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Ausgabe:

1898 Nr. 17

Spalte:

472-475

Autor/Hrsg.:

Bacon, Leonard W.

Titel/Untertitel:

A history of American Christianity 1898

Rezensent:

Hegler, A.

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 17.

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kirchlichen Ordnungen in Auflöfung begriffen find, in
Verfaffung, Dogma, Cultus und Disciplin. Der Staat tritt
in das Erbe der Kirche ein, diefe verliert ihr eigenes
Leben, ihre Selbflfländigkeit, ihre eigenen Einrichtungen.
Die Geifllichen werden Beamte, die königlichen Edicte
bilden ein neues Kirchenrecht, welches das alte nicht
formell aber materiell aufser Wirkung fetzt; fie fchreiben ein
praktifches Chriftenthum vor, das gegen die Unterfchiede
der proteftantifchenConfeffionen indifferent ift; ebenfo zeigt
eine ganze Reihe von Maafsregeln die Richtung auf eine
vom Staat herbeizuführende Union der zwei proteftantifchen
Kirchen. Alle focialen Functionen der Kirche gehen auf
den Staat über; er höhlt fie gleichfam aus. Vielleicht ift
diefer hiftorifche Procefs,der ja nicht dieganzeEntwickelung,
aber doch eine Seite derfelben darftellt, noch nie für ein
beftimmt umgrenztes Gebiet der neueren deutfchen K. G.
fo umfaffend, fo unerbittlich und geiitreich gefchildert
worden. Wenn trotzdem die Darfteilung defselben fchliefs-
lich nicht ganz befriedigt, fo liegt der Grund weniger
in einzelnen Uebertreibungen, als darin, dafs P. den ent-
fprechenden pofitiven Gedanken nicht genügend entwickelt
, dafs nämlich diefe Entwickelung felbM wieder
aus dem Wefen des Proteftantismus hervorgeht, dafs
der Staat die Kraft, mit der er an der Hebung des fitt-
lichen und focialen Lebens arbeitet, zum grofsen Theil
dem Proteftantismus verdankt, dafs fich der Marke Ein-
fiufs des letzteren auf allen Gebieten des geiMigen Lebens-
in Schule, KunM, Wiffenfchaft, in der Ausbildung der
Beamten u. f. w. nachweifen läfst. Man wird den Lei-
Mungen des ProteMantismus nicht gerecht, wenn man unwillkürlich
immer wieder von dem katholifchen Begriff
der Kirche ausgeht, in deren Wefen es liegt, ihre SelbM-
Mändigkeit gegen den Staat zu vertheidigen und mit ihm
in Concurrenz zu treten, wenn man das Verhältnifs von
Kirche und Staat unter Fr. W. als ein Stück aus dem
Kampf zwifchen beiden Mächten behandelt. Allerdings
fehlt jener pofitive Gedanke bei P. nicht ganz, noch
weniger beMeht die Abficht, den ProteMantismus herabzufetzen
. Im Gegentheil erfcheint er als Princip des
Fortfehritts und in der Schlufsabhandlung finden fich
viele feine Beobachtungen, z. B. S. 832: Der öffentliche GeiM
bewegt fich in den katholifchen Ländern, fpeciell in Frankreich
, fortwährend in Gegenfätzen, er fchwankt zwifchen
Gläubigkeit und Rationalismus, ohne bemerkbaren Fort-
fchritt feit dem 17. Jhrh., ,il pictine sur place1, während
in Deutfchland die Bewegungen regelmäfsig find, ihre
aufeinanderfolgenden Momente fich innerlich ergänzen.
Aber wenn der ProteMantismus zunächM als Mufenweife
Laifirung und damit Aufhebung der Kirche aufgefafst
wird, wenn er ,decomposition feconde en germes vivants'
iM, fo frägt fich, worin diefes Neue beMeht. Die Antwort
lautet fchliefslich: er iM weder Kirche, noch Theologie,
noch Moral, fondern eine neue Religion. Was iM aber die
Religion felbM? .La religion est un ctdte et le culte, c'est
l'arf. ,Cest qae le secret de la religion est 2ine esthetique1".
Das iM eine unbefriedigende Löfung und fie wirkt zurück
auf die Behandlung der Gefchichte. Die Bedeutung des
Staates für die inneren kirchlichen Angelegenheiten unter
Fr. W. iM überfchätzt; es iM nicht deutlich, dafs feine
ganze Kirchenpolitik nach einer Seite hin felbM wieder Pro -
duet einer beMimmten Phafe in der Entwickelung des ProteMantismus
iM, dafs die Tendenz, die alten kirchlichen Formen
aufzulöfen, die Religion praktifcher und rationeller zu
geMalten, mit der Eigenthümlichkeit des ProteMantismus im
18. Jahrh. zufammenhängt. Auch iM vielleicht die GeMalt,
welche die proteMantifche Kirche in Preufsen angenommen
hat, nicht in dem Maafs, wie P. meint, für die
innere Tendenz des ProteMantismus überhaupt maafs-
gebend, in Deutfchland nicht und vollends nicht in anderen
Ländern. Und zuletzt zeigt fich doch, dafs das gewählte
Thema zu eng begrenzt iM, um fo weitgehende
Schlüffe zu begründen. P. hat das gefchichtliche Material
in diefer Umgrenzung genau beobachtet; weil jedoch in

