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Ausgabe:

1898 Nr. 4

Spalte:

117-122

Autor/Hrsg.:

Oettingen, Alexander von

Titel/Untertitel:

Lutherische Dogmatik. In 2 Bd 1898

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 4. 118

nutzt werden, und möge diefer leicht zu erreichende
Belitz manchem auch die Anregung geben, fich mit der
Gedankenwelt eines der gröfsten Theologen zu befchäf-
tigen, deren Verftändnifs allerdings eine ernflere Arbeit
und ein eindringlicheres Studium erfordert, als es fich
leider heutzutage unter dem Einflufs bekannter Verhält-
nifse der theologifche Durchfchnittsftudent zuzumuthen
pflegt.

Die neue Ausgabe ift etwas enger gedruckt, als die
mir vorliegende dritte Auflage von 1835; aber doch nicht
fo eng, dafs fie nicht bequem und ohne Anflrengung zu
lefen wäre. Dafs die von Schleiermacher beliebte Orthographie
beibehalten ift, kann nur gebilligt werden. Un-
gefchickt find dagegen die Seitenüberfchriften, die in der
Einleitung und im zweiten Theil blofs die von Schleiermacher
gegebenen ganz allgemein gehaltenen Titel der
Capitel und Abfchnitte wiederbringen und im erflen Theil
fogar nichts weiter, als die Nummern der Abfchnitte. Da
wäre es doch immer noch überfichtlicher gewefen, wie
in der 3. Auflage, einfach nur die Paragraphennummern
neben die Seitenzahl zu Hellen. Aufserdem ift es zu
rügen, dafs nicht an dem Rand die Seitenzahlen des
Originaldrucks der zweiten Auflage von 1830 vermerkt
worden find. Indem dies unterblieben ift, wird nur einem
wilden Citiren Vorfchub geleiftet, oder vielmehr jedem,
der zu wiffenfchaftlich-literarifchen Zwecken die neue
Ausgabe gebraucht und das dabei im Grunde felbftver-
ftändliche Bedürfnifs hat, in einer für jedermann controlir-
baren Weife genau zu citiren, wird es nicht erfpart fein,
auch noch eine der älteren Ausgaben der Glaubenslehre
zu vergleichen. Dem vorliegenden Abdruck mangelt
alfo leider eine Bedingung feiner allgemeinen Brauchbarkeit
, die ihm doch ohne viel Mühe hätte mitgegeben
werden können. Dennoch fei er allen, die mit dem
Studium Schleiermacher's keine fchriftftellerifchen Abrichten
verbinden, zur Anfchaffung warm empfohlen.
Bonn. O. Ritfchl.

Oettingen, D. Alexander v., Lutherische Dogmatik. In

2Bdn. 1. Band: Principienlehre. Apologetifche Grundlegung
zur Dogmatik. München, C. H. Beck, 1897.
(XX, 478 S. m. 1 Tafel). M. 8.— ; geb. M. 10.—

Wenn ein Altmeifter in der fyftematifchen Theologie
nach dem Abfchlufs einer langjährigen fegensreichen
Lehrthätigkeit feine Dogmatik, ,die Frucht fünfzigjähriger
Studien', wie er felbft fie nennt, der Oeffentlichkeit vorlegt
, fo ift dies eine Gabe, die auch folche Fachgenoffen
willkommen heifsen dürfen, welche fich mehr oder
weniger grofser Differenzen mit dem ehrwürdigen Verf.
bewufst find. Dem zunächft erfchienenen erften Bande,
der die .Principienlehre' enthält, will Oettingen bald im
zweiten Bande das .Syftem der chriftlichen Heilswahrheit'
und als befonderes Buch auch noch eine ,Gefchichte der
Dogmatik' folgen laffen. Dem Verf. ift es in feiner ,lu-
therifchen Dogmatik', der er das Motto theologia enteis
theologia Inas vorangeftellt hat, um .friedliche Ver-
ftändigung über die tiefften Probleme chriftlicher Welt-
anfehauung' zu thun, und er erwartet auch von feinen 1
Gegnern das Zugeftändnifs, dafs ihm die .confeffionell I
zugefpitzte Streittheologie fern liege'. In der That
zeichnet fich der Verf., der es fchon vor faft 40 Jahren beklagen
') mufste, dafs junge Geiftliche, kaum der Univer-
fität entwachfen, oft mit einem Sprung in eine vollendete
Kirchlichkeit hineingerathen und fich mit ein paar Schlagwörtern
über Schleiermacher hinwegfetzen, vor dem
grofsen Haufen feiner Gefinnungsgenoffen fowohl durch
eine relative Würdigung abweichender theologifcher
Richtungen und ihrer Vertreter aus, als auch durch ein
unbefangenes Urtheil über Leiftungen und Anfprüche

1) Dorpater Zeitfchrift für Theologie und Kirche. 1859. S.

