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Ausgabe:

1900 Nr. 12

Spalte:

356-357

Autor/Hrsg.:

Wildeboer, G.

Titel/Untertitel:

Jahvedienst und Volksreligion in ihrem gegenseitigen Verhältnis 1900

Rezensent:

Kraetzschmar, Richard

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 12.

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gendem Trumpf vernichten (S. 89): weil die Rechtfertigung
aus dem Glauben nach PI lange Jahrhunderte ver-
fchwand und erft wieder bei Luther auftaucht, würde dies
nach den Regeln jener Kritik beweifen, dafs Luther feine
Lehre erft nachträglich in die Pl-Briefe eingetragen habe.
Als ob eine religiöfe Ueberzeugung nicht Jahrhunderte
vorher in einem einzelnen Geifte auftauchen, dann gleich-
fam im Untergrund fortwirken und fchliefslich als eine
Volksmacht wieder hervorbrechen könnte, und als ob
ein folcher Glaubensgedanke nicht etwas ganz anderes
wäre, denn Gefetzesbräuche und Riten. So ftellt fich
Möller auch hier die Sache in folgender Art vor: Mofe
gab den Kindern Israel in der Wüfte zuerft feine vier
erften Bücher und dann, als er von ihnen Abfchied nahm,
fchenkte er ihnen das fünfte dazu. Nur Weniges ift im
Laufe der Jahrhunderte noch hinzugekommen. Immer
wieder haben die Kinder Israel jene Schriftftücke verloren
und vergeffen, aber unter Jona und unter Esra wurden
fie wieder neu herausgegeben. Man fieht: es find die
Gefetze, aus denen die Bräuche entftehen, nicht umgekehrt
, und es find die Bücher, die die Gefetze machen,
nicht die Riten und Bräuche, die die Bücher machen.
Und doch will z. B. Ezechiel nichts Neues zur Entwicke-
lung beitragen, fondern er regiftrirt den Stand der Dinge
und macht fich feine Gedanken darüber, er grübelt über
einen Grund für die Degradation der Leviten und findet
einen, aber ohne dafs er das hätte zum Staatsgefetz
machen wollen. Als einem Anhänger der Buchreligion
geht es auch Möller völlig ab, dafs die Frage, mit der er
fich befchäftigt, nicht im Mittelpunkte des Intereffes fteht.
Auch die Einleitungsfrage wird nicht durch Befchäftigung
mit den gefchriebenen Büchern gelöft, fondern vielmehr
durch Befchäftigung mit den lebendigen Bräuchen, für
die die Bücher nur die Zeugen find. Da würde auch
Möller merken, dafs in den Riten z. B. des P verfchiedene
Schichten aufeinander gelagert find, dafs dort an alte
urfprüngliche Riten manch neuer Anfatz fich gefügt hat,
und dafs nun die Arbeit darin befteht, die verfchiedenen
Schichten innerhalb der einzelnen Riten herauszufinden
und danach ein Entwickelungsbild zu zeichnen.

Schliefslich erfüllt Möllers gutgemeinte Streitfchrift
doch nicht alle Forderungen der Gerechtigkeit. Auch
bei ihm flehen die modernen Kritiker da als Lügner und
Betrüger, die im Hochmuth und Leichtfinn einen Thurmbau
ausführen, nicht gegen Gott zwar, aber gegen das
Bibelbuch. Er hat ja felbft (vgl. S. X) eine Ahnung davon,
dafs die ,Wellhaufen'fche Hypothefe' nicht aus einem
leichtfertigen Einfall geboren ift, fondern den Schlufsftein
einer mühevollen und ernften Arbeit bildet. Und das
müfste den jungen Studenten in einer folchen Schrift auch
gefagt fein; und wenn man felbft von unwiderleglichen
Beweifen Bredenkamp's (S.29) fpricht, fo ift es nicht recht,
die Siegesgewifsheit der Modernen zu ironifiren. Es ift
ja überaus verdienftlich, wenn von Zeit zu Zeit die Schwierigkeiten
der nicht mehr neuen Hypothefe aufgedeckt
werden, damit man nicht in der hellen Begeifterung über
den grofsen Zug der jetzigen Pentateuchauffaffung die
Gänge vergibst, die noch zu machen find. Aber man
hört bei Möller nichts davon, dafs diefe Schwierigkeiten
von den modernen Kritikern reiflich erwogen wurden.
Man hört nichts davon, dafs diefe Theologen trotz der
fpäten Anfetzung des P doch uralte Beftandthtile darin
annehmen, Stücke die vielleicht bis an den Anfang Israels
zurückgehen.

