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Ausgabe:

1899 Nr. 15

Spalte:

450-452

Autor/Hrsg.:

Müller, Josef

Titel/Untertitel:

Die Keuschheitsideen in ihrer geschichtlichen Entwicklung und praktischen Bedeutung 1899

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 15.

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dtvoirs de la piete Anlafs geben. Die Liebe als fittliche
Bethätigung [l'amour Jans les relations sociales) umfafst
allgemeine und befondere Pflichten: zu den allgemeinen
Liebespflichten gehört das Wohlwollen, die Friedfertigkeit
, die Liebe zu den Seelen; zu den befonderen das
Mitleid, die Verföhnlichkeit, die Dankbarkeit. Die fachliche
Begründung diefer Zerlegung der Liebespflichten
ln zwei Gruppen (28) foll fleh aus dem Umftand ergeben,
dafs die fpeciellen Pflichten durch die concreten Beziehungen
zu den Perfonen bedingt find, gegen welche
diefe Pflichten zu üben find; allein eine gleiche Bewand-
nifs hat es mit den fog. allgemeinen Pflichten und das
Recht einer pofitiven Unterfcheidung beider Gruppen
•allt in fleh felbft zufammen. — Was die religiöfen Pflichten
devoirs de la piete) betrifft, fo zählt der Verf. deren fünf
auf, Liebe, Furcht, Gehorfam, Vertrauen, Freude: der
Gehorfam ift die Synthefe der Liebe und der Furcht (75)

Cafuiflik, den Problemen der unmittelbaren Gegenwart
muthig zugewandt und ftets auf die Grundfätze des Evangeliums
zurückgreifend, um aus denfelben die Directiven
und Zielpunkte der Gefinnung und des Handelns zu entnehmen
. Die Gefahr, in den Ton des Moralpredigers zu
verfallen, hat der Ethiker nicht vermieden, ja er empfindet
diefelbe nicht, denn er behandelt die Wiffenfchaft nicht
als eine ihm fremde, rein objectiv gegenüberftehende
Disciplin; feine Auseinanderfetzung ift zugleich perfönliche
Stellungnahme; die homiletifche Begabung des Verfaffers,
die in den principiellen Erörterungen zuweilen ftörend
wirkt, verleiht den concreten Ausführungen feiner „fpeciellen
Ethik" eine Lebendigkeit und Anfchaulichkeit, die
nicht wenig zur Kraft und Wirkung feines Werkes beiträgt
. Dass auch hier der Stoff zu fruchtbaren Contro-
verfen nicht fehlt, wird Niemand in Abrede ftellen können.
So wird man in der Socialethik Bovoms häufig die Nach-

?/ fchliefst bereits das Vertrauen in fleh und geftaltet j Wirkungen des einfeitigen Individualismus feines Lehrers

n durch das Vertrauen zur kindlichen Hingebung (79),
e Liebe aber vollendet fleh in der Freude, welche die
k Uss.L~ahlung (Je rayonnement) der chriftlichen Frömmig-
UnH T (86)- Man wird diefem Abfchnitt religiöfe Wärme
"d Innigkeit nicht abfprechen dürfen; allein Klarheit und
vf e.der pfychologifchen Ableitung wird in demfelben
eergeblich gefucht werden. Auch wird erlaubt fein, auf
icfen bereits früher hervorgehobenen Mangel hinzuweifen,
ij , meine die ungenügende Verwerthung des neuteflament-
crien Materials zur Beftimmung der chriftlichen Pflichten
'ach
fertig

Vinet wahrnehmen, deffen Geift auch fonft fowohl die
Vorzüge als auch einige Mängel des vorliegenden Buches
bedingt. Wir fcheiden von demfelben indem wir dem
geehrten Herrn Verfaffer zu feinem fo tapfer begonnenen,
fo beharrlich fortgefetzten, fo glücklich vollendeten Unternehmen
aufrichtig Glück wünfehen.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Müller, Dr. Jofef, Die Keuschheitsideen in ihrer geschicht-

ach ,hrern eigentümlichen Wesen1 und ihrem gegen- |ichen Entwjck|ung und praktischen Bedeutung. Mainz,

leitigen Verhältnifs: hätte der Verfaffer z. B. die Grund- „ KWchhp:m .0" /TTr , m „, vr ,

gedanken des erflen Johannesbriefes in gebührendem Mafse | *- Kirchheim, 1897. (III, 196 S. gr. 8.) M. 3.-

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!V.r Geltung gebracht, fo würde er in der Uebung der
^ächftenliebe die Bethätigum

ig der Liebe zu Gott nach-
8ewiefen haben und vor dem Vorwurf einer blofs äufser-
hchen Coordination des fittlichen und religiöfen Lebens
DeWahrt geblieben fein. — Auch die von Bovon auf-

