Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1899 Nr. 24

Spalte:

667-669

Autor/Hrsg.:

Böhmer, Julius

Titel/Untertitel:

Brennende Zeit- und Streitfragen der Kirche. Gesammelte Abhandlungen. 3. und 4 1899

Rezensent:

Eck, Samuel

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

•667 Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 24. 668

in Rom auch gelegentlich als das Abgarbild bezeichnet
wird (S. 189fr.). Von dem Zeitpunkt an, wo in der
Veronicalegende aus dem Tafelbild ein Tuchbild wird,
würde ich eine Einwirkung der Römifchen Reliquie auf
die Legendenbildung conftatiren; es ift diefelbe Zeit, in
der der Cultus des Bildes hervortritt. — Hier wie bei
anderer Gelegenheit glaube ich die Beobachtung gemacht
zu haben, dafs Dobfchütz die Beziehungen des Bildercults
zum Dogma der griechifchen Kirche fcharf erkannt und
hervorgehoben hat, dafs er aber nicht mit gleicher Sicherheit
auftritt, wo es fich um die Auffaffung volksthüm-

zu gefetzlichem Pharifäismus' die Rede. Wenn alfo die
Vergleiche, das Lob des Pietismus, der Tadel, der dem
Methodismus zu Theil wird — feine Thätigkeit in Deutfch-
land ,eine Schmach für unfere Kirche' —, für die Gegenwart
gelten follen, fo mufs man faft annehmen, dafs es
irgend etwas wie rein Spener'fchen Pietismus heut zu Tage
giebt. Nun aber leitet Verf. die Verfchiedenheit davon
her, dafs der Pietismus es feiner Zeit mit Dogmatismus
und toten Werken, der Methodismus mit Gleichgiltigkeit
und offenem Spott zu thun hatte. Dafs fich aber diefe
Sachlage inzwifchen gründlich verfchoben, dafs der Pietis-

licher Ueberlieferungen handelt. Vielleicht fehlt ihm etwas I mus in unferem Jahrhundert ein von feinen Vertretern

der Blick in die Gegenwart. Ich möchte dafür noch ein
Beifpiel anführen. Ein charakteriflifcher Zug der Wunderbilder
ift, dafs fie gruppenweife auftreten. So hat das
Bild von Kamuliana und das von Edeffa ein ganzes Gefolge
von gleichartigen Bildern in derfelben Gegend
hinter fich; ebenfo kann man die Theotokosbilder bei
Konftantinopel und in Süditalien geographifch umgrenzen.
Die Legende pflegt fich mit der Erfcheinung dadurch
abzufinden, dafs fie behauptet, eins der Bilder fei das
Achiropoii'ton, die andern aber wunderbar entftandene
Copien desfelben. Wie foll man das deuten? Nach
Dobfchütz hätte es urfprünglich in derfelben Gegend
mehrere Achiropoiiten gegeben, die fpäter von der
Legende miteinander in Verbindung gebracht wären
(S. 59. 83 ff. 101. 139. 142. 281. 292). Mir fcheint das
Gegentheil der Fall zu fein: An einem Orte taucht ein
,nicht von Händen gemachtes' Bild auf, das der engern
und dann der weiteren Heimath als Heiligthum gilt

eingeftandenes Bündnifs mit dem ,Dogmatismus' ge-
fchloffen hat, dafs er feit Zinzendorf und Bengel als
eigentlichen Feind Neologie und Moralismus der Aufklärung
kennt, dafs ihm feit Urlsperger und Steinkopf
die nicht nur pecuniäre Hilfe Englands und feiner metho-
diflifch inficirten Frömmigkeit unentbehrlich war, — das
find einige Thatfachen, deren Tragweite der Verf., nicht
zum Vortheil feiner Darlegungen, faft unberückfichtigt
läfst. — Die zweite Abhandlung ift überfchrieben: Der
moderne Peffimismus und der chriftliche Glaube.
Diefer Ueberfchrift entfprechend geht der Verf. von Aus-
fprüchen Schopenhauer's und v. Hartmann's aus. Aber
in der Erwartung einer gründlichen Darftellung und
Kritik diefer Theorien fleht man fich bald getäufcht: von
den furchtbaren Thatfachen, die diefe Philofophie des
Weltleids erzeugen, ift ebenfo wenig ausdrücklich die
Rede, wie von den metaphyfifchen Vorausfetzungen und
Folgerungen jener Denker. Statt deffen verallgemeinert

Bald begnügen fich die Nachbarftädte nicht mehr damit, fich diefer moderne Peffimismus zu einem Sammelplatz
das Bild aus der Entfernung zu verehren: fie zeigen [ aller erdenklichen privaten und öffentlichen Unzufrieden

eigene Bilder vor, welche die Legende als ,nicht mit
Händen gemachte' Copien bezeichnet. Urfprünglich war
überall nur ein Wunderbild da; je gröfser aber der Kreis
feiner Verehrer wird, defto mehr vervielfacht es fich. So
auch Dobfchütz S. 273. Ebenfo ift es mit den Heiligen
gegangen. Ein Märtyrer wird anfangs in feiner Heimath,
fpäter in weiterem Umkreife gefeiert. Ueberall ift die
Localfage gefchäftig, ihn mit den Orten feines Cultus in
Beziehung zu fetzen. So rühmen fich bald eine Menge
Städte mit demfelben Namen, fo dafs der Schein entlieht
, als hätte es eine Reihe von gleichnamigen Märtyrern
in derfelben Provinz gegeben.