Es wäre gefchickter gewefen,ftatt die einzelnen Schwierigkeiten
der neueren Auffaffung der Reihe nach herauszuheben
, den ganzen principiellen Gegenfatz, der die
alten Confervativen und die heutigen Entwicklungstheologen
trennt und der in der Stellung zur Schrift liegt,
den Studenten einmal klar und offen an der Pentateuch-
frage zu zeigen. Eine fo gewandte Feder, wie die Möller's,
würde dabei in kurzen Zügen eine Gefchichte des Volkes
Israel zeichnen unter der Vorausfetzung, dafs Mofe die

fünf Bücher im Wefentlichen gefchrieben hat, und auch
einen kurzen Abrifs der Gefchichte Israels unter der
modernen Vorausfetzung; dann würden die Hauptfchwie-
rigkeiten beider Verfuche genannt. So würden die Studenten
in Stand gefetzt, frei zu wählen, und es ginge nicht
mehr fo, dafs fie heut auf Wellhaufen, morgen auf Möller
hereinfallen; und fchliefslich würde man fie ermahnen,
fich mit all diefen Fragen nicht zu fehr zu plagen, fondern
das A. T. zu ftudiren.

Tübingen. P. Volz.

Wildeboer, Prof. D. G., Jahvedienst und Volksreligion in
ihrem gegenseitigen Verhältnis. Vom Verfaffer durch-
gefehene deutfehe Ausgabe. Freiburg i. B. 1899. Tübingen
, J. C. B. Mohr. (44 S. gr. 8.) M. —. 80

Der Verf. bietet in vorliegender Schrift die bei
Niederlegung des Rectorates der Univerfität Groningen
am 20. Sept. 1898 gehaltene Rede in deutfehem Gewände
(überfetzt von cand. theol. M. Goebel) einem weiteren
Leferkreife dar.

In der Einleitung (S. 5—8) führt er aus, dafs man
der neueren altteftam. Kritik mit Unrecht den Vorwurf
mache, dafs fie dogmatifch fei, d. h. fich zu fehr
von der Hypothefe der Entwickelungslehre abhängig gemacht
habe. Wohl flehe z. B. Kuenen's Godsdienst van
Israel ftark unter deren Einflufse, aber vielen altteftam.
Gelehrten u. A. werde es ,von Tag zu Tag klarer, dafs
die Gefchichte in Wirklichkeit doch noch etwas ganz
anderes gewefen ift, als alte oder neue Betrachtungsweifen
ahnen laffen'. Bei der eigentlichen Unterfuchung
fetzt er, wie Kuenen, bei dem 8. Jahrhundert v. Chr. ein,
da hier die Schriften der älteften Schriftpropheten einen
feften Punkt geben. Damals beftand ein heftiger Streit
zwifchen diefen und dem Volke, deffen Jahvedienft jene
fogar für Götzendienft erklärten, aber trotzdem waren
fich beide Theile in formeller Beziehung darin einig,
dafs Jahve Israel's Gott und Israel Jahves Volk fei (S. 9).
Das läfst auf einen gemeinfamen Ausgangspunkt fchliefsen,
und lo fcheint man vor das Entweder-Oder geftellt: entweder
Abfall, sc. der Volksreligion von der urfprünglichen
Höhe, die die Propheten noch vertreten, oder Entwicke-
lung, sc. der alten, vom Volke noch vertretenen Religion
zum ethifchen Jahvismus durch die Propheten (Kuenen).
Etwas zu fchnell ift Kuenen bei der Hand, alle Spuren
von Naturreligion im Jahvedienfte für urfprüngliche Züge
der älteften Religion Israels zu erklären (S. 11 f.) Ueber
die Entftehung des Jahvedienftes in Israel giebt die alt-
teftamentliche Tradition beim Jahviften und Elohiften
(aber nicht die ungefchichtliche des Prieftercodex), auf
ihren hiftorifchen Kern unterfucht, folgendes Bild: von
den auf der Sinaihalbinfel zurückgebliebenen israelitifchen
Stämmen kam Mofe zu den in Gofen lebenden als Befreier
und Verkündiger einer viel einfacheren und reineren
Jahveverehrung, die wohl zunächft bei dem Stamme der
Keniter heimifch gewefen ift (vgl. Ex. 31 ff. 424 ff. 18
und die Ableitung der Rekabiter 1 Chr. 255). Schon vor
Mofe alfo hat fich unter den Vorvätern des israelitifchen
Volkes, zu denen die Keniter in engfter Beziehung ftanden,
eine höhere und reinere Gotteserkenntnifs vorbereitet.
Mofes Bedeutung gefchieht mit Anerkennung diefer That-
fache kein Abbruch; Gott hat fich ihm in höherer Weife
geoffenbart als feinen Vorfahren. Der bezeichnendfte Zug
von Mofes Gotteserkenntnifs ift Jahves ftrenge Gerechtigkeit
und unnahbare Heiligkeit; auf diefen Grundzug der
israelitifchen Religion haben die fpäteren Propheten
immer und immer wieder zurückgegriffen (S. 13—23). —
Nur nach heftigen Kämpfen hat fich die Jahvereligion
bei den israelitifchen Stämmen zur Anerkennung durchgerungen
, — es beftand alfo eine Volksreligion, die die
neue Religion niederkämpfen mufste (vgl. auch Jof.
24uff.). Wenn auch das, was durch Gefetz und Propheten
verboten wird, und das, was das Gefetz als unfehädlich