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Ausgabe:

1899 Nr. 13

Spalte:

400-404

Autor/Hrsg.:

Hartmann, Eduard v.

Titel/Untertitel:

Ethische Studien 1899

Rezensent:

Ritschl, Otto

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399

Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 13.

400

Weife Rothe's in kirchenfreier moderner Kultur innerlich 1 fehler in der Moral unlerer Zeit, dafs man (ich in feinem

geeinigt denkt wie das befeelende Princip und den von
ihm befeelten Leib. Von diefer Einheit und ihrer
Wirkung auf Wiffenfchaft, Staat, Gefellfchaft, Kunft,
Literatur, Moral und religiöfe Gemeinfchaft entwirft er
ein begeiftertes Zukunftsbild. Freilich flehen gegen diele
Beftimmung des Verhältnifses von Religion und Sittlichkeit
die fchwerften Bedenken. Es hat bisher in der Wirklichkeit
niemals fich herftellen laffen und ilt von allen,
die es verkündigen, nur als ein Zukunftsprogramm ge-
fchildert worden, womit doch wohl angedeutet ift, dafs
in der wirklichen Sache fchwierige Antinomien beftehen.
Auch das Verhältnifs von Religion und Wiffenfchaft, bei
dem die Wiffenfchaft als befondere Erkenntnifsquelle,
die das caufale Weltbild hervorbringt, und die Religion
als befondere Erkenntnifsquelle, aus der die Gemüths-
erfahrung von Gott hervorgeht, neben einander geftellt
werden, ift m. E. unhaltbar. Um einen groben Vergleich
zu gebrauchen, fo kommt mir das immer vor. wie wenn
jemand über das Verhältnifs der Schuhnägel und der

Leben, Denken und Handeln nicht nach ewigen Prin-
cipien, nach inneren Ueberzeugungen, nach dem, was aufser
der Welt fich unfercm Geilte als das Höchfte bekundet,
nach innerer Erleuchtung und unwiderstehlichen Gefühlen,
worin abfolute Forderungen an uns geftellt werden, fondern
nach den Strömungen der Welt und des Zeitgeistes
richtet1 (S. 20). Das trifft höchstens den Pofitivismus,
aber das erhellt doch nicht das fchwierige Problem der
Bedeutung der Historie und hiftorifcher Thatfachen für
die Theologie. Im Gegentheil, die widerfpruchsvollen,
mit halben Andeutungen arbeitenden Aphorismen des
Vortrages machen es erst recht dunkel.

Einen Ausfchnitt aus diefem Problem, das Verhältnifs
der Perfon Jefu zu anderen grofsen religiöfen Perfönlich-
keiten, behandelt Martenfen Larfen mit der Abficht,
zu zeigen, dafs die ,nivellirende allgemeine Religions-
gefchichte' nicht im Stande fei, Jefus zu einer allgemeinen
religionsgefchichtlichen Gröfse zu reduciren und ihn feiner
Originalität zu berauben'. In diefer zweideutigen For-

Schuhmacherkunft reden wollte und dabei obendrein ! mulirung der Frage steckt fchon die ganze dogmatifche

diefes Verhältnifs fortwährend mit dem zwifchen Schuhnägeln
und Schuhleder verwechfelte.

Chantepie de la Sauffaye greift das brennendfte
Problem der Lage heraus, die Beziehung der allgemeinen
vergleichenden Religionswiffenfchaft zu der Betrachtung
des Chriftenthums als normativer Religion. Er verweift auf
die parallelen Wirkungen der Erweiterung des religionsgefchichtlichen
Horizontes bei Herodot, den Sophisten,
der römifchen Kaiferzeit, der mongolifchen Dynastie, den
Kreuzzügen und der Renaiffance, erkennt aber an, dafs
die hiftorifch-wiffenfchaftliche Behandlung und die Weite
des gegenwärtig erfchloffenen Horizontes eine ganz neue
Lage gefchaffen haben. Seine Ausführungen über das
fo gegebene Problem find dann freilich fehr unsicher und
ergebnislos. Er betont nur gegenüber den Neigungen,
die Religion aus den Erfcheinungen bei Naturvölkern
zu erklären, die Unmöglichkeit, fie von hiftorifchen Erfcheinungen
aus überhaupt zu erklären, und gegenüber
den Verfuchen, aus der Historie durch den Entwickelungs-
begriff und durch die Conftruction von Entwickelungs-
gefetzen die normative und die Zukunft beherrfchende
Wahrheit zu finden, die Nutzlofigkeit aller allgemeinen
Begriffe und die Bedeutung der Freiheit und des Individuellen
auf dem Gebiete der Hiftorifchen. Schliefslich
findet er den Werth diefer Studien dementfprechend
lediglich in der fchärferen Erfaffung des individuellen