Göttingen. Hans Achelis.

Böhmer, Julius, Brennende Zeit- und Streitfragen der Kirche.

Gefammelte Abhandlungen. III. und IV. Giefsen,
J. Ricker, 1897. (gr. 8.) ä M. 1.75

III. Aus dem praktifchen Chriftentum. Pietismus und Methodismus
. Dre moderne Peffimismus und der chriftliche Glaube. Freude
und Freuden im Lichte der chriftlichen Ethik. (108 S.) — IV. Soziale
Fragen. Sozialdemokratie und Chriftentum. Sozialdemokratie und
Kirche. Die foziale Stellung der Diakoiiißen. Eigentum und Arbeit.
Soziale Bewegungen in einem jungen Kaufmannsherzen. (98 S.)

Von den Abhandlungen des dritten diefer Hefte
(Aus dem praktifchen Chriftentum) handelt die
erfte, ausführlichfte, über Pietismus und Methodismus.
Verf. will eine kirchengefchichtliche Studie zum Vergleich
beider Richtungen in der Gegenwart bieten. Man
wird das ein fehr umfaffendes Thema nennen dürfen, zu
deffen Bewältigung auf 54 Seiten ein nicht geringes Mafs
von fcharfem Blick für die Eigenthümlichkeiten jener
Richtungen, von umfaffender Einficht in die gefchicht-
lichen Wandlungen, denen fie in 200 Jahren unterworfen

waren, endlich von Präcifion der Rede erforderlich fein nur in der Form räumlich abgegrenzter Bezirke, de

heit, einfchliefslich der durch die Socialdemokratie erregten
, ohne dafs dem Lefer die tiefgreifenden Unterfchiede
zwifchen jenem principiellen und diefem blofs kritifchen
Peffimismus deutlich würden. Hiernach ift nun jeder
Nicht-Chrift ipso facto Peffimift, der Chrift aber nur, fo-
fern er nicht ganzer Chrift ift. Denn da es als Axiom
gilt, dafs alle Mängel, Leiden, Uebel nur Folge der Sünde
find, ,nach der freien Wahl des Menfchen zugelaffen',
fo folgt, dafs die einzige Wurzel alles Peffimismus in
mangelnder Sündenerkenntnifs zu fuchen ift. Nun hat
gegen all diefe Schäden die Kirche zur Zeit des oberflächlich
optimiftifchen Rationalismus fchlecht reagirt-
Heute thut fie vollauf ihre Pflicht. Aus zahlreichen Symptomen
, unter denen auch ,die grofse Zahl ftreitfertiger
proteftantifcher Theologen' eine Ehrenftellung einnimmt,
läfst fich auf ein Wiedererftarken kirchlichen Lebens
fchliefsen, und daraus dann die Folgerung ziehen: f°
lange das Leben in unferer Kirche fo rege ift, hat es
keine Noth. —

Das 4. Heft handelt von focialen Fragen. Ueber
Socialdemokratie und Chriftenthum o der Kirche ift aber
fo viel verhandelt worden, dafs ein ziemliches Selbftver-
trauen dazu gehören mufs, einer einzelnen Welle aus
diefer Fluth dauernde Bedeutung zu vindiciren. Es wäre
wohl genug, wenn diefe Auffätze einmal an ihrem Ort
ihren Dienft gethan hätten (vgl. Th. L. Ztg. 1898 S. 49<jV
Für das, irgendwo vorhandene, Mafs paftoraler Einficnji
wird es allerdings der Erinnerung werth fein, dafs am
einer amtlichen Conferenz die altkirchliche Anfchauung
von der Sündhaftigkeit des Eigenthumes mit der Beweisführung
der Väter als evangelifch geltend gemacht worden
ift. Aber unter den Gegenargumenten des Verf.s wir
man auch nicht ohne Erheiterung lefen, dafs die Ein-
theilung der Engel in Fürftenthümer, Gewalten und Herrfchaften
auf eine Arbeitstheilung hinweift, die wir un

dürfte. Dem Verf. nun ergeben fich die entfeheidenden Vorbilde irdifchen Sonderbefitzes, vorftellen können

Merkmale aus den Urfprungszeiten der beiden Richtungen,
und dabei ift für den Pietismus Spener der allein mafs-
gebende Repräfentant. Denn für jede fpätere Zeit ift
von einer ,Hallefchen Entartung', einer ,Verknöcherung

Schwierigkeiten, die Andere fehr lebhaft empfinden,
drücken unferen Verf. wenig. Die fociale Stellung
evangelifchen Geiftlichen wie der Diakoniffen ift Seß^n
wärtig genau fo, wie fie fein mufs. Die feelforgerliche