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Ausgabe:

1899 Nr. 23

Spalte:

634

Autor/Hrsg.:

Thudichum, Friedrich

Titel/Untertitel:

Kirchliche Fälschungen. 2. Der Brief an die Hebräer 1899

Rezensent:

Schürer, Emil

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Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 23.

634

In diefer Beziehung foll es mit dem Galaterbrief ftehen
wie mit dem Philipperbrief; vgl. S. 194: .Paulus aus feiner
Gefangenfchaft aus Rom an die Philipper fchreibend,
was ift das anders als das Chriftenthum, wie es zu Rom
unter Nero felbft in Banden den nachdenklichen Römern
Achtung abzwang?' Der vierte Theil (S. 106—147) unterJucht
die Beziehungen diefes angeblichen Paulus zum
Urchriftenthum und zu den Apofteln, wobei fich zeigt,
dafs die anfcheinend gefchichtlichen Züge auf Combina-
hon von Apoftelg. 9,23 h mit 2. Cor. 11,31 (Schwur
Ga • 1, 20), 32 (Arabien Gal. 1, 17) und 12, 2 (14 Jahre
Gal. 2,1) beruhen (S. 118 f.). Ebenfo findet 2, 10 ein
Kuckgriff auf Apoftelg. 11, 30 ftatt (S. 139). Der fünfte
Iheil (S. 148—185) läfst fich auf den Lehrbegriff ein
und fucht namentlich die Vorftellung von der Auferftehung
h l als eine, mit dem fchlechthin übernatürlichen Charakter
des ebendafelbft und i, 11 —17 befchriebenen
Apoftolats zufammenhängende, dogmatifche Errungenschaft
fpäterer Zeiten darzuthun (S. 163). Verwandt da-
mit ift die angehängte Ausführung über den Gegenfatz
eines menfchlichen und eines göttlichen Apoftolates
(S. 186—203).

Es ift hier nicht beabfichtigt, die von Holften und
Lipfius, von Gloel, P. V. Schmidt und Th. Zahn beforgte
Vertheidigung der ,Echtheitshypothefe' weiter zu führen.
Man wird ja gern glauben, dafs ein tüchtiger Gelehrter,
dem vielleicht gerade über der leiblichen Blindheit ein
uberfcharfes Gehör für geiftige Regungen zugewachfen
Jjt, auch einem gleichfalls zuweilen überfcharffinnigen
Gegner gelegentlich einmal das Concept etwas verrücken
kann, wie wenn Holften den Umftand, dafs Einer nicht
unter dem perfönlichen Einfluffe Jefu geftanden hat, als
Erklärungsgrund bald für die errungene Gefetzesfreiheit
(bei Paulus), bald für gefetzestreuen Confervatismus (beim
Herrnbruder Jakobus) verwendet (S. HO f.). Durchschlagende
Beweiskraft eignet folcherlei dialektifchen
Triumphen freilich nicht.

Dagegen ift man es wohl dem Verf. fchuldig und
es mag auch überhaupt am eheften auf weiteres Intereffe
Anfpruch erheben können, wenn wir zum Schluffe noch
kurz feine pofitive Auffaffung der Verhältnifse, auf welche
der Brief zurückweifen foll, darlegen. Hiernach hat das
Ghriftenthum eine geraume Zeit, mindeftens bis zum Jahre
7°, gebraucht, bis fich die Unvereinbarkeit feines Princips
roit dem Judenthum allmählich bemerkbar machte. Nachdem
aber der offene Conflict einmal ausgebrochen war,
konnte es auch nicht ausbleiben, dafs dem feindfeligen
Judenthum als der von Menfchen gemachten Religion
das Chriftenthum als auf unmittelbarer Offenbarung Gottes
beruhende Geiftesreligion entgegentrat und es zum vollen
Bruche mit der judenchriftlichen Vergangenheit kam
(p. 58). In diefer radicalften und abftracteften Form
findet das chriftliche Princip einen Vertreter in dem
Paulus unferes Briefes (S. 154), während der 5, 11 verleugnete
(S. 97 f.) Paulus der Apoftelgefchichte der Wirklichkeit
noch näher fteht (S. 65 f.). Ihn läfst gegen Mitte
des 2. Jahrhunderts ein den marcionitifchen Kreifen nicht
Mlzufern flehender Katholiker zu der vom Judaismus bedrohten
Chriftenheit reden (S. 81. 128): eine Combination,
deren hiftorifches Recht aus bekannten Aeufserungen
Juftins abgeleitet (S. 85. 183) und deren allgemeine Berechtigung
natürlich im Gefetz der Entwickelung gefucht
W|rd (S. 177). Neu ift übrigens die weitere Anwendung,
Welche von diefem Gefetz im Anhang auf den Werdegang
des Apoftolats gemacht wird. Das ,prähiftorifche
Ghriftentum' war eine unorganifirte Bruderfchaft von
armen und frommen Idealiften, vielleicht auch ein Ge-
'eimbund, der Zeloten wie Simon umfafste. Apoftel gab
es fchon vorher. Bekanntlich hiefsen fo die Zwifchen-
rager zwifchen Jcrufalem und der Diaspora. In der Zeit
des jüdifchen Krieges eigneten fich die Chriften diefes
Eiftitut an und bedienten fich feiner zu propagandiftifchen
^wecken.

