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Ausgabe:

1900

Spalte:

316-317

Autor/Hrsg.:

Grimm, Eduard

Titel/Untertitel:

Das Problem Friedrich Nietzsches 1900

Rezensent:

Hartung, Bruno

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3'S

Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 10.

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wollte man von der Anzeige eines fo umfangreichen,
dabei fo vielerlei enthaltenden Werkes erwarten, dafs
Seite für Seite vorher mit einander verglichen worden
fei, um den Unterfchied beider Auflagen darzulegen.
Auch find die Ergebnifse keine anderen geworden. Aber
das fieht man leicht, was inzwifchen gefchrieben worden
ift, nicht nur auf dem Gebiete der Apologetik, fondern
auf allen verwandten Gebieten, das hat der Verfaffer
genau verfolgt. Im erften Abfchnitte, ,Gott und die Natur',
gilt es, fich mit den Naturwiffenfchaften auseinander zu
fetzen. Im zweiten Bande, ,Gott und die Offenbarung',
wird die Gefchichts- und Sprachwiffenfchaft, aber auch
die Theologie, fo weit fie die Einleitungsfragen behandelt,
mit grofser Sachkenntnifs berückfichtigt. Hier wird
felbftverftändlich gegenüber der alt- und neuteftament-
lichen Kritik ein durchaus confervativer und traditioneller
Standpunkt feft gehalten. Im dritten Theile, ,Chriftus
und die Kirche', ift der Katholizismus als folcher bis in
feine letzten vom Vaticanum gezogenen Confequenzen
Gegenftand der Apologetik. In den einzelnen Capiteln
wird meift zuletzt auf diefes zurück gegangen. Es muthet
einen eigenthümlich an, wie Sätze, in der Curialfprache
diefer Kirchenverfammlung ausgefprochen, über moderne
Fragen entfcheiden follen.

Eigenthümlich ift es überhaupt, wie ein apologe-
tifches Werk von folchem Umfange die zweite Auflage
fo bald hat erleben, in dasEnglifche ebenfalls in mehreren
Auflagen, zum Theil auch in das Franzöfifche hat überfetzt
werden können. Und dabei ift es nur eine von
den katholifchen Apologetiken der Gegenwart. Wenn
auf proteftantifchem Gebiet ähnliches erlebt worden ift,
fo ift es bei kurzen, geiftvoll gefchriebenen Vorträgen ge-
wefen. Aber kein Proteftant, der fleh fo eingehend, wie
es hier verlangt wird, mit wiffenfehaftlichen Fragen der
Natur- und Völkerkunde befchäftigt, wird fich einen theo-
logifchen Schriftfteller als Führer ausfuchen. Und wenn
ein proteftantifcher Theologe die Kühnheit hätte, fo über
alle möglichen Wiffenfchaften zu berichten und wie als
ebenbürtig fich mit ihnen auseinander zu fetzen, er dürfte
nicht hoffen, fo viele Lefer zu finden. Es lebt in den
katholifchen Theologen etwas von jenem Anfpruch der
Scholaftik, eine Gefammtheit des Wiffens unter dem
kirchlich-katholifchen Gefichtspunkt in fich zu vereinigen.
Das mag auf viele Kreife nicht ohne Wirkung fein. Das
mag Manchen mit Bewunderung erfüllen, wie die Kirche
noch immer die Beherrfcherin der Geifter fei. Auch
wir haben kein Recht, uns von den Stimmen aus gegne-
rifchem Lager mit Wiffenfchaftlichkeit und wer weifs,
was fonft, imponiren zu laffen und haben die Pflicht,
zu bezeugen, dafs unfer Glauben auf gutem Grunde ruht.
Aber wir haben zu viel Refpect vor der Wiffenfchaft als
folcher, als dafs wir nun über ihre Fragen mitzureden
wagten, als ob wir auf unferem allereigenften Gebiete wären.

Dafs die katholifche Apologetik fich nicht begnügt,
allgemein religiöfe oder chriftliche Wahrheiten und That-
fachen zu vertheidigen, fondern dafs fie ihren Standpunkt
im Mittelpunkt des römifchen Lehrfyftems hat und auch
die einzelnen Stücke diefes Syftems, auch Unfehlbarkeit,
Mönchswefen vor Vernunft und Wiffenfchaft zu rechtfertigen
bemüht ift, darauf ift fchon wiederholt hin-
gewiefen worden. Aber es darf auch bezeugt werden,
dafs der Ton der vielfachen Polemik gegen den Prote-
ftantismus anftändig ift. Es ift hier noch ein anderer
Geift, als er fonft in der gegenwärtigen römifchen Theologie
die Herrfchaft führt, der Geift jener deutfehen
katholifchen Theologie, wie wir fie vor einem Menfchen-
alter noch wohl kannten, die fich des mit uns Gemeinfamen
wohl bewufst war. Und von diefem Bewufstfein
legt auch der Verfaffer in der Vorrede und fonft offen
Zeugnifs ab.

