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Ausgabe:

1899 Nr. 3

Spalte:

74-75

Autor/Hrsg.:

Dobschütz, Ernst

Titel/Untertitel:

Zwei Bibelhandschriften mit doppelter Schriftart 1899

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Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 3.

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Sonft flehen fie im Alten Teftamente neben einander.
Erft das Neue Teftament vollzieht die Synthefe. Es geblattet
nicht, von Gnade zu reden und dabei Jefu nicht
zu gedenken (S. 203).

7. Boehmer, Die Heilspredigt des Propheten
Jefaja nach ihren Grundgedanken (S. 219 — 279),
befpricht die jefajanifchen Reden in chronologifcher
Reihenfolge und unterfcheidet dabei fünf Gruppen.
Deberall wird gezeigt, wie es beftimmte Zeitverhältnifse
waren, welche den Propheten zu feinen Predigten ver-
anlafst haben, und wie der Inhalt diefer durch jene bedingt
ift. Da aller gelehrte Apparat vermieden ift, dürfte
der Auffatz befonders geeignet fein, weiteren Kreifen ein
Bild von der prophetifchen Wirkfamkeit des Jefajas zu
geben. TJeber die Echtheit einzelner Reden, welche der
Verf. als jefajanifch verwerthet, wird man wohl mit ihm
breiten können. Im Grofsen und Ganzen aber läfst er
billfchweigend diejenigen Stücke bei Seite, welche von
der neueren Kritik als nicht-jefajanifch angefehen werden.

8. Hadorn, Der Zweck der Apoftelgefchichte
(S. 281—320). Hier weht wieder ein anderer Geifl als
in der vorigen Abhandlung. Nach dem Verf. ib der
Grundgedanke der Apoftelgefchichte: Jefus leitet
felbfl die Gefchichte. Er lebt und wirkt, die Zeugen
handeln in feinem Namen, fein Geifl ift der Beweis der
Kraft feines Lebens. Dadurch foll Theophilus Gewifs-
heit von dem Leben und Wirken des Chriflus erhalten'
(S. 292). Ob mit diefem Gedanken für das Verftändnifs
Qer Apoftelgefchichte viel gewonnen ift, fcheint mir
zweifelhaft. Von den zahlreichen Problemen, welche die
Apoftelgefchichte im einzelnen bietet, wird nur eines
eingehender erörtert: Die Gloffolalie (S. 300—315).
Pur gläubige' Lefer wird aber die Erklärung übersehend
fein, dafs die Apoftel am Pfingftfeft deshalb von
allen Fremden verftanden wurden, weil fie griechifch
fprachen, das Griechifche aber als Weltfprache auch den
Völkerfchaften des Orients bekannt war. Das ift alfo
ber .Dialekt, in dem ein jeder der Hörer geboren war'
I?. 313). Freilich war die Gloffolalie am Pfingfttage nicht
eine gewöhnliche Predigt in griechifcher Sprache, fondern
,ein begeiftertes, abgebrochenes, ftellenweife jauchzendes,
von Geften begleitetes, möglicherweife mitunter völlig
»nverftändliches Lobpreifen Gottes' (S. 315). Darum be-
beht auch völliger Einklang zwifchen Act. 2 und I Cor. 14,
denn auch nach letzterer Stelle war die Gloffolalie ,eine
Manifeftation des göttlichen Geiftes für die aufserhalb
der Gemeinde Stehenden' (S. 306).

9- Kuhn, Wiffenfchaftliche und praktifche
Erklärung von Jefaja Cap. 24—27 (S. 321—362),
Ktzt den jefajanifchen Urfprung diefes Stückes voraus.

10. Locher, Die Vorbereitung zum geiblichen
Amt in den fchottifchen Kirchen (S. 363—405).
befchreibt fehr eingehend den Bildungsgang der fchotti-
Khen Theologen für die drei hier in Betracht kommenden
Kirchenkörper: Die fchottifche Staatskirche, die .freie
Kirche von Schottland', welche fich 1843 von jener losgetrennt
hat, und die .vereinigte presbyterianifche Kirche'
{United Presbyterian Church), welche fich 1847 durch Vereinigung
zweier ehedem getrennter Diffenter-Gemein-
Khaften gebildet hat.

Ii- Linder, Zur Theologie des Buches Hiob
(S. 407—457), behandelt .nicht fämmtliche theologifch
werthvolle Gedanken des Buches, fondern nur die Lehre
von Gott, jedoch mit Rückfichtnahme auf das Leidens-
"id Lebensproblem'. (S. 407). Als Stücke, welche dem
Buche Hiob nicht urfprünglich angehören, betrachtet der
Verf. die Elihureden Cap. 32—37, ferner Cap. 27, 7-23
und Cap. 28.

Ich habe mich im Obigen wefentlich referirend verhalten
. Der fachkundige Lefer wird fchon aus den
Keferaten entnehmen, dafs der Werth der Arbeiten ein
recht verfchiedener ib.

Göttingen. E. Schürer.

Zwei Bibelhandschriften mit doppelter Schriftart.

