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Ausgabe:

1899 Nr. 8

Spalte:

252-253

Autor/Hrsg.:

Hübner, J.

Titel/Untertitel:

Das Gefühl in seiner Eigenart und Selbständigkeit 1899

Rezensent:

Knoke, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 8.

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der bei den verfchiedenen Menfchen jedenfalls in fehr
verfchiedenen Graden entwickelt ift, als Trieb auch nicht
ohne Weiteres frei ift, und ferner, dafs er, wo er überhaupt
vorhanden ift, in demfelben Mafse, als er fich
fpontan bethätigt, auch in die Selbfterhaltung des Individuums
mit hineingehört. Oder verfteht der Verf. unter
Selbfterhaltung nur das Streben nach Nahrungsaufnahme?
Aber auch bei den Thieren giebt es Bewegungen, die
nicht nur auf Ernährung und Fortpflanzung abzwecken,
fondern die wie die Bethätigungen des fog. Spieltriebs 1
in einer gewiffen Analogie zu denen des menfchlichen
,Forfchertriebs' flehen und infofern nicht fo fehr gebunden
', als ,frei' erfcheinen. Wenn aber doch auch diefe
Triebe dem der Selbfterhaltung einzuordnen find, fo auch
jener ,Forfchertrieb', durch deffen Bethätigung fich das
menfchliche Individuum mindeftens in dem ihm eigen-
thümlichen geiftigen Wefensbeftande felbft erhält. Der
Verf. hat jedoch feinen Begriff von der Selbfterhaltung
überhaupt nicht definirt, fondern, als ob er fich ganz
von felbft verftände, einfach vorausgefetzt.

Ganz verunglückt ift ferner das Unternehmen des
Verf., jene Unterscheidung von Verftand und Vernunft als
Eintheilungsprincipfür feineErkenntnislehrezuverwerthen.
Er befpricht nämlich zuerft ,die Vorftellungserregungen
in der Form der Gebundenheit' und dann diefelben ,in
der Form der Freiheit'. So aber kehren die Hauptthemata
des einen Abfchnitts, die in diefem fchon erledigt
fchienen (Raum, Zeit, Eigenbegriffe, abgezogene
Begriffe, Urtheile), in dem anderen Abfchnitt wieder, und
in diefem wird beftenfalls nur eine Art Nachlefe zu jenem
beigebracht. Und wie kann ferner mit der Ausficht auf
Erfolg von Vorftellungserregungen in der Form der Gebundenheit
' gehandelt werden, wenn diefe Gebundenheit,
nämlich an den Erhaltungs- und Fortpflanzungstrieb,
nicht zuvor felbft erörtert wurde? Alfo nach dem Schema
des Verf. hätten die Bewegungserregungen, in denen
diefe Triebe fich kundthun, vor den dazu gehörigen Vorftellungserregungen
behandelt werden müffen. Das ift
aber nicht gefchehen. Dagegen kommen nun in dem
Abfchnitt über die Gebundenheit fchon manche Dinge
zur Sprache, deren Bekanntfchaft man überhaupt erft
der Wiffenfchaft, alfo einer Art von Erkenntnifs ,unter
der Form der Freiheit' verdankt; man beachte nur die
zahlreichen Beifpiele von naturwiffenfchaftlicher Erkenntnifs
, an denen der Verf. das Wefen der Erkenntnifs-
formen auch fchon in diefem erften Theile klar zu
machen liebt.

Auch fonft fordern die Darlegungen des Verf. manchen j
Widerfpruch heraus, z. B. die Theorie, wonach das Werden
der menfchlichen Sprache auf eine Vereinbarung unter
den Menfchen zurückgeführt wird. Der Verf. hätte in i
diefem, wie in anderen Fällen, die ,Anfeindungen', welche
die von ihm vertretene Auffaffung erfahren hat, nur
etwas mehr berückfichtigen und gründlicher erwägen
follen, ftatt feine Meinung einfach als ,die einzig zutreffende
und unumftöfslich fichere' zu proclamiren. Dergleichen
Gewaltftreiche erwecken nicht den Eindruck,
dafs man die Probleme hinreichend kennt und tief genug
erfafst hat. Doch der Verf. gleitet gern über Gründe,
die feinen Anflehten entgegenftehen, reichlich chevaleresk
hinweg. Ich glaube nicht, dafs die Schätzung feiner
Leiftung, zu der er fich S. XXIV und XXV felbft bekennt
, von vielen getheilt werden wird.

Bonn. O. Ritfchl.

». Waitz', Theodor, Allgemeine Pädagogik und kleinere pädagogische
Schriften. Vierte, durch Beigaben vermehrte
Auflage, herausgegeben von Prof. Dr. Otto Willmann.
Mit dem Porträt des Verfassers und einer Einleitung
des Herausgebers über Waitz' praktische Philosophie.

