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Ausgabe:

1899 Nr. 6

Spalte:

167-170

Autor/Hrsg.:

Friedländer, M.

Titel/Untertitel:

Der vorchristliche jüdische Gnosticismus 1899

Rezensent:

Schürer, Emil

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Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 6.

168

Friedländer, M., Der vorchristliche jüdische Gnosticismus.

Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1898. (X, 123 S.
gr. 8.) M. 3.-

Zwei Thefen find es, welche der Verfaffer diefer
Studie mit ebenfo reichem gelehrtem Material als lebhafter
Combinationsgabe zu erweifen fucht: 1) Es hat
fchon in vorchriftlicher Zeit unter den Juden der Diafpora
eine aus dem Hellenismus hervorgegangene radical-anti-
nomiftifche ,gnoftifche' Richtung gegeben, 2) diefe jüdi-
fchen Gnoftiker find überall gemeint, wo in der rabbi-
nifchen Literatur von Minim die Rede ift. Der Verf. iß
von der Richtigkeit feiner Erkenntnifse fo felfenfeft überzeugt
und trägt fie mit folcher Siegeszuverficht vor, dafs
er ein ablehnendes Votum des Recenfenten vermuthlich
nur als Beweis unheilbarer Blindheit betrachten wird.
Um diefem Verdict nicht ganz zu verfallen, will ich gerne
anerkennen, dafs beide Thefen ein Wahrheitsmoment
enthalten.

1) Die Anficht, dafs es unter den Juden der Diafpora
eine ,confervative- und eine ,radicale' Richtung gegeben
habe, die fich dann in der chriftlichen Gemeinde (als ge-
fetzliche und gefetzesfreie) fortgepflanzt habe, hat Friedländer
fchon in einer früheren Arbeit vorgetragen (Das
Judenthum in der vorchriftlichen griechifchen Welt, 1897).
In der Befprechung derfelben (Theol. Litztg. 1897, 326)
habe ich die Exiftenz einer folchen ,radicalen', die Verbindlichkeit
des Gefetzes völlig ablehnenden Richtung im
helleniftifchen Judenthum beftritten, da auch die Freieften
gewiffe elementare Punkte ftets feilgehalten hätten. Friedländer
hält mir nun als entfcheidenden Gegenbeweis
namentlich die Stelle aus Philo, De migratione Abrahatni
§ 16 (ed. Mangey I, 450) entgegen, wo Philo fleh tadelnd
darüber äufsert, dafs Manche, indem fie den Wortlaut
der Gefetze als fymbolifchen Ausdruck überfinnlichtr
Wahrheiten auffaffen, zwar diefe genau erforfchten aber
jenen gering fchätzten (tldi ydg xiveq dl zovq grjzovq
vofiovq OvußoXa vorjzmv jtqayuäxcov vstokafißävovzEq za
u"ev äyctv rjxgißcoöav, zcöv 6h gqd-vficoq cokiycognocw).
Wortlaut und höherer Sinn verhielten fleh wie Leib und
Seele. Wie man nun für den Leib als Behaufung der j
Seele forgen müffe, fo habe man auch den Wortlaut der
Gefetze forgfältig zu beachten (ovzco xcä zmv grjzmv
vöucov sjtifisXrjztov $ 16 fin. ed. Wendland § 93). Die
Stelle, die mir wohl bekannt war, verdient in der That
mehr Beachtung, als fie bisher gefunden hat, und ich 1
erkenne es gerne als ein Verdient! des Verf. an, auf fie !
mit Nachdruck hingewiefen zu haben. Man kann hiernach
nicht bezweifeln, dafs es griechifch gebildete Juden
gegeben hat, welche auf Grund der allegorifchen Aus- I
legung der Gefetze ihren Wortfinn Reichten Muthes gering
achteten' (gq&vumq müiycogrjciav). Und diefe Thatfache |
wird nicht ohne Bedeutung für den Sieg des gefetzes-
freien Chriftenthums gewefen fein. Aber Friedländer
fchlägt aus der Stelle doch viel zu viel Capital. Nach
allem was wir wiffen, ift man im Schoofs der jüdifchen
Gemeinden niemals von jener Stimmung des oliymgElv
zur thatfächlichen Nichtbeachtung der Gefetze fortge-
fchritten. Gewiffe Hauptpunkte find immer beobachtet
worden. Alle helleniftifchen Gemeinden haben den j
Sabbath und andere elementare Cultusgefetze ftets be- '
obachtet, mochten fie gegenüber der Laxheit Einzelner j
noch fo duldfam fein. Man kann alfo meines Erachtens
aus der Stelle nicht fchliefsen, dafs es weite Kreife ge
geben hat, welche die Beobachtung des Gefetzes in 1
radicaler Weife verworfen und thatfächlich aufgegeben j
haben. Was der Verf. zum Erweis feiner Thefe fonft |
noch beibringt, fcheint mir von noch geringerer Bedeutung
. Wichtig find ihm namentlich noch manche Ausführungen
in Philo's Tractat De posteritate Caini (Mangey I,
226—261 = Cohn-Wendland II, I—41). Aber in den
Stellen, auf welche Fr. fich beruft, wird Kain einfach als
Symbol der Gottlofigkeit und jeder Art von Lafterhaftig- I