Präoccupation. Diefelbe steckt dann weiter darin, wenn
die Originalität Jefu religionsgefchichtlich in dem ihm
ganz eigenthümlichen Bewufstfein der ,Gottesfohnfchaft'
gefunden wird, wobei die Vieldeutigkeit diefes Wortes
fehr ausgenutzt wird. Den Schlufs bildet die einfache
Auflöfung des Problems. Die Wiffenfchaft conftatirt dies
einzigartige Bewufstfein, der Glaube glaubt an die Berechtigung
diefes Bewufstfeins und an die, wenn das
Bewufstfein Grund in der Wirklichkeit hat, ganz felbft-
verftändliche Wunderhaftigkeit des Lebens Jefu. Der
ganze Vortrag hat mehr rhetorifchen Charakter. ^

Dem gegenwärtig dringlichsten Problem der christlichen
Ethik, der Frage nach dem Verhältnifs des
Chriftenthums zu der gegenwärtig fich vollziehenden
focialen Umfchichtung, ift die etwas wortreiche Abhand-
lungSöderblom's gewidmet. Sie zeichnet fich durch eine
nicht allzuhäufige Einficht in den Doppelcharakter des
Christenthums aus, das in logifchem Widerfpruch, aber
in voller praktifcher Verträglichkeit einerfeits die Gemüther
für die obere Welt fammelt und infofern eine
Tendenz zu Askefe und Weltflucht befitzt, andererfeits
aber in der Bruderliebe die Gemüther an allen menfeh-
lichen Gefchicken und an deren für das perfönliche
Leben möglichst dienlicher Gestalt intereffirt und infofern
eine Tendenz zur Sichtung innerweltlicher Lebensordnungen
befitzt. Von hier aus leitet S. die Haltung

Charakters des Chriftenthums, was er an dem Aufweis des Chriftenthums zu der augenblicklichen Wandelung

der nur fcheinbaren Aehnlichkeit des Buddhismus er
läutert. Allein folche Sätze fprechen doch nicht mehr
als einen fehr vereinzelten richtigen Gedanken aus. Gerade
die Hauptfrage nach dem Rechte der von diefen
hiftorifchen Individualitäten beanfpruchten Allgemeingültigkeit
und nach der Möglichkeit, diefe Fragen von
der Historie aus zu beurtheilen, ift gar nicht aufgeworfen.
Die Bedingungen ihrer Löfung find gar nicht unterfucht,
und auch eine Löfung von anderen Vorausfetzungen aus,
etwa von einem offenbarungsgläubigen Supranaturalismus
oder von einem metaphyfifch-philofophifchen Kriterium
aus, ift nicht angedeutet. Auch die wichtige Frage nach
dem Verhältnifs des Allgemeingiltigen zum thatfächlich
allgemein Herrfchenden, die vom Supranaturalismus
durch die Sündenlehre und von der Entwickelungslehre
durch ein von ihr irgendwie conftruirtes Verhältnifs von
Caufalität und Teleologie beantwortet wird, ift gar nicht
aufgeworfen, ebenfowenig die nach dem Verhältnifs des
Typifchen zum Individuellen. All diefen fchwierigen

in der focialen Schichtung ab als eine wefentlich innerlich
unabhängige, aber zum Dienste für die emporstrebende
Claffe verpflichtende. Die andere Seite des Themas, die
Betrachtung des focialen gegenwärtigen Proceffes felbft
ift freilich fehr ungenügend behandelt. Hier herrfcht die
,Sociologie' und der ,Evolutionismus' mit ihren ,Natur-
gefetzen'. Die tieferen Fragen, wie überhaupt die von der
Religion zu erbauende geistige Welt fich zu dem natürlichen
Unterbau menfehlicher Intereffen und Gemein"
fchaftsbildungen verhalte und wie weit überhaupt das
Chriftenthum hoffen kann, diefe Naturgrundlage zu bewältigen
und zu reguliren, find nicht aufgeworfen. S,e
liegen aber eigentlich auf dem Grunde des von ihn1
behandelten Problems.

Heidelberg. Troeltfch.

Hartmann, Eduard v., Ethische Studien. Leipzig,
Haacke, 1898. (VII, 241 S. gr. 8.) M. 5-"

und unmittelbar aus der Sache erwachfenden Problemen I Vorliegendes Buch des bekannten Philofophen e0."

ift doch nicht abgeholfen durch den Satz, ,dafs es fich hält acht Stücke von ethifchem und religion

sphilofoph'"

beim Einflufs der Religionswiffenfchaft auf den Glauben 1 schem Inhalt unter folgenden Titeln: 1) Unterhalb un
nicht ausfchliefslich und felbft nicht in erfter 1 oberhalb von gut und böle, 2) Nietzfche's ,neue MoraU
Linie um Refultate, fondern um geiftige Einwirkungen j 3) Stirners Verherrlichung des Egoismus, 4) die ant, r
handelt', (S. 12) oder durch den Hinweis auf den ,Grund- | Humanität, 5) Heteronomie und Autonomie, 6) de