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Ausgabe:

1900 Nr. 6

Spalte:

184-185

Autor/Hrsg.:

Laemmer, Hugo

Titel/Untertitel:

Zur Codification des kanonischen Rechts 1900

Rezensent:

Rieker, Karl

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183 Theologifche Literaturzeitung. 1900. Nr. 6. 184

ift dem Verf. Llentifch mit der früher fo genannten ,natürlichen
Theologie', d. h. demjenigen ,Zweig der Philo-
fophie, der fich mit dem Gottesproblem befchäftigt'. Der
von Leibniz geprägte Begriff der Theodicee als der
Rechtfertigung Gottes wegen des Uebels in der Welt,
die prägnante Faffung eines Hauptproblems der Reli-
gionsphilofophie, ift hier dem Wortfinne entgegen in un-
zweckmäfsiger Weife erweitert.

Den Hauptinhalt des Buches bildet eine Darftellung
der antiken Philofophie in ihren Grundzügen und unter
folgenden Capitelüberfchriften: I. Die erften, vielfältigen
Anfätze der Philofophie zu einer wiffenfchaftlichen Behandlung
des Gottesproblems, von Thaies bis zum Auftreten
des Sokrates. II. Das Gottesproblem unter dem
Gefichtspunkt der teleologifchen Weltanfchauung in der
Blütheperiode der griechifchen Philofophie. III. Der Materialismus
in der Zeit des Niedergangs der antiken
Philofophie. IV. Die antike Theofop'iie. Neben einer
ausführlichen und gründlichen Darftellung des Ariftoteles
und der ariftotelifchen Theologie bei Thomas von Aquino
findet fich manches, was in jedem Grundrifs der Gefchichte
der Philofophie zu lefen ift. Man vergleiche z. B. die
Charakteriftik der Cyrenaiker (S. 49): ,Erwähnens wert ift
noch die Schule, die von Ariftippus von Cyrene, der
ebenfalls ein Schüler des Sokrates war, geftiftet wurde.
Auch in diefer Schule herrfchte, wie in der vorigen, die
Ethik vor. Doch fand fie die Glückfeligkeit des Men-
fchen nicht in der Ausübung der Tugend, fondern in
der Luft (Hedonismus)'. Man hat mehrfach den Eindruck
, dafs der Verf. den eigentlichen Zweck feines
Buches aus dem Auge verliert, um eine populäre Darftellung
der griechifchen Philofophie überhaupt zu liefern.

Aber auch abgefehen davon läfst fich angefichts des
Zweckes, den die Arbeit verfolgt, das faft ausfchliefsliche
Hervortreten der antiken Philofophie kaum rechtfertigen.
Es ift keine Darfteilung des .Gottesproblems in feinen
wichtigften Auffaffungen', wenn dreiviertel des Buches
die Griechen, ein Viertel von Neueren nur die englifchen
Empiriften, Cartefius (mit guter Kritik des ontologifchen
Beweifes S. 91 ff.), Kant und Avenarius behandeln. Der
Verf. beruft fich zwar darauf, dafs gerade in der antiken
Philofophie durch Ariftoteles die Fundamente derjenigen
Erkenntnifstheorie begründet worden feien, durch die
allein die ,Theodicee' als Wiffenfchaft möglich fei,
nämlich des Intellectualismus. Er verfteht darunter
eine Anfchauung, die zwifchen dem Empirismus, fei er
Senfualismus, fei er Pfychologismus einerfeits, und dem
Rationalismus in feinen verfchiedenen Formen andrerfeits
die Mitte hält, alle unfere Begriffe in letzter Linie aus
der Erfahrung ableitet, dabei aber Vernunftprincipien
annimmt, die von objectiver und abfoluter Gewifsheit
find und ihre Wahrheit unmittelbar durch fich felbft bezeugen
(S. 84. 88). Dies fei die einzige Erkenntnifstheorie,
deren Principien es ermöglichen, ,dafs die Gottesüberzeugung
nicht lediglich das Poftulat eines fubjectiven
Glaubensgefühles, fondern rechtmäfsiger Gegenftand objektiven
Wiffens ift' (S. 84). Er fieht in Thomas den
claffifchen Vertreter diefer Anfchauung, tritt aber der
Meinung entgegen , als ob jedes Abweichen der ,Theodicee
' von der Thomiftifchen Lehre bereits ein Preisgeben
ihrer eigenen Sache fei. Es gelte vielmehr diefelbe nach
Möglichkeit von der Stütze befonderer Schulanfichten frei
zu machen und fie auf einen allgemeineren Boden zu
ftellen. Man dürfe die ariftotelifchen Begriffe, die zu
einem guten Theil immer noch unentbehrlich feien, nicht
mehr als gegeben hinnehmen, oder durch eine blofse
Berufung auf Ariftoteles begründen wollen, fondern man
müffe auf die äufseren und inneren Erfahrungs-
thatfachen zurückgehen, um dort die Waffen zur
Vertheidigung diefer Begriffe zu holen. Das fchliefsliche
Ergebnifs werde dann fein: Die alten Wahrheiten er-
fcheinen wieder, aber im neuen Gewände (S. 264f.).
Würde der Verf. mit diefem Verfahren Ernft machen

I und etwa auch dem Geifte Kant's einen gröfseren Ein-
flufs auf fein Denken zugeftehen, fo ftände er bald vor
der Alternative, entweder die fcholaftifche Methode der
Gottesbeweife oder die vorurtheilslofe Unterfuchung der
Thatfachen, zu welchen auch jenes ,fubjektive Glaubensgefühl
' gehört, fallen zu laffen.

