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Ausgabe:

1898

Spalte:

642-645

Autor/Hrsg.:

Hardeland, August

Titel/Untertitel:

Geschichte der speciellen Seelsorge in der vorreformatorischen Kirche und der Kirche der Reformation. II. Hälfte 1898

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1S98. Nr. 24.

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vergleichbarer Vorgänge in einen Träger, in das Atom
verlegt und damit das Problem von Neuem ftellt, ftatt
es zu löfen. Von anderer Seite, durch feine Erkenntnifs-
theorie, hat Kant die uralte Naivetät des Sinnenglaubens,
die dem Materialismus zu Grunde liegt, erfchüttert und
feine Kritik hat durch die moderne Phyfiologie der
Sinnesorgane ihre Betätigung gefunden. Am wenigften
vermag der Materialismus den Thatfachen des Selbft-
bewufstfeins und der Selbftbeftimmung gerecht zu werden.
Der Verf. ift ein entfchiedener Vertreter der Wahlfreiheit
, unterfchätzt aber doch zu fehr die ethifche Brauchbarkeit
eines gemäfsigten Determinismus.

Ein letztes Capitel behandelt das Gottesbewufst-
fein. Das Dafein Gottes entzieht fich allerdings einer
mathematifch ficheren Beweisführung. ,Der rechte Beweis
der flöchten Lebenswahrheit it der Thatbeweis ihrer
feligmachenden Kraft' (S. 207). Das Gottesbewufst-
fein felbt aber, ,ein urfprüngliches Gefühl der menfch-
lichen Seele', it eine extenfiv und intenfiv alle anderen
Geitesmächte überragende Thatfache, die fich wie auch
die äufsere Gefetzlichkeit und Ordnung in der Natur
befriedigend nur erklären läfst als Wirkung eines unendlichen
, allmächtigen und allgegenwärtigen Wefens.

Der Verf. bietet eine alles Wefentliche umfaffende
und in der Form — abgefehen von tereotypen Wendungen
(z. B. ,der berühmte Reformator der Entwickelungs-
gefchichte K. E. von Bär' S. 107, 113, "6.) — angenehm
lesbare Widerlegung des Materialismus. Sein Buch hat
nur eine empfindliche Lücke: es läfst eine Behandlung
des von Marx ausgegangenen Gefchichtsmaterialis-
mus vermiffen. Die von dem Verf. citirten ,Führer der
focialen Bewegung' würden daher feine Beweisführung
fchon deshalb abweifen, weil fiefich nicht in erterLinie auf
eine materialitifch-pfychologifche Theorie über das Ver-
hältnifs von Leib und Seele, fondern auf die als ge-
fchichtliche Thatfache behauptete durchgängige Abhängigkeit
der Menfchheitsgefchichte von der Productions-
weife des materiellen Lebens berufen wollen.

Riedlingen a. D. Th. Elfenhans.

Spicker, Prof. Dr. Gideon, Der Kampf zweier Weltanschauungen
. Eine Kritik der alten und neueten Philofophie
mit Einfchlufs der chritlichen Offenbarung. Stuttgart,
F. Frommann's Verl., 1898. (VIII, 302 S. gr. 8.)

M. 5.-

Diefes Buch, das das frühere Werk des Verfaffers
über die ,Urfachen des Verfalls der Philofophie' theils
begründen, theils ergänzen foll, beteht aus zwei dem
Umfange nach ziemlich gleichmäfsigen Theten, wovon
der erfte mit der Grundlage, der andere mit dem Endzweck
der Philofophie fich befafst, beides unter ftändigem
Hinblick auf deren gefchichtliche Entwickelung. ,In
diefem Begiiff fieht der Verfaffer die einzige Möglichkeit,
das Wefen der Philofophie überhaupt und die Beftrebungen
der Gegenwart insbefondere richtig beurtheilen zu können'.
Es war demfelben wefentlich darum zu thun, das Ziel
der Philofophie, das er .unter der selbftverftändlichen
Vorausfetzung der Empirie vor allem in der Transcen-
dentalität' erblickt, zu beleuchten. ,Wer einmal auf den
Boden der Gefchichte fich ftellt und die grofsen Perioden
der Vergangenheit, in welchen die Metaphyfik immer die
Hauptrolle fpielt, ins Auge fafst, der kann logifcher Weife
um diefe Confequenz nicht herumkommen'. Daher auch
in den beiden Theten .Hiftorifche Begründung des Standpunktes
' (21—166) und,KritifcheEntwickelung desPrinzips'
(167—302) die Kritik gegen Kant, ,den gröfsten und ge-
fährlichften Antimetaphyfiker' einen fehr breiten Raum
einnimmt. Diefe vorwiegend kritifche Schrift foll .binnen
kurzem' durch ein ,fynthetifches Werk' ergänzt werden,
welches die in Auslieht geftellte Aufgabe ihrer Löfung
näher zu führen unternehmen wird.

