83—96) berichtet, fand fich an
dem Thürfturz eines Privathaufes aus byzantinifcher Zeit
die Correfpondenz Abgars und Chrifti infchriftlich in
guten Charakteren vor. Der Text kommt am nächften
demjenigen des vonLindfay und Nicholfon im Athenaeum
von 1885 p. 304 und 506 f. veröffentlichten Faijüm-Papy-
ros der Bodleiana. Er ruht auf Eufebios, ift aber um