ihm in der Sache naheftehender Theologen. ,Mit wiederholten
öffentlichen „Zeugnifsen" gegen heterodoxe theologifche
Profefforen', erklärt er, ,untergräbt man nur das
Vertrauen zu der guten Sache, der wir dienen . . . .
Wo man das articulirte Dogma, fei es mit Berufung auf
das kirchliche Bekenntnifs oder auf das „infallible Bibel-
buch" derart in den Vordergrund ftellt, dafs die gehor-
fame Annahme zur Heilsbedingung für jeden Einzelnen
gemacht wird, da ift man fchon auf halbem Wege nach
Rom. Ernft flachende Gemüther fchreckt man dadurch
ab und erzeugt in den „Gläubigen" nur jene unerquickliche
Sicherheit, die ohne tieferes Selbftgericht und
innere Anfechtung, ohne ernftes Ringen und Forfchen
fich des „abfoluten" Wahrheitsbefitzes auf Grund feft-
ftehender „Auctorität" getröftet. Solch ein meift erfahr-
ungslofes „Ja" ift nicht nur werthlos; es ift viel fchlimmer,
als ein redliches Schwanken zwifchen Ja und Nein ....
Die fertigen Jachriften .... find Mifsbildungen, die der
proteftantifchen Gemeinfchaft nicht zur Ehre gereichen.
Und die im Sinne diefes kampffcheuen und erfahrungs-
lofen Ja-Chriftenthums arbeitende evangelifche Theologie
verdient diefen Namen nicht. Da erfcheint es gevviffer-
mafsen wie eine providentielle Fügung, dafs ihr die
„ficheren" Stützen durch die moderne kritifche Forfch-
ung weggeriffen werden' (S. VIII. f). ,Die Anerkennung
ungelöfter Probleme und offener Fragen ift für den dog-
matifchen Principienlehrer ein Beweis feiner wiffenfehaft-
lichen Bildung und echt chriftlichen Befcheidenheit.
Denn auch der chriftliche Forfcher fleht — wie nach
Luthers Ausdruck der wahre Chrift felber — nicht
im Gewordenfein, fondern im Werden'. (S. 37). „Fertig"
fein im Gefühl des Befitzes der „abfoluten", weil von
Gott felbft „geoffenbarten" Wahrheit, ausruhen wollen
im Bewufstfein einer vollkommenen Gotteserkennt-
nifs, einer fchwarz auf weifs verbrieften Selbftmani-
feftation göttlichen Wefens heifst fetifchartigen Götzen-
dienft treiben' (S. 91). ,Es giebt in der That auch
eine aus dem Jntellectualismus flammende und ver-
ftandesmäfsig fich zufpitzende Frömmigkeit, die infofern
abergläubifche Geftalt gewinnt, als fie die Glaubensieh re,
das begrifflich entwickelte „Dogma", die theologifch
ausgeprägte „Formel" zum Kennzeichen correcten „felig-
machenden" Glaubens erhebt. Da entfteht auf intellec-
tualiftifchem Boden eine fchulmäfsige Richtung, ein
fcholaftifcher Dogmatismus, der in der krankhaft zuge-
fpitzten „Orthodoxie" älterer und neuerer Zeit feine zweifelhaften
Triumphe feiert. Ja, diefe Erfchtinungsform
des Jntellectualismus ift fchier die abfehreckendfte, weil
fie das hohe Gut der reinen Lehre, das „Dogma" als
folches zum Centraipunkt des Glaubens machen will,
thatfächlich aber dadurch fchädigt, dafs fie den Teufel
der Ungewifsheit durch den Beelzebub der Sicherheit austreibt
! (S. 209). ,Gilt mir die „Confeflion" oder das
Sonderbekenntnifs von vornherein als dogmatifch unverrückbare
Schranke oder als ungeprüft hinzunehmende,
alleinfeligmachende Heilswahrheit, fo entfteht jener
widrige, aus dem Flcifch flammende, intolerante Parteieifer
, der für das Wahrheitsmoment in der Anfchauung
des Gegners blind macht und den echt chriftlichen,
gefunden Unionstrieb lähmt' (S. 429). Möge der
Verf., der folche und ähnliche beherzigungswerthe
Worte der heutzutage in der Kirche vorherrschenden
Richtung mit kräftigen Zügen ins Stammbuch fchreibt,
einen nachhaltigeren Eindruck damit erzielen, als es unfer
einem bei gleichartiger Kritik derfelben Erfcheinung be-
fchieden zu fein pflegt!

Der Verf. vertritt eine auf lebendiger chriftlicher
Erfahrung beruhende Theologie, in der noch gewiffe
religiöfe Motive der Erweckungszeit durchklingen. Daher
flammt fein Begriff von der Frömmigkeit, demgemäfs
,nur aus den tiefften Schmerzen des Selbftgerichts ....
jenes zum Gott der Gnade fich aufringende kindliche
Vertrauen geboren werden' kann (S. 133; vergl. S. 66 ff);