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Ausgabe:

1900 Nr. 12

Spalte:

377-379

Autor/Hrsg.:

Koch, Max

Titel/Untertitel:

Der ordo salutis in der alt-lutherischen Dogmatik 1900

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 12.

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fonft naturwiffenfchaftlicher Art. Er erkennt zwar im
Eingang die relative Berechtigung der intuitiven Moral
an. Das Phänomen des Sollens oder wie man es fonft
nennen will ift eine Thatfache unteres Bewufstfeins, daran
giebt es nichts zu ändern. Aber das ift etwas, was die
folgende Erörterung nicht weiter beeinflufst; fie verläuft,
wie wenn das nur ein und zwar nebenfächlicher Zug am
Object wäre, der auf das Ganze keinen Einflufs hätte.
Mir dagegen würde fcheinen, dafs damit der Punkt getroffen
fei, auf den in Unterfuchungen über die mora-
lifchen Phänomene alles ankäme, mit dem allererft das
Object der wiffenfchafllichen Erörterung auf diefem Gebiete
fixirt wäre. Und daraus würde ich unter anderem
folgern, dafs es freilich kein philofophifches Moralfyftem
geben kann, das fich demonftriren liefse, und das Alle
anerkennen müfsten. Aber nicht weil auch hier wie fo
oft die Erfcheinungen zu verwickelt find, um etwas Derartiges
zuzulaffen, fondern weil ein folcher Abfchlufs
durch die Natur des Erkenntnifsgebietes ausgefchloffen
ift. Wer, auch in wiffcnfchaftlicher Form, eine beftimmte
Moral vertritt, redet nicht blos als Forfcher, fondern
ebenfowohl als Prophet. Denn er nimmt fchliefslich und
entfcheidend den Willen feiner Zuhörer oder Lefer in
Anfpruch. Dergleichen Erwägungen fcheinen dagegen
James fern zu liegen; er könnte fonft nicht fo über den
Moralphilofophen und das üttliche Leben reden, wie er
thut. Aber das ift nun nicht ein Unterfchied nur in
der Auffaffung und Beurtheilung des fittlichen Lebens.
Er kehrt vor Allem auch darin wieder, dafs James keinen
Unterfchied zwifchen Glaube und Glaube macht. Er
hebt den ethifch und innerlich motivirten Gottesglauben
nicht formell ab von irgendwelchen Annahmen, zu denen
man im Verlauf einer wiffenfchaftlichen Unterfuchung
kommt, ohne fie doch beweifen zu können. D. h. er unter-
fcheidet beides in feiner praktifchen Bedeutung ganz be-
ftimmt. Was ich meine, ift nicht ein Unterfchied des
praktifchen Empfindens, fondern der Denkgewohnheit.
Er hält es eben nicht für richtig, auf die innere Differen-
zirung des Erkennens, die fich aus den verfchiedenen
praktifchen Motiven desfelben ergiebt, Werth zu legen,
während mir dies ein unentbehrliches Datum in einer Ge-
fammtanfchauung wie der feinen zu fein fcheint. Kurz,
hier ift offenbar ein Unterfchied englifcher und deutfcher
Denkgewöhnung vorhanden. Vielleicht hat er feinen
Grund in der Gefchichte der Wiffenfchaft in beiden Ländern
, darin, dafs bei uns lange die Geifteswiffenfchaften
ein Uebergewicht über die Naturwiffenfchaften hatten,
während diefe dem englifchen Denken vor allem den
Stempel gegeben haben. Aber trotz diefes Unterfchiedes
— es ift ein gutes Buch, ein fehr gutes Buch, das hier
vorliegt. Ich empfehle es noch einmal der ernfthafteften
Beachtung.

Berlin. Kaftan.

Koch, Lic. Dr. Max, Der ordo salutis in der alt-lutherischen
Dogmatik. Berlin, A. Duncker, 1899. (VII, 199 S. gr. 8.)

M. 4.-

Die fyftematifche Theologie hat neuerdings ihre Auf-
merkfamkeit wieder mehr und mehr der Lehre von der
Heilsordnung zugewandt. Das Buch von Koch enthält
eine Unterfuchung darüber, wie fich diefelbe innerhalb
der alt-lutherifchen Orthodoxie gehaltet hat, und welche
Einflüfse hierbei mafsgebend gewefen find.

Verf. geht von der Vorausfetzung aus, dafs für die
Reformatoren alles auf den Glauben ,an die Offenbarung
Gottes in Jefu' ankam: dadurch allein wurde nach ihrer
Auffaffung Sündenvergebung und innigfte Gemeinfchaft
mit Gott und Chrifto vermittelt. Freilich legte die Ueber-
nahme älterer Dogmen fchon frühe eine Modifikation
diefer einfachen Anfchauung nahe (S. 1—5). Das zu
Erwartende ift Wirklichkeit geworden bei den Scholaftikern
des 17. Jahrhunderts, insbefondere bei Quenftedt, an

deffen Darfteilung als der ,ausfuhrlichften und gewiffer-
mafsen abfchliefsenden' mit Vorliebe exemplificirt wird.