Braunschweig, F. Vieweg & Sohn, 1898. (VIII, LXXXVI,
552 S. gr. 8.) M. 5.-

Es gehört zu den erfreulichen Zeichen der Zeit,
dafs die Herausgabe einer neuen Auflage der Allgemeinen
Pädagogik' von Theod. Waitz erforderlich geworden
ift. Die erfte Auflage erfchien 1852, die zweite
und dritte beforgte O. Willmann 1875 und 1882; von
demfelben Gelehrten ift auch die jetzt vorliegende vierte
Auflage veröffentlicht. Sie erfcheint gegenüber der dritten
um einige Zugaben vermehrt. Der Herausgeber hat den
Abdruck der Lebensbefchreibung des Verfaffers, welche
aus der Feder Gerland's in der .Deutfchen Biographie'
erfchienen ift, und den Abdruck der Anzeige der Allgemeinen
Pädagogik', welche C. G. Schubert in der
,Pädagogifchen Revue' 1852 veröffentlicht hat, veranlafst;
auch ift der neuen Auflage das Bild des Verfaffers vor-
angeftellt. Diefe Zugaben zu einem Werke, deffen hervorragende
Bedeutung für die Entwickelung der pädago-
gifchen Wiffenfchaft hier als bekannt vorausgefetzt werden
kann, werden von allen betheiligten Seiten dankbar begrübst
werden, und es darf zugleich der Wunfeh ausge-
fprochen werden, dafs auch die neue Auflage die Zahl
der Waitz'fchen Verehrer in gleichem Mafse, wie die
früheren, vergröfsern möge.

Göttingen. K. Knoke.

Hiibener, J., Das Gefühl in seiner Eigenart und Selbständigkeit

mit besonderer Beziehung auf Herbart und Lotze.
Eine psychologifche Unterfuchung im pädagogischen
Interesse. Dresden, Bleyl & Kaemmerer, 1898. (VIII,
139 S. gr. 8.) M. 2.80

Das pädagogifch-feelforgerifche Intereffe veranlafst
den Verf., in eine erneute Prüfung über das Gefühl einzutreten
, welche in den pfychologifchen Verhandlungen
der jüngften Zeit meift ungebührlich zurückgeftellt wird.
Unter Anerkennung der Förderung, welche die Pfycho-
logie als Wiffenfchaft durch Wundt, Lehmann u. a. erfahren
hat, vertritt er im wefentlichen Lotze's Standpunkt
in der von ihm erörterten Frage und polemifirt mit allem
Nachdruck gegen die, wie er fich ausdrückt, ,moniftifch-
materialiftifchen' Anfchauungen Herbart's und feiner
Schüler, wonach die Gefühle in wefentlicher Abhängigkeit
von dem Vorftellungskreife der Seele gedacht werden.
Mit Recht reclamirt H. für die Seele die Selbftändigkeit
ihres Gefühlslebens und bezeichnet das Gefühl felbft,
Wundt'fcher Anregung folgend, als ,innere Handlung'
der Seele S. 3off.; das Wefen derfelben findet er in dem
ihm eigenthümlichen ,Werth- und Selbftgefühl' S. 37 ff.
Die Unterfuchung zerfällt in fünf Theile; 1. Wefen,
2. Eigenart des Gefühles, 3. Veränderungen im Gefühlsleben
, 4. Eintheilung der Gefühle und 5. Anwendung aut
die Pädagogik. Aus der Menge der intereffanten Ausführungen
hebe ich befonders die Abfchnitte aus dem
zweiten Theile hervor, wo von dem ,religiöfen Gefühle'
S. 45 ff, dem ,Kunftgefühle' S. 54ff und der ,Logik des
Gefühles' S. 65 gehandelt wird. Mit voller Zuftimmung
lieft man die Ausführungen zu dem Satze S. 125b: ,Mehr
Akroamatik in den Unterricht'! und die verftändigen
Bemerkungen S. 127fr., welche überfchrieben find "Pro
und contra Ziller'. Die gefammte Unterfuchung fchliehft
ab mit der Abhandlung über die ,Zucht des Gefühles'
S. 133ff. Dort finden fich die folgenden Sätze, aus denen
man den pädagogifchen Standpunkt des Verf. erkennt:
,die Grundvorausfetzung für die rechte Gefühlsbildung
(des Zöglings) ift keine andere als die, dafs der Lehrende,
der Erziehende felbft nicht nur warmes und dabei zartes
Gefühl befitzt und in fteter Selbftzucht dasfelbe zu
fördern beftrebt ift, fondern dafs er auch, frei von fchüch-
terner oder auch felbftgefälliger, vielleicht gar blafirter
Verfchloffenheit das helle Licht feines Gefühles ftrahlen