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Ausgabe:

1898 Nr. 21

Spalte:

568-570

Autor/Hrsg.:

Güttler, Carl

Titel/Untertitel:

Eduard Lord Herbert von Cherbury 1898

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 21.

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Verf. überhaupt wiffenfchaftlich nicht mehr in Betracht
zu kommen — und einige Andeutungen, deren Unbe-
ftimmtheit nicht mehr übertreffen werden kann, hinzugefügt
, wonach das Chriftenthum aus einer paläftinenfifchen
Meffiasbewegung, dem alexandrinifchen Hellenismus und
der zeitgenöflifchen Philofophie (Seneca) entftanden wäre.
Die Exiftenz Jefu und des Paulus bleibt völlig im Dunkel.
Und was man hier mit Mühe als M.'s eigene Meinung
herausftellen kann, ift mit der vorausgehenden Darftellung
an keinem Punkt in eine innere Verbindung gebracht.
Der Verf. wird fich hier darauf zurückziehen, dafs er
über noch fchwebende Fragen, wie die Entftehung der
paulinifchen Briefe, habe keine Entfcheidung geben wollen.
Allein, dafs es ein Unding ift, eine Einleitung in das ältefte
Chriftenthum zu geben, die unentfehieden läfst, ob die
paulinifchen Hauptbriefe im 1. oder im 2. Jahrhundert
entftanden find, dafs es ein Widerfpruch ift, das ganze
Chriftenthum des 1. Jahrhunderts als eine unfichere hifto-
rifche Gröfse anzufehen und dann doch wieder die Einrichtungen
der Kirche und das Auseinandergehen des
Chriftenthums in Parteien im 2. Jahrhundert darzuftelkn
unter der ftillfchweigenden Vorausfetzung einer fchon
längeren Exiftenz des Chriftenthums — das wird aus M.'s
Buch vollkommen deutlich.

Am deutlichften aus dem 2. Theil, der die innere
Entwickelung des Chriftenthums fchildern foll. Hier wird
ganz mechanifch zuerft in § I unter dem Titel Chriftenthum
unter überwiegend jüdifchen Einflüffen' zufammen-
geftellt: Dofitheus, Simon Magus, Kleobius und Menan-
der, die Ophiten, ,Alii gnostici die Barbelognoftiker,
Tatian, Kerinth und die Ebjoniten, die pfeudoklemen-
tinifche Literatur, der Montanismus (!). Dann folgt § 2
in ähnlicher Weife ,Chriftenthum unter überwiegend heid-
nifchen Einflüffen1: Saturninus, Bafflides, die Valentinianer,
die Marcioniten, Karpokratianer und Nicolaiten, Hermo- |
genes, Doketen, Patripaffianer, Monarchianer. Auf den I
Nachweis eines Zufammenhanges wird faft ganz, auf den |
Verfuch, den Urfprung zu enträthfeln, ganz verzichtet.
Endlich § 3 Ontwakend Catholicisme. Seine Eigentümlichkeit
wird darin gefunden, dafs er fleh mit Bewufst-
fein als felbftftändige Religion entwickelt und doch den
Zufammenhang mit dem Alten Teftament aufrecht erhält
(Judäokatholicismus'). Die erfte Stufe in der Loslöfung j
vom Judenthum ift durch die allegorifche Methode (Hebr.
Barn.) bezeichnet; einen Schritt weiter führt der Paulinismus
; es folgen Papias, Polykarp, Hegeflpp (bezeichnend
S. 179: ,die Frage, ob Hegefipp Judenchrift war, hat für
uns, die wir von Judäokatholicismus fprachen, grofsen-
theils ihre Bedeutung verloren'); dann Juftin, hierauf Act.
und Joh. ev. Weiter folgt ,nicht nach chronologifcher
Ordnung, fondern dogmatifch angeordnet' Clemens
Alex., erft nach ihm, weil den Katholicismus zur vollen
Entwickelung führend, Irenäus, am Schlufs Ttrtullian.
Das ift alles in diefer oft merkwürdigen Ordnung nebeneinander
geftellt ohne eine Andeutung, wie die Entwickelung
zu denken ift und wie die einzelnen Documente
fleh dem Gefchichtsverlauf einreihen. Mag es M. noch fo 1
fehr als feinen Zweck betonen, eine blofse Stofffammlung
zu geben, unter keinen Umfländen durfte er fich davon
dispenfiren, die Fingerzeige, die in dem Stoff für die
Löfung der Frage nach der Entstehung der katholifchen
Kirche liegen, deutlicher herauszuftellen, feine Anficht über
das Verhältnifs derfelben zum Judenthum, zum Heiden-
thttm,zur Gnofis wenigftens anzudeuten und vor Allem die
Zweideutigkeit zu entfernen, mit der das Chriftenthum bald
als eine neue Bildung eifcheint, die fchon im 1. Jahr- 1
hundert vorhanden ift und fich in verfchiedene Zweige
theilt, bald aber erft das Refultat eines Gährungsproceffes
im 2. Jahrhundert bildet.