Leipzig. Härtung.

Lindsay, James B. D. B. Sc, Essays litterary and philo-
SOphical. Edinburgh, W. Blackwood and Sons, 1899.
(gr- 8.)

James Lindfay ift uns als einer der geiftvollften eng-
lifchen Theologen bekannt. Seine umfaffende Schrift
über die neuefte Entwickelung des Theismus, feine treffliche
Abhandlung über die altteft. Probleme der Gegenwart
find hier angezeigt worden. Diefes Buch enthält
vier Effays: The mind of Dante, the pkilosophy of Faust,
the pkilosophy of Tennyson, Emerson as a Thinker.
Diefe Zufammenftellung zeigt, in welchem Sinne diefe
Gegenftände behandelt find. Wie fie die grofse Lebensfrage
des Menfchen, auf die das Chriftenthum antwortet,
gefafst und gelöft haben, das ift bei ihrer Betrachtung
entfeheidend. Der Verf. ftimmt am völligften mit Dante
überein, deffen völlig chriftliche Weltanfchauung er theilt.
Die Läuterung des menfehlichen Willens, das fei die Ge-
fchichte, die von der Hölle aus durch das Fegefeuer
hindurch zum Paradiefe hinauf fich vollziehe. Goethe's
Fauft flehe in der Würdigung des Böfen hinter Dante
zurück, des objectiven Böfen, fo fern es nur der Knecht ift,
der das Gute fchafft, und feiner fubjectiven Ueberwindung,
fofern die Tiefe der Bufse nicht erkannt ift. Aber mit
Recht wird die Bedeutung des zweiten-Theiles von Fauft,
ohne den das Ganze des pofitiven Abfchlufses entbehrte,
hervorgehoben. Tennyfon, der Naturdichter, ftellt hinter
die Natur und über fie die Liebe als die Macht des
Alls, Emerfon ,der Stoiker der neuen Welt', wird durch
die Gefetze in der Natur und im Univerfum zu Gott
emporgeführt. Hat er auch den Pantheismus noch nicht
ganz überwunden, fo ift doch auch fein Gottesbegriff
ethifch und perfönlich. Ich bekenne, dafs ich die Angaben
über die letzten beiden Denker nicht genügend
beurtheilen kann, aber die feinfinnigen und fachverftän-
digen Bemerkungen über Dante und Fauft geben die Gewähr
, dafs man auch den intereffanten Ausführungen
über diefes Gebiet des neueren englifchen Geifteslebens
zuftimmend folgen darf.

Leipzig. Härtung.

Grimm, Eduard, Das Problem Friedrich Nietzsches. Berlin,
C. A. Schwetfchke & Sohn, 1899. (III, 264 S. 8.)

M. 4.—; geb. M. 5.—-

Immer mehr wird über Nietzfche gefchrieben. Der
Schriftfteller N. fleht in feinen Werken als eine abge-
fchloffene Perfönlichkeit vor uns. Die Perfönlichkeit
felbft wird zum Problem. Den Genitiv Nietzfches in vorliegendem
Titel kann man ebenfo als Gen. subj. wie als
Gen- appos. faffen. Gerade die vorliegende Schrift, die
auf eingehender Kenntnifs der Literatur beruht, rückt
dem Problem näher auf den Leib, als die meiften fonft.
Die gröfsere Hälfte zeigt uns feine Entwickelung vom
,Geniekultus' feiner frühen Jugend bis zu dem ,Verfall als
Problem und dem eigenen Verfall'. Der zweite Theil
hebt einzelne Fragen heraus, Nietzfche als Denker und
fein Verhältnifs zu Religion, Moral, Vaterland u. f. w.
Es ift wahr, wer feine Schriften unterfchiedslos lieft, dem
wird von alledem ganz dumm, denn eine widerfpricht
der anderen. Der Faden aber, der fich durch alle hindurchzieht
, ift nicht ein pofitiver, fondern mehr ein negativer
Gedanke, der Widerspruch zu allem, an das er
fich nach und nach anklammerte, zu den Richtungen wie
den Perfönlichkeiten. Hinter diefem Negativen fleht aber
doch ein Pofitives, ein unverwüftlicher Idealismus, ein
unaustilgbares Streben, das höchfte Problem, das es giebt,
das der menfehlichen Perfönlichkeit und ihres Werdens,
zu ergründen. So ringen alle die Mächte, die oft in
widerspruchsvollem Treiben unfere Zeit bewegen, um
ihn und ziehen ihn in die Tiefe, während er fich an fie,
| an eine nach der anderen, anzuklammern fucht. ,Sein