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Ausgabe:

1898

Spalte:

499-501

Autor/Hrsg.:

Müller, E. F. Karl

Titel/Untertitel:

Zur christlichen Erkenntnis 1898

Rezensent:

Hans, Julius

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mentliche freie Gemeinde unter Salotno zur Tempelgemeinde
concentrirte, über ein vierzehntägiges Feft berichtet
wird, ,bei welchem die einzig daftehende Ziffer
von 22 Taufend Ochfen und 120 Taufend Schafen zum
Opfer fiel', fo hat man doch den Eindruck, dafs diefe
Beziehungen fehr gefucht find und dafs man ohne gar zu
grofse Mühe auch das Sprechen oder das Athmen oder
fonftwelche leibliche Thätigkeit in gleichen Zufammen-
hang mit der Heilsgefchichte bringen könnte. Und wenn
er eine Abhandlung über das ,Wachstum des Wortes'
fchreibt, in der er zeigt, wie im Laufe der Kirchenge-
fchichte aus dem urfprünglich in der Apoftelzeit vorhandenen
Worte Gottes neue Erkenntnifse fich organifch
entwickelten, fo foll nicht beftritten werden, dafs er viel
Wahres und recht Anfprechendes darüber lägt, aber es
beruht doch wohl auf einer falfchen Exegefe, wenn
er dabei ausgeht von Apgfch. 6, 7: ,Das Wort Gottes
nahm zu', und diefes Zunehmen dahin verficht, dafs ,den
Apofteln weitere Wahrheitsmomente geworden feien,
entfprechend den erweiterten Bedürfnifsen der wachfenden
Gemeinde'. So fcheint mir der Biblicismus des Ver-
faffers nicht frei von Eintragungen zu fein. Es find doch
zum Theil wohl eigene Phantafien, was er als .realiftifche
Gedanken aus der Bibel' giebt. Ueberhaupt verleitet ihn
feine Neigung zum Realismus dazu, zuweilen die Grenze
des Realen zu überfchreiten. In dem Beftreben, an die
Stelle leerer Abftractionen ,lebendige Worte' zu fetzen und
die concreteLebensfülle recht hervorzuheben, die denfelben
innewohnt, bleibt er nicht immer nüchtern und klar und
häuft die Wefensbeftimmungen, die er dem Einzelnen zu-
fchreibt, fo fehr, dafs die Dinge ineinander überfliefsen.
In dem Auffatz über ,die Grenzen von Theologie und
Wiffenfchaft', deffen Titel übrigens fchon eine beftreitbare
Auffaffung enthält, fagt er fehr Beherzigenswerthes über die
Aufgabe der Theologie. Aber wenn er fagt: ,Die eigentliche
Theologie, auf der Bafis des Glaubens im biblifchen
Sinne, ift eine Verbindung des Geiftes Gottes mit dem
Menfchengeifte behufs wachstümlicher Entwickelung nach
Gott hin. Es ift das, was der Apoftel nennt Zunahme
in der Weisheit und der Erkenntnis' — fo wird man das doch
kaum eine zutreffende Beftimmung des Wefens und der
Thätigkeit der Theologie nennen können. Damit wird doch
das geifiliche Leben des Chriften überhaupt nach einer be-
ftimmten Richtung hin in idealer Entwickelung, nicht die
Befonderheit des Theologen gefchildert. Kurz, das Buch
ift reich an guten Gedanken und fruchtbaren Anregungen,
es zeigt eine rühmenswerthe Selbftftändigkeit des Ürtheils
bei der Behandlung der kirchlichen und religiöfen Fragen,
feine Tendenz, das Leben über die Begriffe zu ftellen,
verdient entfchiedene Beachtung, aber der Ausführung
haften mancherlei Mängel an, die den Gefammteindruck
fchwächen.

Augsburg. J. Hans.

Müller, Prof. E. F. Karl, Zur christlichen Erkenntnis. Vorträge
und Auffätze für denkende Chriften. Leipzig,
A. Deichert Nachf., 1898. (VI, 151 S. 8.) M. 2.40

Von den hier gefammelten neun Vorträgen und Auf-
fätzen find fechs fchon vorher im Druck erfchienen; es
find dies die Vorträge über ,Das Belle in der Welt' und
,Das chriftliche Lebensideal nach der hl. Schrift', die auf
Wunfeh der Hörer feiner Zeit (1891 und 1894) feparat
veröffentlicht wurden, und vier Auffätze, die zum erften
Mal in der ,Reformirten Kirchenzeitung' abgedruckt
wurden, mit den Titeln: ,Die Erwählung', ,Die Sünden
der Heiligen', ,Sonntag und Sabbath' und ,Chriftlicher
Socialismus?' Drei Vorträge erfcheinen hier zum erften
Mal; fie tragen die Ueberfchriften: ,Die Erhörung des
Gebets', Jefus Chriftus, Gottes eingeborener Sohn' und
.Religionsfreiheit'.