In den Nachrichten der Kgl. Gefellfchaft der Wiffen-
fchaften zu Göttingen, phil.-hift. Claffe 1898, Heft 1,
S. 98—112 hat Rahlfs höchb inbruetiv über eine Sep-
tuaginta-Handfchrift des 9. Jahrhunderts gehandelt, deren
einzelne Theile, von Tifchendorf zu verfchiedenen Zeiten
im Orient erworben, auf den Bibliotheken von London,
Oxford, Cambridge und St. Petersburg zerftreut find. Die
Zufammengehörigkeit beht aufser Zweifel; um fo merkwürdiger
ift die Verfchiedenheit der Schrift. Bis Gen. 4230
ift Majuskelfchrift verwendet; auf der Rückfeite desfelben
Blattes wird in Minuskel fortgefahren. Wir befitzen
hierzu eine geradezu auffallende Parallele an einer Evan-
gelienhandfchrift. Auch fie ward von Tifchendorf aus
dem Orient gebracht und als Einheit gefehen oder doch
erkannt. Auch bei ihr kam der eine Theil nach Petersburg
(Muralt 54; Evv 566 Gregory), der andere nach
Oxford (Bodl. Auct. T infra I 1; Evv Ä). Jener umfafst
Mt. und Mc. und ift bekannt durch die Randnoten aus
dem %v6alxov (= Hebr.-Ev.); diefer bietet Lc. und Joh.,
doch fo, dafs er mit der dort fehlenden subscr. zu Mc.
beginnt. Die Zufammengehörigkeit wird beftätigt durch
die Randnotizen, welche die gleiche feine Scholien-
Majuskel zeigen, die eine entfernte Aehnlichkeit mit
den Arethasfcholien hat. Aber der Petersburger Theil
ift in Minuskel, der Oxforder in Majuskel! Nach den mir
vorliegenden Photographien kommen beide Schriften den
in jener LXX-Handfchrift angewandten unter allen bekannten
Handfchriften am nächften. Die Vermuthung,
dafs hier der neuteftamentliche Theil zu jener Handfchrift
vorliege, für die auch Rahlfs einen fehr grofsen Umfang
! annimmt, wird leider ausgefchloffen durch die Ver-
i fchiedenheitdesFormates, dort33x262/3 cm, hier20xi5cm,
] oder dort c. 40, hier 23 Linien. Aber wenn nicht auf
denfelben Schreiber, auf diefelbe Schreibfchule gehen
j beide Handfchriften ficher zurück. Rahlfs erklärt den
Wechfel der Schriftart durch das Streben nach Raum-
erfparnifs. Der Unterfchied ift nicht fo beträchtlich; allerdings
gehen im Durchfchnitt 13 Minuskel, und nur 11
Majuskelbuchftaben auf die Zeile; aber die zufammen auf
c. 4200 Stichen berechneten erften beiden Flvangelien
umfaffen hier 121, die andern beiden, auf c. 5100 ge-
fchätzt, auch nur 157 Blätter. Aufserdem geht der
Schreiber in unferem Falle nicht von Majuskel zu Minuskel
über, fondern umgekehrt fährt er fort in der anfangs
nur für Ueber- und Unterfchriften angewandten Majuskel.
Sollte er die letzten beiden Evangelien befonders haben
auszeichnen wollen? Der Grund fcheint doch ein tech-
nifcher zu fein. Die fteife, fehr fauber auszuführende
Minuskel war dem Schreiber offenbar nicht fo bequem
wie die breite, fchrägliegende, ausgefchriebene Majuskel.
Es ift die Zeit, wo die Minuskelfchrift erft als eine Neuheit
aufkam, noch nicht jeder, und der einzelne nicht
immer gut und fchnell diefelbe zu handhaben wufste.
Das macht diefe Handfchriftengruppe palaeographifch fo
werthvoll, dafs fie uns einen Einblick in die Entftehungs-
zeit der Minuskel giebt, die bisher noch ziemlich unklar
ift. Handelt es fich dabei um eine die Curfive wieder
ftilifirende Kunftform, fo erklärt fich, dafs man diefe
einerfeits hochfchätzte,andererfeits doch anfangs unbequem
fand; daher wird in der älteren Zeit der Text in Minuskel,
der Commentar in Majuskel gegeben, fpäter umgekehrt.
Der Schreiber jener LXX-Handfchrift mag auf befonderen
Wunfeh feines Auftraggebers zu der neumodifchen Schriftart
übergegangen fein, oder aber es ift ein in diefer ausgebildeter
Kalligraph an die Stelle des erften getreten.
Beider Evangelienhandfchrift ging der Schreiber, nachdem
er fich lange genug mit der modernen Schriftart gequält
hatte, zu feiner alten zurück, oder überliefs einem Collegen
feinen Platz, der jene noch nicht beherrfchte. Ift diefe
Vermuthung richtig, fo werden wir allerdings diefe Handfchriften
in möglichft frühe Zeit, die erfte Hälfte des q.Jahr-
I hunderts eher als das 10. Jahrhundert fetzen müffen.