I Eine genauere Betrachtung und Analyfe feiner Beftim-
mungen zeigt, dafs für ihn der Heilsprocefs in einer
ganzen Reihe von Acten verläuft, die fich hinter dem
bewufsten Seelenleben vollziehen. Die unio mystica
als eine Vereinigung von ,Subftanzen' ift ein folcher
Vorgang. Aber auch bei der conversio und regeneratio,

j bei der Befeitigung der inidoneitas naturalis, bei der
Erzeugung der cognitio litteralis, bei der Einfchaffung
der vires credendi fpielen Denken und Wollen des
Menfchen keine Rolle. Aehnlich ift es mit der Mittheilung
der fogenannten ,1/abilitas hyperphysicer' und mit
der Verleihung der vires operandi in der renovatio. Dem
allem entfpricht es nur, dafs das Wort nicht mehr der
eigentlich wirkfame Factor genannt werden kann (S. 5—36).
In einen fo gearteten Heilsprocefs pafst der Glaube, der
wefentlich Aneignung des Verdienftes Chrifti geworden
ift, nicht recht hinein. Was durch ihn verurfacht und
hervorgerufen wird, ift lediglich die Rechtfertigung, nicht
aber die fubjectiven Erfcheinungen der unio mystica und
renovatio: für diefe ift er weiter nichts als die unumgängliche
Vorausfetzung, wie denn die fidcs iustificans
eingehend nicht im Lehrftück vom ordo salutis, fondern
anderswo erörtert wird. So wird Cjuenftedt weder der
reformatorifchen Schätzung und Werthung des Glaubens
gerecht, noch gelingt es ihm, die Einheitlichkeit, Gleichzeitigkeit
, den innigen Zusammenhang' der einzelnen
Glieder im Pleilsprocefs zu wahren. Eine Abweichung
von den älteren Dogmatikern und auch von der Con-
cordienformel, wo die fidcs noch immer Centrum und
Ausgangspunkt für alles übrige ift und ein fefterer Con-
nex innerhalb der Heilsordnung fich beobachten läfst,
hat ftattgefunden. Und zwar ift die Digreffion nicht
etwa eine zufällige und blofs fcheinbare; fie ift eine fehr
reale und in gewiffem Sinne beabfichtigt: das wird unter
Berufung auf eine Streitfchrift des Mufäus gegen zwei
Wittenberger Theologen, Reinhard und Bilefeld, dargelegt
. Deshalb kann die Wandlung, die fich ereignet
hat, nicht allein aus dem fcholaftifchen Trieb zu unter-

I fcheiden und aus der Einführung der analytifchen Me-

i thode erklärt werden. Eine gröfsere Rolle hat vielmehr
die Satisfactionstheorie und die Zweinaturenlehre gefpielt:
der Einflufs der erfteren macht fich bemerkbar in der Be-
fchränkung des Glaubens auf das Ergreifen des Verdienftes
Chrifti, derjenige der letzteren in dem hyper-
phyfifchen Charakter, den der Heilsprocefs angenommen
hat (36—108).

Doch noch andere Pkctoren find in Anfchlag zu
bringen. Als folche dürfen allerdings nicht die Einwirkungen
der katholifchen Dogmatik genannt werden,
die lediglich die Formen liefert, mit denen man arbeitet;
ebenfo wenig die der reformirten Theologie: denn, wenn
gleich da der Heilsprocefs ebenfalls hinter der Welt der
gefchichtlichen Erfcheinungen und des pfychifchen Lebens
verläuft, fo ift das auf die Prädeftinationslehre zurückzuführen
und einen eigenthümlichen Gottesbegriff, der nicht
der lutherifche ift (108—141). Dagegen ift von folgen-
fchwerer Bedeutung gewefen die Discuffion mit der
Metaphyfik der Helmftädter und Tübinger. Im Kampf
mit jener kommt es zur Ausbildung der Lehren von der
conversio und renovatio; während die Auseinanderfetzung
mit beiden die Entftehung des Dogmas von der unio
mystica zur Folge hat (141 —177).

So ift der letzte Grund der Veränderung, welche die
Theorie vom ordo salutis durchgemacht hat, in der Verbindung
von Theologie und Metaphyfik zu fuchen.

. Die Confequenz aber war eine Begünftigung der Myftik

i und damit eben eine indirecte P'örderung des Pietismus

I (177—199).

Dies etwa die Gedankenentwickelung des Verf.'s,
der unftreitig feine Thefen mit grofser Umficht und
Sorgfalt motivirt. Man wird nicht gegen ihn geltend