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Ausgabe:

1898 Nr. 15

Spalte:

424-426

Autor/Hrsg.:

Riggenbach, Bernhard

Titel/Untertitel:

Die christliche Gemeinpastorin nach Schrift und Erfahrung 1898

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 15.

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feitigung aller encyklopädifchen und fyftematifchen Schwierigkeiten
und die Ermöglichung eines ftreng fyftematifchen
Aufbaues der Disciplin erhofft. Nach einem kurzen Eingang
entwickelt der Verfaffer zuerft den Begriff Charisma
im Anfchlufs an Paulus (S. 4—40), um in dem zweiten
Theil (S. 41—94) die geschichtliche Entwickelung des
Begriffes und in dem dritten Theil (S. 95—141) die Bedeutung
des Begriffs für die praktische Theologie darzulegen
. Uns befchäftigen vorzugsweife der erfte und
der dritte Theil; beide hangen fachlich nahe zufammen;
im dritten Theil werden die Refultate des erften Theiles
verwerthet.

Bei aller Anerkennung der tüchtigen Leiftung des
Verfaffers dürfen wir an zwei methodifchen Fehlern nicht
vorübergehen, die feine Darlegungen durchziehen und
fowohl die Refultate als die Verwerthung der Refultate
wefentlich beeinfluffen. Es ift zunächft nicht wohlgethan,
die Ausfagen des Apoftels in Rom. 12 und in I Kor. 12
und 14 ohne Scheidung und Unterfcheidung zu behandeln
und lediglich den dogmatifchen Begriff ohne allen ge-
fchichtlichen Unterbau ins Auge zu faffen. Wir ver-
miffen eine Darftellung des religiöfen und tittlichen Zu-
ftandes der Gemeinde zu Korinth; die Stimmung und der
pädagogifche oder feelforgerliche Einfchlag in den Ausführungen
des Apoftels find davon abhängig. Weil dies
nicht beachtet ift, kommt es in der Entwickelung, die
der Verfaffer giebt, zu einer Vermifchung des Wefens
und der zeitgefchichtlichen Erfcheinungsform der Charismen
. Mit diefem methodifchen Fehler hängt der andere
zufammen, dafs bewufst oder unbewufst die Tendenz obwaltet
, die Erfcheinungsform der Charismen in der apo-
ftolifchen Zeit ohne weiteres auf die Gegenwart zu übertragen
, weil ja das Wefen des Charisma dafselbe geblieben
fei. Die normative Autorität der Heil. Schrift ift demnach
nicht gefchichtlich orientirt, daher unrichtig be-
ftimmt, und die Folge davon ift Mangel an Unbefangenheit
den Ausfagen der Heil. Schrift gegenüber und
Unficherheit in ihrer Verwendung. Die Gloffolalie ift
erklärlicher Weife dem Verfaffer eine fchwere Crux.
Doch er weifs fich zu helfen. Nicht nur befeitigt er die
Schwierigkeit durch Ignorirung: ,auf eine nähere Be-
fchreibung und pfychologifche Begründung ihres Wefens
einzugehen, ift hier nicht der Ort'; er fpricht auch der
Gloffolalie den Charakter als Charisma ab, erft durch
Hinzutritt der sQfirjvsia werde fie zum Charisma; denn
zum Wefen des Charisma gehöre der ,tranfitive' Charakter
, die unmittelbare thatkräftige Wirkung auf Andere
(S. 16. 19. 26. 39), wodurch das gemeinfame Glaubensleben
gefördert werde. Ift die Definition in diefer Zu-
fpitzung richtig? Nach I Kor. 129.10 fcheint es nicht fo.
Gleichwohl wird das enthufiaftifche und ekftatifche Gepräge
der Gloffolalie möglichft abgefchwächt, das tech-
nifche Gepräge des Ausdrucks sv oivEvpaxi oder reo
xvevßctu wird verkannt, und fo kann es dem Verfaffer
wider feinen Willen begegnen, dafs die Gloffolalie als eine
die anderen Charismen übertreffende machtvolle „Pflanzung
des pneumatifchen Inhalts in das innerfte Lebenscentrum
" erfcheint. Auf denfelben methodifchen Fehler
ift es zurückzuführen, dafs trotz Rom. 12 und I Kor. 12
charismatifche Begabung nur wenigen unter den der
XctQic; Theilhaftigen zugefprochen wird, und dafs, weil
,der Heil. Geift der Wirkungsfactor ift', die (Verklärung
und Hebung der Naturanlagen' im Charisma verworfen
wird, — freilich um bald hernach mit etwas anderen
Worten dennoch behauptet zu werden (S. 27 f.).