Wenn die Leetüre diefes Buches einen einheitlichen
Eindruck hinterläfst, fo dient er dazu, die Ueberzeugung j
zu verftärken, dafs die kritifchen Pofitionen gegenüber j
dem Urchriftenthum, die M. bevorzugt, eine Halbheit find,

fo lange nicht die Gefchichte des 2. Jahrhunderts ent-
fprechend umgearbeitet und ganz anders angeordnet
wird, als in der herrfchenden, an der Gefchichtlichkeit
Jefu und der Echtheit der paulinifchen Hauptbriefe feft-
haltenden Gefchichtsauffaffung gefchieht, deren Nachwirkung
fich auch bei M. viel ftärker geltend macht, als
er felbft merkt. Das Chriftenthum des 1. Jahrhunderts
zu ftreichen und in die Darfteilung des 2. Jahrhunderts
zu thun, als ob faft Alles beim Alten wäre, ift ein fonder-
bares Verfahren und wohl kaum geeignet, den Hypothefen
der radicalenholländifchen Kritik neue Anhänger zu werben.

Tübingen. A. Hegler.

Güttier, Priv.-Doc. Dr. Carl, Eduard Lord Herbert von
Cherbury. Ein kritifcher Beitrag zur Gefchichte des Psychologismus
und der Religionsphilofophie. München,
C. H. Beck, 1897. (VI, 248 S. m. 1 Bildnis, gr. 8.)

M. 6.—

Die Anfänge der modernen hiftorifch-pfychologifchen
Religionswiffenfchaft liegen im Deismus, welcher gegenüber
der zum erften Mal in ihrem Gewicht und ihrem Umfang
erkannten Bedeutung der verfchiedenen Offenbarungsansprüche
ein neues Kriterium zur Ausmittelung der
religiöfen Normwahrheit Richte und diefes Kriterium wie
die gleichzeitig fich gegenüber der Scholaftik neubildende
Philofophie aus einer pfychologifchen Analyfe des Be-
wufstfeins und der Erkenntnifs zu gewinnen Richte. Dafs
diefe charakteriftifchen Grundzüge aller lebenskräftigen
modernen Bemühungen um die Religionswiffenfchaft hier
bereits vollkommen klar hervortreten und von der mit
dem Deismus einfetzenden Entwickelung nur immer
fchärfer betont und klarer ausgearbeitet worden find, ift
in den gangbaren Darftellungen des Deismus meift über
dem Umftande überfehen worden, dafs das Refultat diefer
Bemühungen vorläufig in dem alten theologifch-fchola-
ffifchen Schema flecken geblieben ift und fich in der
Form als neuer Compromifs zwifchen ,Vernunft und
Offenbarung' mit allen Schwankungen eines Raichen Com-
promiffes darfteilt. Aber der inhaltliche Sinn diefes Com-
promiffes ift ein ganz neuer. Er ift nicht mehr an dem
felbftverftändlichen Nebeneinander einer einzigen autoritären
, durch ihre Uebernatürlichkeit gegen alles andere
abgegrenzten Offenbarungswahrheit und einer ebenfalls
in feftemSchulzufammenhang vorliegendenphilofophifchen
Vernunftwahrheit orientirt, fondern an dem Bedürfnifs
für die vielen Offenbarungsanfprüche ein vernünftiges
Entfcheidungskriterium zu finden, das feinerfeits aus einer
möglichft vorurtheilslofen, von oben anfangenden und von
der Schulfchablone unabhängigen Philofophie hervorgehen
foll. Nicht die Zufammenftimmung zweier einfach gegebener
Gröfsen, fondern die Ausmittelung des Werthes
fehr mannigfacher Offenbarungsgröfsen nach dem Maafs-
ftab einer felbftftändig und neu verfahrenden Philofophie
ift der Charakter der mit dem Deismus beginnenden
Fragen nach Wefen und Wahrheit der Religion.

Diefer Sachverhalt ift in den gangbaren Darftellungen,
in dem vorzüglichen Buche Lechler's und in den meift
ausgefchriebenen compendiarifchen Darftellungen von
Pünjer und Pfleiderer nicht erkannt. Schärfer haben ihn
Leslie, Stephen, Dilthey, und, was befonders Herbert
anbetrifft, Remufat erkannt. Unter diefen Umfländen
ift eine neue Darftellung des bekannten Vorläufers des
Deismus (Güttier nennt ihn ,Haupt d. D.' S. III, womit
zu viel gefagt ift, da der eigentliche Deismus erft aus der
Locke'fchen Schule entfpringt) ein fehr wohl begründetes
Unternehmen. Die Arbeit entflammt nach der Angabe
des Verf. einer Anregung des katholifchen Philofophen
v. Hertling und geht felbft von allerdings vorfichtig zurückgehaltenen
thomiftifchen Vorausfetzungen aus. Der
hiermit gegebene Widerwille des fupernaturaliftifchen
Religionsphilofophen und fyllogiftifchen Metaphyfikeis,