Von unrichtigen oder fchiefen Einzelheiten feien erwähnt
: Spinoza's Subftanzlehre wird durch die Folgerung
ad absurdum geführt, die vielen Menfchen, die als Sub-
ftanz nicht verfchieden feien, feien nur Ein Menfch (S. 27).
Der von Avenarius begründete Empiriokriticismus, der
merkwürdigerweife von neueren Anfchauungen faft allein
berückfichtigt wird, darf doch nicht einfach als Fort-
fetzung des Büchner-Vogt'fchen Materialismus dargeftellt
werden. Seine Fligenthümlichkeit, die ,reine Erfahrung',
welche von dem .Vorgefundenen' ohne Scheidung des
Phyfifchen und Pfychifchen ausgeht, und die Lehre von
der Jntrojection' kommt dabei nicht zur Geltung (S. 271 ff).
H. Siebeck in Giefsen mufs S. 198 als ,Theologieprofeffor'
Zeugnifs für die moderne Descendenzlehre ablegen.

Alles in allem hat der Verf. viel Fleifs auf die Durchführung
veralteter Methoden verwendet, ohne die Berechtigung
derfelben durch Auseinanderfetzung mit der
neueren Wiffenfchaft irgendwie wahrfcheinlich zu machen.

Riedlingen a/D. Th. Pllfenhans.

Laemmer, Präl., Protonot., Consult., Prof. Dr. Hugo, Zur
Codification des canonischen Rechts. Denkfchrift. Freiburg
i. B., Herder, 1899. (V, 223 S. gr. 8.) M. 5. —

Das vorliegende Buch giebt eine hiftorifche Ueber-
ficht über die verfchiedenen Verfuche der Herftellung
eines Liber septimus, d. h. einer Sammlung der extravaganten
Decretalen und Concilsfchlüffe feit dem Ab-
fchluffe des Corpus juris canonici. Der ältefte derartige
Verfuch, wenn man von den beiden Extravagantenfamm-
lungen abfieht, ift der Liber Scptimus Decretalium des
Pierre Mathieu von 1590, eine Privatarbeit, die ein Supplement
zu den officiellen Decretalenfammlungen des
C. j. c. fein follte und den neuen Stoff nach dem bekannten
von Bernhard von Pavia erfundenen Schema in
fünf Bücher vertheilt. Faft gleichzeitig wurde im Zu-
fammenhange mit der Revifion des Textes des C. j. c.
durch die Correctores romani im Auftrage Gregor's XIII.
und Sixtus' V. von einer Commiflion, deren Vorfitzender
zuletzt der Cardinal Pinelli war, ein Codificationsentwurf
ausgearbeitet, der, weil unter Clemens VIII. 1598 vollendet
, den Titel erhielt: Sanctissimi Domini Nostri D.
Clementis Papae VIII. Decretales, und ebenfalls in die
bekannten fünf Bücher eingetheilt ift. Allein die päpft-
liche Approbation erhielt diefes Werk nicht, theils wegen
der ihm anhaftenden formellen Mängel, theils auch aus
politifchen Gründen. In der Folgezeit hat zwar Benedikt
XIV. eine authentifche Decretalenfammlung veran-
ftaltet, aber fie enthält lediglich feine eigenen Decretalen,
ift alfo kein Liber Scptimus. In feiner 1870 erfchienenen
Ausgabe des Liber Scptimus Decretalium Clementis VIII.
hat Sentis den Verfuch gemacht, durch 270 Zufätze und
Einfchaltungen im Rahmen des Pinelli'fchen Werkes einen
Ueberblick über die päpftliche Gefetzgebung bis zum
Jahre 1870 zu geben, wobei auch die Entfcheidungen der
römifchen Curialbehörden und Congregationen Berück-
fichtigung gefunden haben. Noch wichtiger ift aber, dafs
die Frage eines Liber Septimus auch das vatikanifche
Concil befchäftigt hat. Schon im Jahre 1864 hatten
mehrere Cardinäle in Concilsgutachten fich dahin aus-
gefprochen, dafs die im Tridentinum enthaltenen kirchlichen
Disciplinargefetze zum Theil den Bedürfnifsen
unferer Zeit nicht mehr entfprechen und dafs daher das
' künftige Concil auch über die Anpaffung der Disciplin
an die Gegenwart zu verhandeln habe. Ein Jahr fpäter
gaben mehrere Bifchöfe dem Verlangen nach einer Samm-