diefem felbM zu wenig Auffchlüffe über die inneren Kräfte
der kirchlichen Bildungen und die tieferen Gründe der Ver-
fchiebungen im Verhältnifs von Staat und Kirche zu gewinnen
find, hat P. Manches aus gefchichtsphilofophifchen
j Theorien ergänzt, deren Weite und UnbeMimmtheit zu der
fonM angewandten exaeten fociologifchen Methode in
einem Gegenfatz Meht, der fich auch fonM nicht feiten bei
modernen hiMorifchen Werken beobachten läfst.

Trotzdem darf die deutfehe Theologie P.'s Werk
mit Dank begrüfsen. Es iM ein inhaltsreicher, lehrreicher
und geiMvoller Beitrag zur deutfchen K. G. Seine Leetüre
1 lohnt neben dem hiMorifchen durch das pfychologifche
| Intereffe. Es iM intereffant zu hören, wie ein modern
! denkender Franzofe über deutfehe kirchliche ZuMände
redet, die wir in der Regel von anderen Gefichts-
punkten aus zu betrachten gewöhnt find und von denen
er fchliefslich ein Bild gewinnt, das doch nur als eine,
wenn auch einfeitige, IlluMration zu Rothe's Thefe über
dafs Verhältnifs von Kirche und Staat im ProteMantismus
erfcheint.

Tübigen. A. Hegler.

! Bacon, Leonard Woolfey, A history of American Christia-

nity. (American Church History.) New-York, The
ChriMian Literature Co., 1897. (X, 429 S. 8.) $ 2.—

Das vorliegende Werk bildet den Schlufsband der
feit 1893 erfcheinenden, auf Veranlaffung und unter Lei-

j tung der American Society of Church History herausge-

j gebenen American Church History Series. Ueber den
Plan des Unternehmens hat G. Kawerau in diefer Zeitung
1895, Sp. 188ff. berichtet, über den erMen Band, H. K.

! Carroll's The Religious Forces of the United States S. Eck
1895, Sp. S44M". und 1896, Sp. 503ff. Zwifchen diefem

I erMen und dem vorläufig letzten Band liegen elf Bände,
in welchen die Gefchichte der einzelnen amerikanifchen
Kirchen je von einem Vertreter derfelben gefchrieben
iM. Davon iM der vierte Band, die Gefchichte der Lutheraner
von H. E. Jacobs, durch Kawerau 1. c. befprochen
worden (vgl. a. Eck's Kritiken über die deutfehe Bear-

I beitung durch Fritfchel, 1897, Sp. 435 ff., 1898, Sp. 225 ff).
Der Schlufsband fafst wieder das ganze Gebiet zufammen,

| diesmal nicht in einer MatiMifchen, fondern einer hiMorifchen
Schilderung. Daraus erklärt fich fein Charakter.
Es war die Aufgabe L. W. Bacon's, das bekannte Material
zufammenzuftellen und zu einer lesbaren DarMellung
zu verarbeiten. Dabei tritt von felbM das Problem in
den Vordergrund, wie die verfchiedenartigen Denominationen
, die fich in die amerikanifche Gefellfchaft theilen,
trotz allen Unterfchieden eine einheitliche, zufammen-
hängende Gefchichte in Amerika haben, und zufammen
ein ,amerikanifches ChriMenthum' bilden, das nicht einfach
eine Zufammenfetzung aus fo und fo viel Kirchen iM,
fondern in gewiffem Sinne eine eigenthümliche, in fich
zufammenhängende Gröfse darMellt.

Das Thema iM räumlich durch den Umfang der Vereinigten
Staaten umgrenzt, in der Zeit führt es vom 16.
Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nach dem einleitenden
Capitel (f. u.) Mellen Capitel 2 und 3 zwei Anfänge zur Be-

I gründung einer grofsen amerikanifchen Kirche dar, denen
beiden keine Fortfetzung gefolgt iM: das fpanifche und das
franzöfifche ChriMenthum. Von einem anderen Punkte geht
die dauernde Pflanzung des ChriMenthums aus: Von den
fich bekämpfenden Religionsparteien in Europa, fpeciell
in England. Die verfchiedenMen Kirchen müffen ihren Bei-

I trag leiMen, ohne dafs eine für fich allein den Ausfchlag

j giebt. So zeigen die nächMen Capitel (4—10), wie in den

; einzelnen Colonien im Laufe des 17. und Anfang des
18. Jahrhunderts die verfchiedenMen Kirchenparteien Raum
gewinnen, fich bekämpfen, fich aber auch vertragen lernen :
Anglikaner, Katholiken, Puritaner, SeparatiMen, Quäker,
BaptiMen, Hugenotten, holländifche Reformirte, fchwe-