Ueber den Charakter und Inhalt der vorgelegten
Arbeiten fagt der Verf. felbft, fie feien fämmtlich beftimmt,

der Förderung chriftlicher Erkenntnifs zu dienen, was ja
auch fchon durch den Titel des Ganzen ausgedrückt ift;
gerade dies zu leiften, glaubt er befähigt zu fein; denn
wenn ihm auch die Gabe begeifterten Zungenredens nicht
verliehen fei, fo glaube er doch etwas von der Gabe
nüchterner Lehre empfangen zu haben. Doch denkt er
nicht, durch diefe Vorträge und Auffätze die theologifche
[ Wiffenfchaft zu fördern, dazu feien fie ihrer Natur nach
I nicht im Stande und nicht beftimmt, fondern gebildeten
Nichttheologen wolle er helfen, über wichtige Punkte
der chriftlichen Lehre lieh klarer zu werden. Dabei hat
| er folche im Auge, die irgendwie fchon im chriftlichen
j Glauben flehen, es ift ihm mehr um's Bauen, als um
apologetifche Begründung der chriftlichen Wahrheit zu
thun.

Der Verf. befitzt in der That die Gabe klarer und
lichtvoller Darftellung; in knapper, aber fehr anfprechen-
der Form entwickelt er feine Gedanken, in leichtem Flufs
und gefchloffenem Zufammenhang ziehen fie an uns vorüber
. Und wer etwa nach feiner im Vorwort gegebenen
I Selbftcharakteriftik auf einen trockenen Ton gefafst wäre,
der würde fich angenehm enttäufcht fühlen; die Betheiligung
des Herzens ift überall zu fpüren, es fehlt den
j lehrhaften Erörterungen durchaus nicht an perfönlicher
l Wärme, und ich begreife fehr wohl, dafs die Hörer der
Vorträge den Wunfeh hegten, fie nachträglich auch noch
lefen zu können.

Auf das Einzelne des Inhalts einzugehen, wird man
mir bei der Verfchiedenheit der behandelten Gegenftände
erlaffen müffen. Der theologifche Standpunkt des Verf.
ift bekannt; er hat ihn fchon öfters mit Schärfe geltend
gemacht. Hier tritt eine gewiffe Ruhe und Mäfsigung im
Urtheil fehr wohlthuend hervor. Befonders in den Vorträgen
über Jefus Chriftus und das chriftliche Lebensideal
bringt er feinen Gegenfatz gegen die neuere Theologie
zum Ausdruck. In dem erfteren fpricht er von der Erregung
, die feiner Zeit durch Beyfchlag's Vortrag auf dem
Kirchentag in Altenburg und neuerdings durch die Theologie
Ritfchl's bis in die Gemeinde hereingetragen worden
fei, aber er rechnet doch die beiden Theologen zu folchen,
die die Klarheit der alten Lehre nur verwifchen; er bezeichnet
es als eine ,verleumderifche Rede', dafs fie die
Gottheit Chrifti thatfächlich leugneten, und er fagt dem
Grundgedanken Ritfchl's gegenüber, dafs der Offenbarungswerth
der Perfon Jefu Chrifti von uns mit dem Titel
der Gottheit bezeichnet werde: ,Ich wüfste nicht, was in
diefem Gedanken zu tadeln wäre, aufser der Unficherheit,
ob unferem Glaubensurtheil die volle, klare Wirklichkeit
entfpricht . . . Darum möchten wir es deutlicher und
weniger zaghaft ausgefprochen haben: was diefem Glauben
feftfteht, ift eine Realität, mit der wir rechnen, und auf
die wir unbedingt bauen können'.

Im Allgemeinen weifs der Verf. die verfchiedenen
Seiten eines Gegenftandes fehr richtig zu beleuchten und
befonnen abzuwägen, welche Wahrheitsmomente in einer
Anfchauung liegen oder welche verfchiedene Anwendung
einPrincip je nach der gefchichtlichen Wirklichkeit fordert.
Befonders tritt das in den beiden letzten Stücken über
chriftlichen Socialismus und Religionsfreiheit hervor. Was
über diefe beiden wichtigen Probleme gefagt wird, verdient
faft durchweg volle Zuftimmung. Insbefondere
möchte ich wünfehen, dafs allgemein beherzigt würde,
was über die gegenwärtige Tauf- und Confirmationspraxis
j gefagt wird. Mit Recht tadelt es der Verf., dafs man ganz
ungläubige und unkirchliche Eltern zur Taufe ihrer Kinder
J drängt, und fragt, ob dies übertünchte Heidenthum, das
1 die Kirche gefliffentlich mit todten Gliedern bereichere,
! beffer fei als das offenkundige, für welches confervative
Chriften unfere Civilftandesgefetzgebung verantwortlich
machen. Und wenn er von der Confirmation fagt, die
gute Theorie, welche in ihr eine perfönliche Elrklärung
des Glaubens und einen bewufsten Anfchlufs an die kirchliche
Gemeinfchaft fehe, werde durch die Praxis Lügen