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Ausgabe:

1898 Nr. 16

Spalte:

452-453

Autor/Hrsg.:

Grape, Fr.G.J.

Titel/Untertitel:

Spanien und das Evangelium 1898

Rezensent:

Foerster, Erich

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 16.

452

ziemlich einftimmig drei als anderweiter Veröffentlichung
werth. Es find die im vorliegenden Heft dargebotenen.
Keins der drei Effays erhebt irgendwie den Anfpruch,
ein auch nur annähernd vollftändiges oder erfchöpfendes
Bild des zu fchildernden Gegenstandes zu geben. Vielmehr
begegnen fich die drei, fonft fehr verfchiedene
Bahnen verfolgende Verfaffer in der Ausfage, dafs der
moderne Menfch kein fertiges Product ift, und einer all-
feitigen Charakteriftik fpottet. Die Anfätze zu einer
folchen Charakteriftik macht Bonus in einem an den
Herausgeber gerichteten Brief, welcher in zwanglofer
Weife geiftvolle Apergus bietet, die nicht minder durch
die pikante Form als durch den gedankenreichen Inhalt
zum weiteren Nachdenken anregen. — Der .Verfuch einer
hiftorifch-philofophifchen Analyfe', der aus der Feder
A. Perino's flammt, Prellt an die Faffungskraft und die
geiftige Mitthätigkeit der Lefer hohe Forderungen und
wird für manchen gebildeten Laien eine zu ftarke Speife
fein. — Der letzte der Auffätze, vielleicht der einheitlichfte
von den dreien, ift durch den Grundgedanken beherrfcht,
dafs ,ein enges Verhältnis, zu dem was ift, zumal was handgreiflich
ift, das Eigenthümliche des modernen Menfchen
ausmacht. — Im Uebrigen dürfte es für die Schildung des
modernen Menfchen felber typifch fein, dafs die zur
Zeichnung defselben berufenen und befähigten Beurtheiler
zwar wichtige Züge angedeutet und fördernde Winke
gegeben, es aber nicht vermocht haben, das ,von den
mannigfaltigften Kräfte durchwogte Chaos', an welchem
fie ja felbft wie wir alle betheiligt find, zu fefter und '
klarer Anfchauung zu bringen. Auch der letzte Theil
der geftellten Aufgabe, die nähere Formulierung der
,Verhältnifse des modernen Menfchen zum Chriftenthum
und des Chriftenthums zu ihm' wird vorausfichtlich keinen
Lefer vollkommen befriedigen. Neben werthvollen Beiträgen
und treffenden Bemerkungen begegnen uns hier
öfters Aeufserungen, welche Widerfpruch hervorrufen
oder auch zum Theil eher neue Probleme ftellen als )
alte Fragen beantworten. So z. B. die paradoxe Be- 1
hauptung Perino's, von welcher er felber das Gefühl zu
hegen fcheint, dafs fie nicht einwandfrei ift: ,Die alte
immer und immer wieder aus dem Philifterthum auftauchende
Wahrheit von der Unfreiheit unferes Willens
wird, zum unangreifbaren Dogma geworden und in volkstümlicher
Form in das Volksbewufstfein unzertrennlich
eingewurzelt, den Menfchen ein befferer Warner und
Hüter in der Verfuchung fein, als alle Schreckmittel der
göttlichen und weltlichen Juftiz (S. 30).' Das Büchlein,
das fich der Analyfe entzieht, das aber kein Lefer ohne '
mannigfaltige Anregung und Förderung aus der Hand
legen wird, fchliefst mit hoffnungsvollen und glaubenskräftigen
Worten, in welchen manche aus peffimiftifchen Anwandlungen
oder Beobachtungen flammende Aeufserungen
ausklingen und fich auflöfen mögen: ,Das Chriftenthum [
giebt den modernen Menfchen nicht auf. Es macht
fich ihm auch nicht mundgerecht. Aber es mufs auf
ihn Rückficht nehmen. Je kritifcher er wird, defto
weniger mufs es blinden Glauben fordern; defto mehr
aber in feinem eigenen Gewiffen als ewig wahr fich er-
weifen. Je ferner ihm Gott rückt, um fo wichtiger mufs
ihm Gottes Nähe in Chriftus gezeigt werden. Je gefetz-
mäfsiger ihm die Welt erfcheint, defto wichtiger mufs ihm
Gott als das unentbehrliche Princip der Lebendigkeit
gemacht werden. Je mehr er die Entwickelung zur Vollkommenheit
begrüfst, umfomehr mufs ihm das Chriftenthum
als unentbehrlicher Factor folcher allfeitigen
Entwickelung gezeigt werden. In allem aber wendet es
fich an das Ewige auch im modernen Menfchen. Und
als immer neue Ewigkeitskraft, der zeitliche Formen nur I
Beiwerk find, wird und mufs chriftlicher Glaube noth- [
wendig auch zum Wefen des modernen Menfchen gehören
. Und zwar zu dem Wefen des wirklich modernen
Menfchen aller Zeiten.'

