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Ausgabe:

1899 Nr. 8

Spalte:

227-233

Autor/Hrsg.:

Holtzmann, Heinrich Julius

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der neutestamentlichen Theologie 1899

Rezensent:

Baldensperger, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung. 1899. Nr. 8.

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hinein noch keinen Kanon gegeben hat, nicht deutlich
hervortritt. Als Beifpiel für diefe, das Eigenartige ver-
wifchende Behandlung fei der Abfchnitt über den älteften
Kanon der oftfyrifchen Kirche hervorgehoben (S. 339 f.).
Die wichtige Notiz hierüber in der doctrina Addaei wird
richtig angeführt. Es ift danach ficher, dafs der Kanon
jener Kirche damals lediglich ,das Evangelium', die Briefe
Pauli und die Apoftelgefchichte umfafste (fo z. B. auch
Zahn, ,Das Diatefferon Tatians S. 90—97). ,Das Evangelium
' ift aber, wie wir aus einer anderen Stelle fehen,
das Diateffaron (Zahn, S. 94 f.). Jene Kirche hatte demnach
nicht unfere vier Evangelien als kanonifche Bücher,
fondern ftatt diefer das Diateffaron. Es fehlten ferner
fämmtliche katholifche Briefe und die Apokalypfe. Statt
dies fcharf hervorzuheben, macht Tr. aus ,dem Evangelium
' ,die Evangelien', betont den Zufammenhang der
oftfyrifchen Kirche mit der römifchen, der aus der Notiz
über die Paulusbriefe fich ergebe, und bemerkt in Betreff
der katholifchen Briefe und der Apokalypfe nur fchüchtern,
dafs von ihnen ,nichts verlaute'. — Im Uebrigen hätte
es uns zweckmäfsig gefchienen, die wichtigften Kanonsver-
zeichnifse (wie z. B. das des Eufebius) im Wortlaut oder
doch im Auszug mitzutheilen. Eine Inhaltsangabe kann
dies nicht erfetzen. — Eine nützliche Beigabe zurKanons-
gefchichte ift die Ueberficht über die Apokryphen des
Neuen Teflaments (S. 368—387). — Auch die Text-
gefchichte ift forgfältig gearbeitet. In der Gefchichte der
Itala und Vulgata ift dem Verf. (was bei feiner fonft guten
Orientirung auffallend ift) die wichtige Unterfuchung von
Burkitt über die Hauptftelle bei Auguftin, De doctrina
christ. II, 14—15 entgangen {The old Latin and the Itala,
in: Texts and Studies ed. by Robinfon IV, 3, 1896). Burkitt
fucht zu zeigen, dafs Auguftin mit feiner Bemerkung in ipsis
autem interpretationibus Itala ceterispraeferatur nicht einen
altlateinifchen Text, fondern die Arbeit des Hieronymus,
alfo die fpäter fogenannte Vulgata im Auge habe (diefe
entftand zu Rom 384; Auguftin's Aeufserung flammt aus
dem Jahre 397; zuftimmend haben fich zu Burkitt's
Unterfuchungen geäufsert: Zahn, Theol.Literaturblatt 1896,
Nr. 31, und v. Dobfchütz, Theol. Litztg. 1897, Nr. 5). —
Beim Evangelium [richtiger Evangeliarium] Hierosolymi-
tanum S. 445 wäre auch die Ausgabe von Lagarde zu
nennen gewefen {Bibliotheca Syriaca 1892), bei Adrian's
Elöaycoyri S. 1 die neue Ausgabe von Göfsling 1887.

Göttingen. E. Schürer.

Holtzmann, Prof. D. Heinr. Jul., Lehrbuch der neutesta-
mentlichen Theologie. 2 Bde. Freiburg i/B., J. C. B.
Mohr, 1896/97. (XVI, 532 u. 512 S. gr. 8).

Subskr.-Preis M. 16.50

Dafs die Recenfion eines Werkes erft lange nach
feinem Erfcheinen fich einftellt, ift nicht immer ein Zeichen
der geringen Bedeutung desfelben. Es kann umgekehrt,
wie im vorliegenden Falle, der Beweis fein für den ganz
aufsergewöhnlichen Werth, der ihm zukommt. Da
übrigens Befprechungen des lieferungsweife veröffentlichten
Werkes geraume Zeit vor Abfchlufs des Ganzen
erfolgt find, fo dient es gewiffermafsen zur Herftellung
des Gleichgewichtes, dafs jetzt noch, nachdem es fchon
lange abgefchloffen vorliegt, darüber referirt wird. Die auf-
merkfame Betrachtung der Holtzmann'fchen Leiftung, zu
deren Beurtheilung ein einmaliges Ueberlefen auch für den
mit dem Stoff und den Fragen Vertrauten keineswegs hinreicht
, hat mich in die fonderbare Lage verfetzt, dafs
alle Bedenken, die in mir auffteigen mochten, die Mängel
und Lücken, die ich wahrnehmen zu können glaubte,
angeüchts des Pofitiven, das geboten wird, immer wieder
in ihrer Bedeutung zufammenfchrumpften und fich faft
in Nichts auflöften. Das ift vielleicht eine für die Aufgabe
des Referenten nicht fonderlich geeignete Stimmung. Auf
jeden Fall fühle ich mich dem vorliegenden Werke