Als pofitives Refultat ergab fich mir nur wieder die
Einficht in den fchwierigen Charakter nicht weniger Stellen
des Briefes (es wird fchwerlich jemals Uebereinftimmung
unter den Exegeten erreicht werden bezüglich 1, 10. 2, 17.
18. 3, 19. 4, 18. 5, 11. 6, 13), fowie der hiftorifchen
Vorausfetzungen desfelben (die Fragen nach Südgalatien,
nach dem Stande der Sache bei der zweiten Anwefenheit
des Apoftels und nach der Chronologie). Aber derartige
Cruces interpreium werden dadurch nicht aus der Welt
gefchafft, dafs man fie aus dem erften in das zweite Jahrhundert
verpflanzt.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Thudichum, Prof. Friedrich, Kirchliche Fälschungen. II. Der

Brief an die Hebräer. Berlin, C. A. Schwetschke &
Sohn, 1899. (78 S. gr. 8.) M. 1.—

Diefes Büchlein gehört unter die jocosa und kann
daher hier nur kurz erwähnt werden. Der Verf. erzählt
im Vorwort, dafs er bis zu feinem 60. Lebensjahre den
Hebräerbrief in feinem vollen Wortlaute ,kaum je ge-
lefen' habe. Als er aber dann durch eine hinterlaffene
Notiz feines Vaters veranlafst, ihn zum erftenmale las,
,ftand ihm fofort fett, dafs der ganze Brief vom erften
Buchftaben bis zum letzten Fälfchung fei'. Der Standpunkt
des Hebräerbriefes ift ,mönchifch' (S. 124) und
,pfäffifch' (S. 140). Er verlangt, dafs die Häretiker mit
dem Tode beftraft und zwar verbrannt werden follen
(S. I40ff., Beweisftellen: 6, 4—8 und 10, 26—31). ,Diefe
graufamen Drohungen gegen die Häretiker konnte kein
chrittlicher Schrifttteller vernünftigerweife vor der zweiten
Hälfte des 4. Jahrhunderts ausftofsen' (S. 144). Ein
Hauptzweck ift auch, zu beweifen, dafs die Chriften
fchuldig find, den Prieflern den Zehnten zu entrichten
(S. 137—140). Ueberhaupt ftellt der Brief ,die damals
(im 4. und 5. Jahrh.] von den Bifchöfen erhobenen Herr-
fchaftsanfprüche als von Gott von Anfang an gewollt
und geboten hin' (S. 163). Da er nicht vor der Mitte
des 4. Jahrh. verfafst fein kann, find auch alle Stellen
der Kirchenväter bis Eufebius inclus., an welchen er erwähnt
wird, für fpätere Fälfchungen zu halten (S. 151).

Man frägt fich beim Lefen fortwährend, ob der
Verf. eine Satire auf die böfe Kritik fchreiben oder ob
er ernlthaft genommen fein wolle. Aus verfchiedenen
Gründen fcheint die erftere Annahme ausgefchloffen zu
fein und nur die andere übrig zu bleiben: dafs die vis
comica, welche die Schrift ausübt, eine unfreiwillige ift.
Der Verf. ift Profeffor des Kirchenrechts an der Uni-
verfität Tübingen.

Göttingen. E. Schürer.

Tamm, past. emer. H. C, Das Wesen des evangelischen

Glaubens. Berlin, C. A. Schwetfchke 8c Sohn, 1899.

(195 S. 8.) M. 3.-

Obgleich der Verf. fich viel mit anderen theologifchen
Schriftftellern auseinanderfetzt, macht fein Buch doch
mehr den Eindruck eines perfönlichen Bekenntnifses, als
einer eigentlich wiffenfchaftlichen Unterfuchung. Darin
aber liegt gerade auch fein Werth. Es ift erfrifchend und
erfreulich, den Darlegungen des Verf., foweit fie nicht
durch die etwas reichlichen Citate unterbrochen find, zu
folgen. Mit grofser Selbftändigkeit und einer temperamentvollen
Lebhaftigkeit, die bei einem hochbetagten
Manne befonders anziehend berührt, vertritt der Verf.
feinen confequent religiöfen und charaktervoll freien
Standpunkt. Und mit richtigem Tact weifs er die Hauptfache
zu treffen, wenn er zunächft vor allem den Glauben
ausfchliefslich als göttliche Gabe gewürdigt wiffen will.
Weiterhin ift befonders die Klarheit zu rühmen, mit der
er in manchen hergebrachten Anfchauungen, die den
Meiften ganz unverfänglich erfcheinen, intellectualiftifche