Der Verf., einer der Herolde des Reformkatholicis-
mus (f. Col. 276), hat fleh durch mehrere äfthetifch-literar-
hiftorifche Arbeiten, z. B. über Jean Paul, bekannt
gemacht. Hier hat er es unternommen, die Keufchheits-
ideen d. h. ,nicht allein die auf den ftrengen Cölibat
bezüglichen Anfchauungen undBeftrebungen, fondern auch
aeite heraus" — Die Viertheilung der Tugenden (Glaube, 1 alles das eheliche Liebesleben u. f. w. Betreffende'hiftorifch
Liebe. nanÜharWJt und Hnffnunpl leidet an Mängeln. I und fvftematifch zu betrachten. Faft drei 1

?le namentlich vom Standpunkt evangelifcher Beurthei- Buches, der ganze erfle Theil und die angefügten Er-
,Ung fofort in die Augen fpringen müffen: oder ift nicht | läuterungen (richtiger: Nachträge) find der ,Gefchichte
dle Dankbarkeit eine befondere Modification der Liebe

?nd die Hoffnung ein integrirender Beftandtheil des Glau
bens? Wollte man erft in eine Einzeldiscuffion eintreten,
i? würde vorausflchtlich des Rechtens und Streitens kein
Lnde werden. Unter dem Titel der Tugenden des Glau-
pfns handelt B. von dem Anziehen des Herrn Jesus
^"nfttis und von dem Gebet, als ob jener durch Paulus
geprägte Ausdruck ohne Weiteres geeignet wäre, eine

der Keufchheit' gewidmet. Der Verf. hat fleh damit eine
kulturhiftorifch höchft wichtige und intereffante, allerdings
auch fchwierige und heikle Aufgabe geftellt. Zu
ihrer Löfung hat er mancherlei Stoff zufammengetragen;
befonders das, was er aus der Literaturgefchichte beibringt
, ift dankenswerth. Aber von einer wirklichen
Gefchichte der Anfchauungen und Grundfätze, welche
in den verfchiedenen Völkern und Zeiten in Beziehung
auf das gefchlechtliche Leben herrfchten, kann doch
keine Rede fein. Dazu ift das Buch fürs erfte zu lückenhaft
. Dafs es ,nicht erfchöpfend' ift, das ift ja bei dem
ungeheuren Stoffe felbftverftändlich. Aber es fehlen auch
Dinge, die nicht fehlen dürften; beim Mittelalter z. B.
dürfte die Stellung der Scholaflik zu der Frage nicht
mit den paar Bemerkungen S. 45 abgemacht, die Benutzung
von Bufsbüchern und Beichtfpiegeln nicht ver-
geffen, eine fo charakteriftifche Erfcheinung wie der
Briefwechfel von Abälard und Heloife nicht weggelaffen
fein. Und auch die vorhandenen Vorarbeiten find nicht
genügend benutzt: Werke wie Leopold Schmidt's Ethik
der alten Griechen, Jakob Burckhardt's Kultur der
Renaiffance find nicht verwerthet, gefchweige denn Specialarbeiten
, wie die forgfältige Unterfuchung von Wal-
demar Kawerau über die Reformation und die Ehe
¥?s zum dritten, weit bedeutenderen und den zwei erflen . (Halle 1892) So lafst denn auch fürs zwerte die Zu

^*"fchaftiche Formel zur Fa'ffung imd Geftaltung der
Erh k 1Cn Ethik zu liefern! als ob die Frage nach der
l)ricj0rDarkeit des Gebets in diefem Zufammenhang zu löfen
Wa dberhaupt einer theoretifchen Löfung fähig wäre!
La ik " we'ter die Näherbezeichnung der Tugenden der
derv bedeuten? Die Dankbarkeit, fo belehrt uns

p . erfaflfer, bekundet fich in der Mäfsigung und in der
die Re Skeil; find wir uns nämlich bewufst, von wem
für j}x^r diefer Welt flammen, fo werden wir diefelben
Wir f1 Merrn gebrauchen, und das fetzt voraus, dass
fond Herz nicht an diefe Güter hängen (moderation),
wen .ern ne auch im Dienfte der Nächften (liberalite) ver-
gen —■ Doch laffen wir diefe weder den Anforderun-
rjje j,lner fyflematifchen Bearbeitung genügende, noch
fülle Hed'n8ungen einer theologifchen Disciplin er-
lQen Abfchnitte der B.'fchen Ethik und wenden wir

in h Verlegenen Buche: es handelt von dem Chriflen
in Familie (167—231), in der Gefellfchaft (233—378),
Eüll f Kircn-e (379—447). Hier begegnet uns eine reiche
üch l?rtreffl'cher Capi'tel, ausgezeichnet durch den fitt-
AufFri rnfl und d'e humane Weitherzigkeit der ethifchen

verläffigkeit des Buches viel zu wünfehen übrig. Schon
in Kleinigkeiten finden fich Fehler, die kaum als Druckfehler
gelten können, und Ungenauigkeiten: S. 6 zweimal
,Vheda/ S. 180 allerdings richtig, wohl Dank der Benutzung
von Zöckler's (nicht ,Zöllner's' S. 181) ,Askefe

abnraffung- gleich entfernt von der Allgemeinheit rein [und Mönchthum,' S. 86 u. 95 Apollonius von Thyana
iracter Behandlung und von der Pedanterie ängftlicher flatt Tyana, S. 126 u. 129, Montegazza flatt Mantegazza.