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Ausgabe:

1900 Nr. 12

Spalte:

375-377

Autor/Hrsg.:

James, William

Titel/Untertitel:

Der Wille zum Glauben 1900

Rezensent:

Kaftan, Julius

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375

Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 12.

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die alte Form der Verbindung beider (natürliche Theologie
, Beweife für das Dafein Gottes) zerbrochen und
eine neue, die irgend allgemein anerkannt wäre, noch
nicht gefunden ift. Alle Apologetik mufs eine Bemühung
hierum fein und diefen Sachverhalt aus dem Fundament
erörtern. Doch will ich damit nicht fagen, dafs das
Büchlein Steude's nicht manchen dienen kann, angefochtenen
Chriften meine ich, Nichtchriften fchwerlich.
Er felbft erwähnt mehrfach, dafs es bei dem Werth der
Apologetik vor allem auch auf die Bedürfnifse derer ankommt
, an die fie fich wendet. Und fo mag es wohl
folche geben, denen das gut und lebendig gefchriebene
Buch dienen kann.

Berlin. Kaftan.

James, Prof. William, Der Wille zum Glauben und andere
populär-philofophifche Effays. Ins Deutfche übertragen
von Dr. Th. Lorenz. Mit einem Geleitwort
von Prof. Dr. Fr. Paulfen. Stuttgart, F. Frommann,
1899. (XX, 196 S. gr. 8.) M. 3.-

Profeffor James von der Harvard-University zu Cambridge
bei Bofton hat im Jahr 1897 eine Reihe von popu-
larphilofophifchen Vorträgen und Auffätzen herausgegeben,
deren erfter die Ueberfchrift trägt: The zvill to believe.
Denfelben Namen hat er zum Titel der Sammlung gewählt
, offenbar weil der leitende Gedanke, der fich durch
die einzelnen Betrachtungen hindurchzieht, durch die
meiften wenigftens, darin einen treffenden Ausdruck findet.
Von den zehn Stücken des englifchen Originals hat
Dr. Th. Lorenz auf Paulfen's Anregung fünf ins Deutfche
übertragen und fie unter dem gleichen Namen ,Der Wille
zum Glauben' deutfehen Lefern zugänglich gemacht. Die
vier weiteren Themata lauten: Ift das Leben werth gelebt
zu werden? Das Rationalitätsgefühl. Das Dilemma
des Determinismus. Der Moralphilofoph und das fitt-
liche Leben. Die beiden letzten find auf Wunfch des
Verfaffers hinzugefügt worden, während Lorenz urfprüng-
lich nur die drei erften ins Auge gefafst hatte. An meinem
Theil würde ich vor allem den Vortrag über Reflex action
and tlieism hinzugefügt und, wenn die Befchränkung noth-
wendig war, den letzten über den Moralphilofophen und
das fittliche Leben ausgelaffen haben. Die Denkweife
des Verfaffers kommt in jenem Vortrag über reflex action
and theism zu einem befonders klaren Ausdruck, auch
fcheint er mir künftlerifch der vollendetfte zu fein, indem
er, von einer gegebenen Thatfache der Phyfiologie ausgehend
, in zwanglofer Weife die letzten Fragen menfeh-
lichen Denkens und Glaubens in den Kreis der Betrachtung
zieht: man wird durch die Leetüre aufs Angenehm-
fte unterhalten und findet bei näherer Ueberlegung, wie
viel darin liegt, und welch gründliche Denkarbeit dahinter
fleht — ein wahres Mufter einer popularphilofophi-
fchen Erörterung. Dagegen ift der letzte unter den in
der Ueberfetzung dargebotenen Vorträgen nach meinem
Pimpfinden unterem deutfehen Denken fremdartig. Aber
vielleicht bildet er eben deshalb eine Ergänzung der
anderen Betrachtungen. Und jedenfalls war es Sache
des Verfaffers, darüber zu beftimmen, wie die Auswahl
getroffen werden follte.

Was ich eben dem von mir in der deutfehen Sammlung
vermifsten Vortrag nachrühmte, darf im Allgemeinen
als ein Vorzug aller diefer Effays bezeichnet werden.
Kein Lefer wird fie unbefriedigt aus der Hand legen.
Auch wer etwa einen entgegengefetzten philofophifchen
Standpunkt einnehmen follte, wird feine Freude daran
haben, mit wie leichten und wie ficheren Händen die uns
alle bewegenden Probleme hier angefafst werden — vorausgefetzt
, dafs er wirklich philofophifchen Sinn hat und
nicht blofs Parteigänger einer beftimmten Philofophie ift.
Was mich betrifft, fo weifs ich nicht blofs diefe formalen
Vorzüge des Buches zu würdigen, fondern finde die Darlegungen
des Verfaffers auch fachlich überzeugend. Ich
kenne wenig Bücher, die ich mit fo viel innerer Befriedigung
und Zuftimmung gelefen hätte wie diefes. Daher
kann ich es Allen, die fich mit philofophifchen Fragen
befchäftigen oder dafür intereffiren, nur aufs Wärmfle
j empfehlen, zumal auch die Ueberfetzung fich durchweg
j gut lieft und mit wirklicher Sachkunde angefertigt ift.

