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Ausgabe:

1898 Nr. 24

Spalte:

639-641

Autor/Hrsg.:

Menzi, Theodor

Titel/Untertitel:

Der Materialismus vor dem Richterstuhl der Wissenschaft 1898

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 24.

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wenn es bei religiös- fittlicher Anfchauungsweife zum
Problem der Theodicee wird, feine eigentliche Schärfe 1
und Schwierigkeit bekommt. Richtig bemerkt der Verf., I
dafs es für den unreligiöfen und unfittlichen Menfchen
keine wirkliche Ueberwindung des Uebels giebt, dafs j
für ihn der Peffinismus die confequente Anfchauung ift
(S. 114). Aber ein folcher Menfch findet doch zugleich
in feiner naturaliftifchen, caufalen Weltanfchauung, nach
welcher alle Gefchehnifse, ob fie von den Menfchen als
gut oder als übel empfunden werden, mit gleichmäfsiger
Nothwendigkeit im gegebenen Weltbeftande begründet
find, eine feinen Verftand befriedigende Erklärung des J
Uebels. Ihren fcharfen Stachel bekommt die Frage nach
dem Uebel erft dann, wenn die religiöse Anfchauung, iu
welcher der Menfch fich und die ganze Welt von der
Gottheit abhängig fühlt, verbunden ift mit einem folchen j
Gefühle für den Werth des Sittlichen, dafs dem Men- I
fchen nur eine durch die fittlichen Principien der Güte
und Gerechtigkeit geregelte Weltordnung als berechtigt j
und der Gottheit würdig erfcheint. Hätte der Verf. diefes
religiös-fittliche Begründetfein des Problems der Theodicee
hervorgehoben, fo würde er auch wohl deutlicher,
als es jetzt gefchehen ift, betont haben, dafs es nicht reli- j
giös-fittliche Anfchauung überhaupt, fondern nur eine
beftimmte Art oder Stufe derfelben, die fpeciell chrift-
lich-religiöfe Gefammtanfchauung ift, welche eine befriedigende
Löfung jenes Problems giebt. Der Verf. hätte
meines Erachtens bei diefer Löfung, die er in richtigem j
chriftlichem Sinne darbietet, auch die Schranken, mit j
denen fie behaftet bleibt, kräftiger hervorheben dürfen.
Denn wenn man auch bei fittlicher Anfchauung die Nothwendigkeit
von Uebeln als Mittel für den Zweck der
fittlichen Erziehung und Charakterbildung und infofern i
den Werth der Uebel im Allgemeinen einzufetten vermag
, fo ift es doch bei unzähligen einzelnen Uebeln
unerkennbar, inwiefern fie diefem Zwecke dienen können,
den fie vielmehr zu hindern fcheinen. Der fromme |
Chrift kann freilich unerfchüttlich den Glauben fefthalten,
dafs auch die ihm unverftändlichen Uebel durch die J
väterliche, auf den Zweck des Reiches Gottes gerichtete
Liebe Gottes bedingt find. Gleichwohl braucht er nicht
das Eingeftändnifs zu fcheuen, dafs folche Uebel für feine
gefchöpflich befchränkte Erkenntnifs Räthfel find. Auch
bei der hiftorifchen Betrachtung, welche die Gefchichte
der Menfchheit als Entwickelung auf ein religiös-fittliches
Ziel hin zu verftehen fucht, bleiben foviel Räthfel beliehen
, dafs es nie möglich fein wird, auf dem Wege der
hiftorifchen Induction einen Beweis für die Richtigkeit
der chriftlich-fittlichen Weltanfchauung zu gewinnen. Man
mufs der Wahrheit diefer Weltanfchauung fchon anderweitig
gewifs geworden fein, um fie in der eigenen Lebensführung
wie in den Gefchicken anderer Menfchen und in
der gefchichtlichen Entwickelung der Menfchheit im
Ganzen beftätigt zu finden.

Der Verf. hat feine, Herrn Prof. Külpe in Würzburg
gewidmete Arbeit nicht in buchhändlerifchen Verlag gegeben
. Es wäre fchade, wenn fie aus diefem Grunde
ganz unbeachtet bliebe. Zu haben ift fie beim Verf. felbft,
Pfarrer in Unter-Eubigheim (Baden), und bei Herrn F.
Sartorius in Strafsburg i. E., Zabernerring 6.

Jena. H. H. Wen dt.

Menzi, Theodor, Der Materialismus vor dem Richterstuhl
der Wissenschaft. Den Gebildeten aller Stände dargeboten
. Zürich, F. Schulthefs, 1898. (IV, 218 S. gr. 8.)

