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Ausgabe:

1898 Nr. 2

Spalte:

54-55

Autor/Hrsg.:

Wiegand, Friedr.

Titel/Untertitel:

Das Homiliarium Karls des Grossen auf seine ursprünglische Gestalt hin untersucht 1898

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 2.

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Die Grundzüge diefer mit unglaublicher Breite dargelegten
Gedanken bin ich geneigt für richtig zu halten,
z. Th. entgegen dem, was ich vor 16 Jahren ausgeführt
habe. Ueber das Detail ift zumeift ein fachliches Urtheil
nicht möglich. Das liegt an den Quellenverhältniffen.
Verf. operirt vornehmlich mit den Ancicnt laws of Ireland
(1865—73) und den Ancient laws of Wales (1841fr.) und
mit Heiligenleben. Dafs jene Gefetze erft in Hand

fetzungen über die fonftige frühmittelalterliche Ent-
wickelung würde man in Kauf nehmen, wenn man über
die walifchen Verhältniffe ftets in fich klare Auskunft erhielte
. Doch ift mirs nicht geglückt, über das Verhältnifs
des tribe of the saint und des tribe of the land auf Grund
der Ausführungen des Verfaffers mir eine fo deutliche
Vorftellung zu machen, dafs, was der Verf. in Bezug auf
die Einrichtung der Klöfter und die Rekrutirung des

fchriften des 13. Jahrhunderts vorliegen (S. 9 und 13), I Klerus ausführt, als eine auch im Detail einleuchtende

dafs die Heiligenleben gleichfalls nicht altkeltifchen Ur
fprungs find (S. 452), ift dem Verf. natürlich nicht unbekannt
. Doch geht er von der Vorausfetzung aus, dafs
in den zweifellos in ältere Zeit zurückgehenden Gefetzen
altkeltifche Anfchauungen nachleben, und dafs in den
Heiligenleben altkeltifche Vorftellungen felbft durch la-
teinifch-römifche Uebermalung noch hindurchfcheinen.
Die Richtigkeit diefer Gedanken wird kein Vernünftiger
beftreiten. Allein, wenn etwa die kirchlichen Verhältniffe
des fünften Jahrhunderts andere waren als die desfechften
und fiebenten, — welche Spur davon wird man in den
fpäteren Quellen zu finden erwarten dürfen? Und welche
Vorficht erfordern derartige Rückfchlüffe! Welch weiten
Spielraum läfst die Vieldeutigkeit dunkler Gefetzesftellen
der konftruirenden Phantafie (vgl. z. B. S. 290fr)! Bedenkt
man nun, dafs der Verf. nur in feltenen Fällen an be-
fondere Quellenftellen anknüpft, ja feiten Einzelbeläge
giebt, und erwägt man ferner, dafs fein Vertrauen zu den

Confequenz fich mir darfteilte. Auch den Abfchnitt über
die Heiligen habe ich nicht lefen können, ohne in Gedanken
mir viele Fragezeichen zu machen. Und ich
glaube nicht, dafs nur die durch des Verf.'s Weitfchweifig-
keit hervorgerufene Ungeduld daran die Schuld trägt.
Die Hauptfchuld tragen die Quellen. Aber Verf. hätte
das nicht verkleinern dürfen.

Sehe ich in dem allen recht, fo wird es zwar nicht
möglich fein, des Verfaffers Refultate als Ergebnifse der
Forfchung einfach hinzunehmen. Aber die kirchen-
gefchichtliche Localforfchung wird an ihm nicht vorüber
gehen dürfen. Selbft wenn die ernfte Arbeit des Sichhineindenkens
in genau nicht mehr erkennbare Zuftände,
zu der Verf. fich gezwungen hat, in noch höherem Mafse,
als es mir wahrfcheinlich fcheint, zu irrigen Refultaten
geführt hätte, anregend bliebe fie für die Forfchung doch.
Und nicht nur für die Localforfchung. Wenn man er-
meffen will, in welchem Grade die Verfaffung der rö-

.hiftorifch nicht zuverläffigen' hagiographifchen Quellen , mifchen Kirche durch die Munizipalverfaffung des rö-
(vita Germani S. 109. 112; catalogus sanctorum S. 156 u. ö.) I mifchen Reiches bedingt gewefen ift, fo können die
und anderen verdächtigen Producten (wie dem letzten Ab- | kirchlichen Verhältniffe in Wales und Irland ebenfo wie
fchnitt der sec. epist. Gildae, Haddan and Stubbs, Councils I, J die Islands eine lehrreiche Folie für folche Studien

abgeben.

Halle a. S. Loofs.

512 f. vgl. 108 Anm.) fehr oft diefelbe Unbefangenheit
zeigt, die an den meiften englifch gefchriebenen Büchern
über die keltifchen Kirchen auffällt, fo wird man ver-
ftehen, dafs ein ficheres Urtheil über die Ausführungen

diefes Buches nur demjenigen möglich ift, der fämmtliche "legand, Pnvatdoc. Lic. Dr. Fnedr., Das Homiliarium

von ihm benutzten Quellen gleich gut kennt und rieh- Karls des Grossen auf seine ursprüngliche Gestalt hin

tiger werthet als B. Ich kann nicht leugnen, dafs ich allem untersucht. (Studien zur Gefchichte der Theologie u.