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Grape, Fr. G. }., Spanien und das Evangelium. Ergebniffe
einer neunmonatlichen Studienreife. Mit 9 Bildern
nach photographifchen Aufnahmen des Verfaffers.
Halle, E. Strien, 1896. (VII, 402 S. 8.) M. 6.—

Die Berichterftattung über die evangelifche Diafpora
und Evangelifationsarbeit in den katholifchen Ländern
Europas liegt im Argen. Was in Blättern, die von dort
erzählen, geboten wird, ift meift nichts als anekdotenhafter
oder erbaulicher Stoff im Tractatenstil behandelt.
Unter allen Blättern der Art ift aber wohl keins reicher
an folchen Anekdoten, ärmer an wirklich greifbaren,
ftatiftifchen und ökonomifchen Angaben, als Fliedner's
Blätter aus Spanien. Ueber kein Werk find deshalb wohl
fo irrige Vorftellungen verbreitet, wie über das feine.
Unter diefen Umfländen darf ein Buch, wie das vorliegende
, freudig begrüfst werden. Denn es bietet durch
möglichft genaue Angaben und namentlich durch die
Wiedergabe vieler Gefpräche mit den Führern der Evan-
gelifation in Spanien die Möglichkeit einer Orientirung
über den Stand der Sache. Nach einem — allerdings
recht oberflächlichen — Ueberblick über die Gefchichte
und den gegenwärtigen Stand der evangelifchen Bewegung in
Spanien befchreibt der Verf. zunächft die fpanifchen evangelifchen
Gemeinden im Süden (Sevilla, Cadiz, Puerto
de Santa Maria, wo das Instituto evangelico zur Ausbildung
von fpanifchen evangelifchen Paftoren feinen Sitz hat,
Algeciras, Malaga, Granada), dann die Gemeinden in Ca-
talonien (Barcelona mit Vorftädten). Danach befpricht
der Verf. das Werk des Paftors Fliedner und dann recht
anfchaulich die deutfche Diafpora. — Der Gesammtein-
druck diefer Schilderung ift ein tief deprimirender. Von
einer evangelifchen Bewegung darf danach in Spanien
kaum mehr geredet werden. Die drei fachkundigften Beurtheiler
, die Verf. gefprochen hat, Carrasco in Malaga,
Empaytaz in Barcelona und Vargas in Gracia haben
aus ihrer Hoffnungslosigkeit kein Hehl gemacht. Carrasco
hat dies damit fehr einleuchtend begründet, dafs das
heute betriebene Evangelifationswerk ein fremdes Gewächs
ift und deshalb von dem patriotifchen Spanier mit
äufserftem Mifstrauen angefehen und ftricte zurückge-
wiefen wird. Es gilt aus diefem Grunde in Spanien für
infam, Proteftant zu fein. Und Vargas hat damit überein-
ftimmend dem Wunfeh Ausdruck gegeben, dafs alle
evangelifchen Secten und Kirchengemeinfchaften fich
zurückziehen und die Spanier fich felbft überlaffen
möchten, denn allein um der Ausländer willen erwerbe
fich das Evangelium keine Sympathien. — Aber auch
über Fliedner's Arbeit gewinnt man aus des Verfs. Dar-
ftellung kein günftiges Urtheil. Zwifchen den Zeilen lieft
man deutlich, dafs auch der Verf. fehr kritifch gefonnen
ift. Dalton's Denkfchrift erweift fich als höchft unzuver-
läffig (man beachte den Nachweis, wie Dalton Quellen
benutzt, auf S. 218f.). Und was das Schlimmfte ift:
Fliedner ift an der Enttäufchung, den diefe eingehende
Darfteilung erweckt, felbft fchuld, denn er hat durch feine
Blätter, wie durch feine Reifen dazu beigetragen, dafs in
Deutfchland eine ganz übertriebene Vorftellung von feinen
Erfolgen herrfcht. Unter den deutfehen evangelifchen
Gemeinden ift nach des Verfs. Urtheil Madrid — auch im
Gegenfatz zu manchen hochtönenden Aeufserungen Fliedner
's — faft erftorben. Befferes berichtet er von Liffabon,
Amora, Malaga. Am kräftigften blüht die Gemeinde in
Barcelona.

Für die Ausführlichkeit feiner Schilderungen auf
diefen Gebieten kann man dem Verf. nur dankbar fein.
Freilich wird die Lektüre feiner Schrift durch breite
Weitfchweifigkeit und Mangel an ordentlicher Difpofition,
fowie durch häufig eingeftreute triviale Reflexionen
(S. 91!) in der Sprache Canaans aber nicht immer fehr
chriftlichen Geiftes voll (S. 30! S. 126!) und auf unvoll-
ftändigem Wiffen beruhende Urtheile (S. 107) erfchwert.
Ueberhaupt hätte der Verf. fein Buch auf die Hälfte des