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Ausgabe:

1900 Nr. 10

Spalte:

293-296

Autor/Hrsg.:

Wetzel, G.

Titel/Untertitel:

Die Echtheit und Glaubwürdigkeit des Evangeliums Johannis aufs neue untersucht und verteidigt 1900

Rezensent:

Baldensperger, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 10.

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Die Differtation, aus der Schule Valeton's hervorgegangen
, ift forgfältig gearbeitet und zeichnet fich aus
durch ruhig und vorfichtig abwägendes Urtheil. Sie
bietet mehr ein gut orientirtes und orientirendes Refume'
als eine Unterfuchung. Die letztere Form hätte fich
für eine Leiftung, die den Beginn des felbfländigen wiffen-
fchaftlichen Arbeitens bezeichnet, mehr empfohlen; der
Verf. hätte fich dann auf einen Ausfchnitt aus den mancherlei
Fragen, welche die Schrift Habakuk veranlafst,
befchränken können. Bei intenfiverem Eindringen in das
Detail würde er vielleicht über die Compofition der kleinen
Schrift hier und da zu anderer Beurtheilung gelangt fein.

Marburg i. H. Wolf Baudiffin.

Wetzel, Ffr. a. D. Dr. G., Die Echtheit und Glaubwürdig
keit des Evangeliums Johannis aufs neue untersucht und
verteidigt. Erfter Theil: Die Echtheit. (IV, 186 S.
gr. 8.) Leipzig, H. G. Wallmann, 1899. M. 3.—

Eine eifrige und eifernde Apologie der herkömmlichen
Anfchauung, dafs das vierte Evangelium den Lieblingsjünger
Jefu, den Zebedaiden Johannes zum Verfaffer
habe. Der etwas temperamentvolle Verfaffer geht in
feinem Eifer fo weit, dafs er der kritifchen Theologie
nicht nur ihr ,unberechtigtes Verfahren', ihre .blinde Voreingenommenheit
' vorhält, fondern auch ihre Gründe direct
in's Gebiet des .Abfurden' verweift und ihr .Verleumdung'
und andere Amoenitäten der Art nachfagt. Da nun aber
die apologetifchen Argumente des Verf. felber doch nicht
immer von verblüffender Beweiskraft find oder fo ganz
kryftallhell erfcheinen, fo wäre es vielleicht fchon eine
Forderung der Politik gewefen, den anderen Forfchern
gegenüber etwas gelindere Saiten aufzuziehen. Oder
käme die leidenfchaftliche Erregung daher, dafs das
Studium der kritifchen Literatur bei dem Verf. doch einen
Stachel zurückgelaffen und er fich durch verstärktes
Pathos darüber hinwegzutäufchen fucht? Denn zweifellos
hat fich W. im Unterfchiede von anderen Apologeten,
welche fich das Gefchäft zu erleichtern wiffen, die Arbeit
der Kritik angefehen, wie er auch am Eingange eine
längere Lifte der benützten Werke vorführt. In dem
erlten Theile der Unterfuchung, welcher die inneren, aus
dem Evangelium felbft fich ergebenden Merkmale in Betracht
zieht, ift der längfte Abfchnitt der Widerlegung
der von der Kritik gegen die joh.Abfaffung des Evangeliums
geltend gemachten Gründe gewidmet. Es werden der Reihe
nach befprochen die vermeintlichen geographifchen undge-
fchichtlichen Irrthümer des Evangelisten, die Spuren von
Alexandrinismus und Antijudaismus, welche die Abfaffung
durch den Zebedaiden Johannes ausfchliefsen würden, der
Widerfpruch, den man zwifchen dem vierten Evangelium
und der Offenbarung vorfindet, die zahlreichen Stellen, in
denen man gröfsere und geringere Abhängigkeit des
4. Evangelisten von den Synoptikern und Paulus wahrgenommen
hat, die Wiederfpiegelung fpäterer Zeitver-
hältnifse und die angebliche Rivalität zwifchen Petrus und
Johannes in feiner Darfteilung, und man mufs es dem
Verf. laffen, dafs er fich redlich bemüht, den Gegner
aus feinen einzelnen Pofitionen zu verdrängen trotz des
geringen Refpectes, den er für deffen ganze Kriegskunst
an den Tag legt.