Detail fkeptifch gegenüber flehe. Diefe Skepfis wird der Kirche, hrsg. v. N. Bonwetfch u. R. Seeberg I Bd

durch einen dreifachen Mangel des Buches noch beftärkt: „ tj~k t : a rw-u vr ur o ,f ' ^ f

der eine ift die Freude des Verfaffers an Uebertreibungen, | 2" "eft) Le,pz,e;' A" Delchert NachU 1897. (V, 96 S.

der andere feine offenbar fehr geringe Kenntnifs von den 2n M, 2 —

kirchlichen Zuftänden der anderen abendländifchen , Das von Paulus Diaconus zwifchen 786 und 797 für

Kirchen im frühen Mittelalter, der dritte die Undeut- i die Officia nocturna der Kleriker verfafste Homiliarium

lichkeit, mit der trotz aller Breite nicht wenige Vor- Karls des Grofsen hat für die Gefchichte des Predigt-

ftellungen Bfs behaftet bleiben. In Bezug auf das Erftere j wefens und der Perikopen des Mittelalters einen hervor-

mufs freilich beachtet werden, dafs der Verf. in der 1 ragenden Werth. Gröfser ift der Werth für die luthe-

Vorrede ausdrücklich um Entfchuldigung dafür bittet, dafs
er behufs deutlicher Markirung feiner Pofition fich ftarker
Ausdrücke bedient habe. Doch ift nur der Ausdruck anfechtbar
, wenn er von ,principieller' Differenz zwifchen
keltifcher und lateinifcher Kirche redet (S. 12), wenn er
das walifche Chriftenthum im Unterfchied von dem
anderer Länder in der gleichen Zeit überfirnifstes Heidenthum
nennt (S. 17), wenn er fagt (S. 45), dafs es in Irland
eine Zeit gegeben haben müffe, da es eine Auszeichnung
war, kein Heiliger zu fein u. f. w.? Zumeift
hängen derartige Urtheile mit dem zweiten der oben genannten
Mängel zufammen. Durchgehends operirt Verf.
mit einer Vorftellung vom lateinifchen Chriftenthum, die
erft auf das päpftlich gewordene Mittelalter pafst. Wie

rifche Kirche, deren von Luther aeeeptirte evangelifche
Perikopen die des Homiliariums find, freilich nach der
Luther vorliegenden durch Zufätze und Streichungen
mehr oder weniger veränderten Form. Den urfprüng-
lichen Text kannte man bisher nur aus der in Karlsruhe
befindlichen Reichenauer Handfchrift {Codex Augicnsis),
den F?rnft Ranke fieben Jahre nach feinem Werke über die
römifchen Perikopen in freilich fehr verwahrloftem und
lückenhaftem Zuftande ans Licht gezogen hatte (Stud.
u. Krit. 1855 S. 382 f.). Friedrich Wiegand ift es nun
geglückt, in der Münchener Bibliothek unter der No. 4533/34
einen vollftändigen Doppelcodex aus der Wende des
10. und 11. Jahrh. zu entdecken. Er flammt aus Benediktbeuern
und ift wahrfcheinlich eine Abfchrift des

es mit chriftlicher Sitte und chriftlichem Glauben bei den 1 Homiliarexemplares, das Karl der Grofse dem Abte
Franken, den Germanen, den Gothen im frühen Mittel- j Ehland zum Gefchenk machte, alfo etwa 200 Jahre (W.

alter ausfah, das ift ihm offenbar nicht genauer bekannt;
und ftand wirklich im frühen Mittelalter fonft die Kirche
über dem Staate (S. 21)? Dafs Kanonifationen erft feit

schreibt: ico Jahre) jünger als die Urfchrift. Der hohe
Werth des Fundes ergiebt fich u. a. daraus, dafs Migne
in P. L. 95 einen werthlofen Kölner Druck von 1539

dem 10. Jahrhundert allmählig aufkommen, fcheint B. zu Grunde legte, Cruel in feiner Gefchichte der deutfremd
zu fein (S. 451). Und kann man im Ernft die fchen Predigt im M. A. ebenfalls einem fpäteren Druck
Frage benediktinifchen Urfprungs der altirifchen und alt- folgte, und Linfenmayer in feiner Gefchichte der Predigt
walifchen Klöfter discutiren (S. 147), wenn man die Ge- in Deutfchland von Karl d. Gr. bis zum Ausgange des
fchichte des benediktinifchen Mönchthums kennt? Gegen 14. Jahrh. fich auf eine gedruckte Ausgabe von 1482 ver-
Montalembert's Begriffe lohnt es fich doch nicht zu fechten. 1 liefs. Wiegand hat 15 Codices, die kleinere Stücke des
Doch die Uebertreibungen und die unrichtigen Voraus- Homiliars enthalten, zur Vergleichung herangezogen; er