In diefem Blatte dürften befonders die Ausführungen
| des zweiten Theiles, welche in das theologifche Gebiet
eingreifen, erwähnt und mit Intereffe verfolgt werden.
Das .Befremden, welches das Hereinziehen theologifcher
Lehrfätze und Anflehten, hervorrufen möchte', fucht der
Verf. zu zerftreuen. .Wenn der Lefer bedenkt, wie viel
| allgemeine Wahrheiten im Chriftenthum der Idee nach
I enthalten find; welche Macht dasfelbe noch heute auf
1 fo viele Gemüther ausübt, zugleich aber in feiner ftarren
J unveränderlichen Form dem freien Forfcher und Denker
auf allen Gebieten hinderlich, ja feindlich entgegenfleht:
dann wird er eine Prüfung auf feinen philofophifchen,
fittlichen und religiöfen Gehalt nicht für überflüffig erachten
. Die chriftliche Theologie ift eben nicht blofs
Religion, wie fie im Alten und Neuen Teftament fchlicht
und erhebend zum Ausdruck kommt; fondern fie ift eine
Verbindung von Mythe, Religion und Metaphyfik. Hier
j aber gilt es, das Wefentliche vom Zufälligen zu unter-
: fcheiden und den Kern von der Schale zu trennen'. Die
j .Kritik des Orthodoxismus' (S. 248 f.) enthält zwar manch
treffende Bemerkung und regt zu fruchtbarem Nachdenken
an; noch öfter aber fordert fie theils durch fchiefe
Problemftellung, theils durch Mangel an hiftorifchem oder
| religiöfem Verftändnifs die Gegenkritik fehr beftimmt

■ heraus. In eine Einzeldiscuffion können wir hier um fo
! weniger eingehen, als die prinzipiellen, zumal die erkennt-
j nifstheoretifchen Fragen zuerft erledigt werden müfsten.
1 Die Darfteilung des Verf. ift fehr lebendig und zeugt von
I einer den fchwierigen Stoff völlig beherrfchenden Ge-

ftaltungskraft; fein Buch wird deshalb auch zweifellos

■ gebildete Laien erreichen, die aus demfelben, wenn auch
nicht ,eine Weltanfchauung, in welcher Religion, Natur-
wiffenfehaft und Philofophie übereinftimmen', doch ge-

J wifs geiftige Förderung und Belehrung fchöpfen werden.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Hardeland, Superint. Auguft, Geschichte der speciellen
Seelsorge in der vorreformatorifchen Kirche und der
Kirche der Reformation. II. Hälfte. Berlin, Reuther
& Reichard, 1898. (V. u. S. 285—533 gr. 8.) 7.—

Auf die erfte Hälfte feines Werkes, die in No. 13
der Th. L.-Ztg. 1898 zur Anzeige gebracht ift, hat der
Herr Verfaffer die vorliegende zweite Hälfte bald folgen
laffen. Sie enthält als zweites Buch die Gefchichte der
fpeciellen Seelforge in der Kirche der Reformation; die
erfte Abtheilung (S. 237—414) behandelt die Gefchichte
von der Reformation bis zur Periode des Pietismus, die
zweite Abtheilung die Gefchichte von der Periode des
Pietismus bis zur Gegenwart (6. 415—527); ein Perfonen-
und Sachregifter und ein Inhaltsverzeichnifs (aber nur
über die zweite Hälfte des Buches; das Verzeichnifs über
die erfte Hälfte fleht am Anfang diefer) befchliefst das
Werk.

Der Herr Verfaffer befchtänkt feine Darftellung, abgefehen
von den kurzen Ausführungen über Calvin und

| a Lasco, auf die reformatorifche Kirche Deutfchlands.

j Die deutfehe Schweiz ift nicht erwähnt, und, was vielleicht
noch empfindlicher ift, auch Grofsbritannien ift
von aller Berückfichtigung ausgefchloffen. Die Anfchau-
ungen und die Praxis der Puritaner im 17. Jahrhundert,
die der Diffenters feit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts
bis hin zu der bei aller Wunderlichkeit doch
keineswegs bedeutungslofen focialen Whkfamkeit der

I Heilsarmee in unferen Tagen,—das Alles hätte nicht über-
gangen werden follen. Die Vernachläffigung hat auch auf
die Darftellung der Gefchichte der Seelforge in Deutfchland

| einen nachtheiligen Einflufs. TheophilGrofsgebauer

I (t 1661) fchliefst fich in feinem Buch .Wächterftimme. Auss
demverwüftetenZion'(i66i) ausdrücklichanBaily's Wa.m
pietatis an; der Pietismus des 18. Jahrhunderts die Beftrebungen
der Chriftenthumsgefellfchaft, der' Inneren