Die Tendenz der Betrachtungen des Verfaffers ift
vor Allem und unverleugnet eine apologetifche. Den
| chriftlichen Gottesglauben in der Welt der modernen
[ Wiffenfchaft zu vertreten, ift ihm ein Hauptanliegen. Die
Art aber der von ihm geübten Apologetik läfst fich viel-
[ leicht fo charakterifiren. Dafs es nicht angeht, den chriftlichen
(oder einen anderen) Gottesgedanken als den logifch
nothwendigen, gleichartigen Abfchlufs der modernen wiffen-
fchaftlichen Welterkenntnifs zu vertreten, fleht ihm feft.
j Ebenfo wenig meint er Wiffenfchaft und Gottesglaube
beziehungslos neben einander ftellen zu dürfen. Wir
wollen uns doch der vernünftigen Grundlage unferes
! Glaubens bewufst werden und mit guten Gründen für
ihn eintreten. Schliefslich ilt es auch diefelbe Vernunft,
der wir in unferen wiffenfehaftlichen Ueberzeugungen
folgen, und deren wir uns in unferem Glauben bewufst
bleiben. Denn die vorurtheilslofe Prüfung ergiebt, dafs
der Wille im einen wie im anderen Fall entfeheidend
einwirkt und oft das Ausfchlag gebende Moment ift, —
nicht die Willkür, fondern der Wille mit den in ihm
i liegenden unveräufserlichen praktifchen Impulfen. Nichts
ift irriger, als diefen Impulfen, wie fie unferer intellec-
tuellen Bethätigung einwohnen, ohne Bedenken zu folgen,
den ethifchen und religiöfen Impulfen aber, die doch
unfer werthvollftes Erbtheil find, die Heerfolge zu verweigern
. FVeilich, etwas wie ein Beweis kommt fo nicht
zu Stande. Der ift aber auf jeden Fall ausgefchloffen.
Es handelt fich darum, deffen bewufst zu werden, wie
viel in diefen letzten Fragen auf unfer Wollen, auf unfer
Wagen geftellt ift. Und wer weifs? — vielleicht hängt
es von unferem Willen zum Glauben ab, ob unfer Glaube
Wahrheit ift. Wer fich in den Bergen verfliegen hat
und den Sprung nicht im Glauben an die mögliche Rettung
wagt, den Sprung, der ihn allein retten kann, der
wird hoffnungslos in den Abgrund finken. So etwa find
wir geftellt. Es ift unfere Wahl, auf die es ankommt.
Wer diefe Wahl vornehm zurückweifen zu follen glaubt,
weil fie nicht in die Entfcheidung über die Wahrheit gehöre
, weifs nicht, was er thut. Er hat auch gewählt,
nur eben wie jener Mann in den Bergen, der erft die
| Möglichkeit des rettenden Sprungs bewiefen haben wollte,
■ das Verderben ftatt des Lebens. — Das fcheint mir die
Grundanfchauung von James zu fein, die eben angeführte
j Veranfchaulichung kehrt in feinen Erörterungen mehrfacli
wieder. Kaum brauche ich aber noch hinzuzufügen, dafs
j fein philofophifcher Standpunkt der des entfehiedenen
j Empirismus ift, radical empiricism, wie er ihn felbft be-
! zeichnet. Wohlverftanden: ein Empirismus, deffen Nerv
I gerade der Kampf gegen den verkappten Dogmatismus
! der Pofitiviften und ähnlicher Empiriker ift!

Wenn ich noch einmal wiederhole, dafs ich die Apologetik
des Verfaffers für die unferer modernen geiftigen
Situation allein entfprechende halte, will ich es doch
nicht fo verftanden haben, als hätte ich nicht im Einzelnen
allerlei Bedenken und namentlich mancherlei Fragen auf
dem Herzen. Aber darüber mich zu verbreiten, ilt hier
nicht der Ort. Wohl aber gehört die PVage hierher,
worin der Unterfchied zwifchen deutfehem und englifchem
Denken befteht, der fich beim Lefen diefes Buches, auch
wenn man ihm fo wefentlich zuftimmt, wie ich es thue,
j immer wieder aufdrängt. Vielleicht läfst er fich dahin
! beftimmen, dafs wir Deutfehen mehr darauf gerichtet
find, die Eigentümlichkeit der einzelnen Erkenntnifs-
gebiete zu beachten und zu wahren. James behandelt
z. B. im letzten Auffatz die moralifchen Probleme nicht
I anders als irgend welche Fragen phyficlogifcher oder