keit gefchildert. Wie kann man in folchen Tiraden ,eine
philofophirende Sekte' gezeichnet finden? (S. 22). Auf
die Exiftenz einer folchen weift fchlechterdings nichts in
den betreffenden Ausführungen Philo's. Fr. findet aber
in den .Kainiten' Philo's die Vorgänger der chriftlichen
Ophiten, Kainiten, Sethoiten und Melchifedekianer und
gewinnt durch diefe Combination das Material zu einer
fehr farbenreichen Schilderung feiner antinomiftifchen
jüdifchen Gnoftiker, deren Exiftenz dem nüchternen Beobachter
fehr fragwürdig bleibt. Es foll zwar nicht beftritten
werden, dafs die Anfätze zu einer jüdifchen
,Gnofis' (Myftik, Kabbala) in die vorchriftliche Zeit hinaufreichen
. Ihre Geftalt ift aber für uns fo fchwankend,
dafs wir fie nicht greifen und mit einiger Sicherheit
zeichnen können. Infonderheit ift die Combination diefer
Richtung mit der angeblich ,antinomiftifchen' ohne An-
I halt in den Quellen. Denn die von Philo getadelten
Allegoriften, welche den Wortfinn des Gefetzes gering
I achten, find aller Wahrfcheinlichkeit nach nicht Myftiker,
fondern Aufklärer.

2) Wenn die jüdifchen antinomiftifchen Gnoftiker in
der beftimmten Form, wie der Verf. fie zeichnet, nicht
exiftirt haben, fo fällt damit auch die andere Thefe, dafs
die rabbinifchen Quellen, wenn fie von Minim fprechen,
eben jene im Auge haben (S. 64 fr.). Bei chriftlichen Theologen
ift bekanntlich die Meinung herrfchend, dafs damit
immer die Judenchriften gemeint feien; und auch die
neueren jüdifchen Gelehrten haben diefe Meinung fich
angeeignet. Der Urheber derfelben ift (was Fr. nicht
erwähnt) Hieronymus, der von einer jüdifchen haeresis
Minaeorum fpricht, quos vulgo Nazaraeos nuneupant,
qui credunt in Christum filium dti, na tum de virgine
Maria etc. [epist. 112 ad Augustinum c. 73. opp. ed. Vallarsi
I, 746). Ich freue mich, dafs diefe Identificirung von
Minim und Judenfchriften, die ich ftets für falfch gehalten
habe, von Fr. mit grofser Entfchiedenheit bekämpft wird.
Aber er bekämpft fie nur, um an deren Stelle die ebenfo
falfche Anficht zu fetzen: dafs damit immer ,antino-
miftifche Gnoftiker' gemeint feien. (S. 74 wird freilich
Min durch Ketzer überhaupt erklärt; factifch werden
aber dann doch nur antinomiftifche Gnoftiker darunter
verftanden, f. bef. S. 100). Das reiche Material über
die D^tt, das Fr. in dankenswerther Fülle beibringt, be-
ftätigt m. E. diefe Anficht in keiner Weife. Die Minim
find die Ungläubigen überhaupt, auch die Gottesleugner,
daher gleichbedeutend mit Epikurosim (wie ja dem Verf.
nach dem Vorwort S. IX die von ihm befragten Rabbinen
in Galizien erklärt haben, ein Min fei ein Apikores). An
allen Quellenftellen pafst diefe Erklärung. Ich verweife
nur auf Mifchna Sanhedrin IV, 5 (die Minim fagen, es
giebt viele Gewalten, rvTHD^, im Himmel) und Berachoth
IX, 5 (die Minim fagen, es giebt nur eine Welt — ftatt
der richtigen Lesart Minim haben manche Ausgaben an
beiden Stellen Epikurosim, was auf Befehl der chriftlichen
Cenfur eingefetzt ift). Min kann alfo ein Polytheift fein
(denn die Meinung Einiger, dafs Sanhedrin IV, 5 fich
gegen die chriftliche Trinitätslehre wende, ift ein feltfamer
Einfall) oder einer, der das künftige Leben läugnet. Es
kann aber auch ein Ungläubiger harmloferer Art fein. Daher
fallen auch die Judenchriften unter diefe Kategorie. Der
Begriff ift eben fehr allgemein, wie gerade das mannigfaltige
von Fr. zufammengeftellte Material beweift. Ich
möchte zur Ergänzung noch auf die fleifsige Arbeit von
Heinr. Kraus verweifen (Begriff und Form der Härefie
nach Talmud und Midrafch, Bern, philof. Differtation,
1896), welche fich gröfstentheils (S. 7—46) mit den Minim
befchäftigt. Zur näheren Beftimmung des Begriffes ift
aber neben dem rabbinifchen auch der chriftlich-ara-
mäifche Sprachgebrauch heranzuziehen. In dem zu-
erft von Miniscalchi Erizzo und dann von Lagarde
[Bibiiotheca Syriaca 1892) herausgegebenen Evangelifta-
rium fleht min, minin, minajja, bene minajja als Ueber
fetzung von Id-voq, EtJvr/, UrPtXol Matth. 4, 15. 5, 47. 6", 7-