M. 2.20

Ein Schriftfteller, der heute den Materialismus vor
den Richterftuhl der Wiffenfchaft zieht, fcheint um
mehrere Jahrzehnte zu fpät zu kommen. So ift auch
Ref. an die Lefung diefes Buches mit einigem Mifstrauen
herangetreten, fah aber bald feine Bedenken überwunden

und hat fich mit fteigendem Intereffe in das Werk vertieft.
Auch der Verf. ift fich bewufst, dafs die Hochflut des
Materialismus, die um die Mitte des Jahrhunderts ihren
höchften Stand erreichte, wieder abgelaufen ift, aber er
weifs auch, dafs die trübe Flut nicht fo hoch gediegen
ift, ,ohne die Saat chriftlicher Gefinnung weithin zu
fchädigen und zu verfchlammen; fie ift in taufend Kanälen
durchgefloffen in die mittleren und unteren Schichten
der Bildung, der Materialismus durchdringt zur Stunde
noch vielfach das Denken der Gegenwart, die Preffe, das
Schriftthum, das geiftige Leben in allen feinen Gebieten
in einem Maafse und wird namentlich von vielen Führern
der focialen Bewegung als alleinfeligmachendes Credo
mit einem Fanatismus gepredigt, der allen denen, welche
die höchfte Befreiungsthat der Weltgefchichte, das Cnriften-
thum noch irgendwie zu fchätzen wiffen, die ungeheure
Gefahr für wahre menfehliche Kultur lebhaft vor Augen
rückt' (S. 3). Daher will der Verf. ,für die Durchfchnitts-
bildung unferer Zeit' eine, fo weit bei diefem Thema
möglich, populäre und doch wiffenfehaftliche, auf die
einzelnen Probleme eingehende Darfteilung der wirklichen
Sachlage geben. In klar gegliederter und er-
fchöpfender Darfteilung, in welche in gefchicktcr Weife
die Aeufserungen hervorragender Philofophen und Natur-
forfcher verflochten find, wird der Verf. diefer Aufgabe
gerecht.

In drei Theilen werden die Grundlagen des Materialismus
in ihrem Verhältnifs zur anorganifchen, zur organifchen
und zur geiftigen Welt unterfucht. Schon in der Erklärung
der anorganifchen Welt geht der Materialismus
über feine eigenen Principien hinaus. Die Materie felbft,
von der er ausgeht, ift kein Gegenftand der Erfahrung,
fondern etwas Ueberfinnliches, eine von unferer Vernunft
zu der Mannigfaltigkeit der finnlichen Erfchcinungen
hinzugedachte Ergänzung. Die nirgends wahrgenommenen
phyiifchen Atome find eine metaphyfifche Fiction. So
hat denn auch gerade die mechanifche Naturwiffenfchaft
neuerdings in ihren hervorragendften Vertretern — z. B. bei
cleutfehen Naturforfcherverfammlungen durch du Bois-
Reymond und den von dem Verf. befonders gefchätzten
Botaniker Karl von Nägeli — ihr Verdict gegen die
folidarifche Verbindung mit dem Materialismus abgegeben.

In der materialiftifchen Betrachtung der organifchen
Welt fleht im Vordergrund der Kampf gegen eine be-
fondere Lebenskraft von feiner Eröffnung durch Lotze
bis zu den Verfluchen Häckel's, die fpeeififchen Merkmale
der organifchen Körper: Wachsthum, Ernährung
und Fortpflanzung, ohne eine folche Kraft zu erklären
und zu der fcharffinnigen Beweisführung, mit welcher
Nägeli eine blofs relative Verfchiedenheit zwifchen dem
Anorganifchen und dem Organifchen zu flützen fucht
(S. 64). Der Verf. glaubt trotzdem die Streitfrage als
eine gegenwärtig noch unerledigte betrachten zu müffen.
Auch die damit zufammenhängenden Verfuche, in der
Natur oder durch das Experiment die Entflehung lebender
Wefen aus toten, unlebendigen Stoffen, die Möglichkeit
einer Urzeugung nachzuweifen, feien mifslungen. Der
Verf. giebt fodann eine klare und gute Darfteilung der
Theorie Darvvin's, wobei als Gegeninflanz befonders die
anfängliche Nutzlofigkeit der nur allmählich fich fteigern-
den Variationen für den Kampf ums Dafein, z. B. der
noch wenig entwickelten Hörner für die Wiederkäuer,
betont wird.

Gegenüber Karl Vogt's Vergleichung der Gedanken
mit dem Abfonderungsproduct einer Drüfe wird gezeigt,
wie völlig incomenfurabel alle Veränderungen materieller
Beftandtheile in ihrer Ausdehnung, Mifchung, Dichtigkeit
und Bewegung mit der Natur der geiftigen Zuftände,
mit den Pämpfindungen, Gefühlen und Strebungen find,
die wir thatfächlich auf fie folgen fehen, und wie die
Annahme pfychifcher Atome, womit der Materialismus
feinen Rückzug zu decken fucht, nur mit Durchbrechung
I des reinen Monismus die Zufammenpreffung zweier un-