Es gefchieht auch nicht fo gar feiten, dafs er die
Schläge der Kritik mit Gefchick und gutem Erfolg abwehrt
. Am glücklichften fcheint er uns in der Be-
fprechung der Abhängigkeitsverhältnifse zu fein. Beachtung
verdient vor allem der Abfchnitt über das
Verhältnifs zwifchen Paulus und Johannes, infofern er
hier auch ein unabhängiges Zufammentreffen der beiden
Schriftsteller in Gedanken und in Ausdrücken nicht nur
wegen der Gleichartigkeit der menfchlichen Erfahrungen
überhaupt ftatuirt, fondern weil fie eben beide Christen
waren und in gemeinfamer Abhängigkeit von Leben und

Lehre Jefu ftanden. Es fehlt nur, dafs der Verf. hier noch
insbefondere die Einwirkung des christlichen Unterrichts
und Gottesdienstes und den gemeinfamen alten Schatz
des fynagogalen Judenthums an religiöfen Bildern und
Vorstellungen in Anfchlag gebracht hätte. Wenn er des
Weiteren mit Recht eine allgemeinere Bezugnahme des
Evangelisten auf die Synoptiker zuläfst, fo deckt er hingegen
das Willkürliche in der Annahme fo mancher fpeci-
eller literarifcher Anlehnungen und Verwandtfchaften auf.
Doch mit der Abweifung des Gegners ift hier erft die
Hälfte der Arbeit gethan. So lange es dem Verf. nicht
gelingt, die Motive aufzuweiten, weshalb der Evangelist nur
gewiffe Perikopen aus den Synoptikern herübernimmt
und die Zwecke, die er damit verfolgt, klar zu machen,
bleiben die Gegner fogar im Vortheile. Denn was W.
an die Stelle der Hypothefe von der literarifchen Abhängigkeit
fetzen zu dürfen glaubt, z. B. die Annahme,
dafs in Joh. 6.68f, von einem anderen Petrusbekenntnifs
die Rede fei als in Mt. 16.16, oder dafs die Erzählung vom
Königifchen Joh. 4.46f, von dem fynoptifchen Hauptmann
(Mt. 8), die Tempelreinigung bei Johannes von der fynoptifchen
, etc. zu unterfcheiden feien, das find doch fo gewagte
Behauptungen, dafs fich ein tiefer blickender Forfcher
kaum damit befreunden kann. Wie wenig Sicheres auch
auf diefem Wege der blofsen Textvergleichung erreicht
werden kann, zeigt das fchwankende Urtheil von W. felbft
Wird zuerst der Unterfchied der beiden Darftellungen
von der Tempelreinigung nachgewiefen, fo heifst es einige
Seiten fpäter (p. 96), dafs beide doch ,fo verwandt, feien,
dafs eine Einwirkung des einen Berichtes auf den anderen
als möglich betrachtet werden mufs, auch wenn fie nicht
ficher bewiefen werden könne. Uebrigens fpielt die vorwiegend
literarifche Betrachtungsweife auch noch in
anderen Theilen des joh. Problems eine nicht hinreichend
gerechtfertigte Rolle. So wenn es fich um den Alexandrinismus
des Verf. und fpeciell um die ihm eigentümliche
Logoslehre handelt. Die hier beliebte Fragestellung,
ob das A. T. oder Philo mafsgebend feien, ift in diefer
Form fchief und irreführend. Sie wird aber auch von der
confervativen Richtung, der die theologifchen Probleme
nach traditioneller Auffaffung in erfter Linie Schriftprobleme
find, zu ihrem Nachtheil mitgemacht (cf. p. 48).
Es wird aber hier die literaifche Detailarbeit aufgehen
müffen in die umfaffendere hiftorifche Betrachtung des
von fremden, auch hellenifchen Elementen längst durchtränkten
Meffianismus des Spätjudenthums, mit dem auch
der vierte Evangelist nicht unbekannt ift.

Es dürfte überhaupt ein Fehlgriff in der Methode
fein, dafs der Verf. feine Veröffentlichungen über Johannes
mit der Unterfuchung der Echtheit begonnen hat, wo
rauf fpäter, wenn die Aufnahme des erften Theiles es recht
fertige, eine Unterfuchung über die Glaubwürdig
keit nachfolgen foll. Der Verf. erkennt felbft, dafs die
beiden Fragen fich bedingen, und es fällt ihm bisweilen
fchwer zu bestimmen, ob ein Punkt in dem erften oder
in dem zweiten Theile befprochen werden foll (cf. p. 41).
Angenommen, die joh. Frage müfste direct von diefer
Seite der Echtheit feines Inhaltes und feines Verfaffers
in Angriff genommen werden, fo wäre es das methodifch
correctere von der allgemeineren Frage nach der Hifto-
ricität der Berichte auszugehen, um daran die Verfaffer-
frage anzufchliefsen. Zuletzt wird aber die zu keinem
Abfchlufs gelangende Erörterung der beiden Punkte
zeigen, dafs mit keinem der beiden der Anfang zu machen
ift, dafs vielmehr zuvor eine übergeordnete Frage, nämlich
diejenige nach dem Zweck, den der unbekannte
Verf. mit feiner Evangelienfchrift verfolgt, nach den
Motiven, aus welchen er zur Feder greift, erledigt werden
mufs. Von der Löfung diefer Vorfrage wird auch ein
Lichtstrahl auf den von dem Evangelisten verwendeten Stoff
und die Art feiner Verwendung, desgleichen auf die Ent-
ftehungszeit des Evangeliums und alfo auch auf den
I möglichen Verfaffer zurückfallen. Sollte fich z. B. aus

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