gegenüber zum handwerksmäfsigen Recenfionsgefchäft,
das auf Grund der Capitel- oder Paragraphen üb erfchriften
den Inhalt analyhrt, Licht und Schatten vertheilt und
einen Schiedsfpruch fällt, ganz untüchtig, auch wenn der
verfügbare Raum diefer Zeitfchrift ein iblches Vorgehen
nicht völlig verböte. Wenn ich im Folgenden aus der
unendlichen Fülle der behandelten Probleme einige
wenige herausgreife, fo gefchieht es durchweg mit dem
Bewufstfein, dafs ich in Hinficht der Wichtigkeit der Materien
und der Gediegenheit ihrer Verarbeitung ebenfo
gut noch hundert andere Punkte hätte auswählen können.

Aus Gründen, die nicht in der Sache felbft liegen,
bemüht fich H., feine Darftellung in den engen Grenzen
des neut. Kanons zu halten. Wie weit aber der Ueber-
führungsprocefs der neut. Theologie in den Gefammt-
organismus der Wiffenfchaften fchon, fo zu fagen von
felbft, von innen heraus gediehen ift, fieht man gerade
bei der H.fchen Leiftung am deutlichften. Der kanonifche
Rahmen ift allenthalben gefprengt. Nicht nur bietet
gleich das erfte Capitel der erften Hälfte eine umfaffende
Rundfchau über das geiftige Vorleben des Judenthums
vor dem Eintritt des Chriftenthums dar, fondern es finden
fich auch auf Schritt und Tritt durch die beiden Bände
hindurch Hinweife auf Parallelen, Fortentwickelungen
und Verfchiebungen auf aufserkanonifchem Gebiete, und
es werden zahlreiche Belege aus den verfchiedenften
Zweigen der profanen wiffenfchaftlichen Literatur angemerkt
. Bei gewiffen Abfchnitten des ,die theologifchen
Probleme des Urchriftenthums' behandelnden Capitels
(z. B. 5 oder 12), mufs fich der Lefer fragen, ob er es mit
einem neuteftamentlichen oder nicht vielmehr mit einem
dogmengefchichtlichen Werke zu thun hat. Wenn trotzdem
diefe neue Orientirung fich nicht durchfetzt, wenn die
Anlage im Grofsen und Ganzen und die herkömmliche Dar-
j ftellungsweife nur eine relativ geringe Umgeftaltung er-
! fahren haben, fo wird eben der Verfaffer, dem ficher ein
j höheres Ideal vorfchwebt, in den von ihm gebrachten Neuerungen
das zur Zeit Erreichbare erblickt haben. Vielleicht
liefser fich auch von der Empfindung leiten, dafs durch die
Befchränkung die Continuität der wiffenfchaftlichen Arbeit
am beften gewahrt und für den theologifchen Fortfehritt bei
allen Parteien beffer geforgt werde als durch eine völlige
Neufchöpfung. Denn zweifellos werden auch fo noch
Manche z. B. über die der religiöfen und fittlichen Gedankenwelt
des Judenthums von H. gewidmeten Paragraphen
als über fremdartige Beftandtheile der neut.
Theologie die Köpfe fchütteln.

Gerade in diefem Theil des Werkes aber fehen wir
eine Hauptetappe auf dem Wege zu dem endgültigen
gefchichtlichen Verftändnifs des Chriftenthums. Es werden
wohl fpätere Gefchlechter ftaunen über den Anfpruch,
den eine wiffenfchaftlich fich nennende Theologie fo
lange erhoben hat, das Chriftenthum direct an das A. T.
mit Uebergehung der dazwifchenliegenden Jahrhunderte
anfchliefsen zu können. Den zaghaften Zugeftändnifsen,
die in der Gegenwart von Tag zu Tag fich mehren, wird
bald die Einficht folgen, dafs der jüdifche Factor noch
in viel gröfserem Umfange zur Erklärung der urchrift-
lichen Religion heranzuziehen ift. Diefe grundlegende
Bedeutung der jüdifchen Religion für das gefammte
Urchriftenthum würde wohl auch bei H. noch mehr in
die Augen fpringen, wenn er die Darftellung derfelben
als ein eigenes Hauptftück allem andern vorausgefchickt
hätte, ftatt fie als erftes Capitel dem Abfchnitt über
Jefus und die Evangeliften' unterzuordnen. Denn nicht
nur für die Lehre Jefu bildet die jüdifche Gedankenwelt
die religionsgefchichtliche Folie, für den Paulinismus
z. B. ift Vieles, was hier geboten wird, ebenfo die
Vorbedingung. Soll das Judenthum vor allem von der
Seite und in den Punkten gezeichnet werden, welche es
als die Vorbereitung des Chriftenthums erfcheinen laffen>
fo bringt das erfte Capitel bei H. zu viel und zu wenig'
Die Ausführungen über den Pharifäismus und den Saddu-