Es ift dem Verfaffer nicht verborgen geblieben, dafs
in der Gemeinde zu Korinth die Ueberfülle der Charismen
keineswegs in geradem Verhältnifs fleht zu der
fittlich erneuernden Macht der Gnade und des Geiftes j
Gottes in der Gemeinde; aber er verkennt, dafs dies Mifs-
verhältnifs in dem ungefunden Enthufiasmus der Gemeinde J
begründet, daher als abnorm zu beurtheilen ift. Der oben
berührte Mangel an gefchichtlicher Orientirung rächt fich j

hier. Im dritten Theil wird als Grundbedingung für den
Eintritt in das geiftliche Amt das Charisma, auf Andere
durch das Wort einzuwirken, gefordert. Aber die reli-
giös-fittliche Haltung wird unter den Händen des Verfaffers
zu einer allerdings recht wünfehenswerthen Be-
gleiterfcheinung. ,Die Gabe bleibt Gabe auch da, wo
fie in fchlimmerer oder ungefährlicherer Weife zu dem
eigenen Heilsftande in ungenauer Proportion fleht'. Das
ift freilich wahr; die Kirchengefchichte bietet viele recht
betrübende Beweife der Wahrheit. Aber defshalb ift's
verfehlt, das Charisma allein als Bedingung zu verwerthen.
Der Verfaffer fühlt das auch felbft; er tritt, ängftlich geworden
, mit der falfchen Behauptung den Rückzug an,
dafs nur theoretifch eine Scheidung des Charismatifchen
und Ethifchen zuläffig fei; ja, er fordert die Unerläfslich-
keit der demüthig frommen Gefinnung, aber er begründet
die Forderung doch wieder nur damit, dafs fie der .natürliche
Mutterfchofs' fei, worin fich das Charisma ,am
gedeihlichften' entwickelt, und hält nur die perfönliche
Würde für verletzt, ,wenn einer als Organ der Gnade
zu tranfitivem Wirken dafteht, ohne dabei auch gleicherweife
williges Gefchöpf der Gnade zu fein'. O nein! auf
evangelifchem Boden hat die charismatifche Wirkung der
vaßte ihre abfolut geltende Vorausfetzung in deren
ethifcher Wirkung, und alle Charismen, die ohne diefe
abfolut geltende Vorausfetzung auftreten, führen beim
Pfarrer und bei der Gemeinde zu ungefunden Zuftänden,
die nimmermehr dem evangelifchen Glaubensleben förderlich
find. Das ift freilich gewifs, dafs zum Eintritt in
das Geiftliche Amt der .innere Beruft, d. h. eine zur
Führung des Amtes ausrüftende charismatifche Begabung
erforderlich ift, wie es andererfeits zu conftatiren ift, dafs
überall, wo in der Gemeinde wahrhaftes Glaubensleben
fich findet, auch charismatifche Kräfte entbunden werden,
die für die Gemeinde gegeben, daher auch in irgend einer
Weife für die Gemeinde zu verwerthen find. Dafs der Herr
Verfaffer darauf hingewiefen hat, foll ihm gedankt fein.
Auf dem Begriff des Charisma allerdings läfst fich ein
,Syftem' der praktifchen Theologie nicht erbauen, und
vielleicht hätte derVerfaffer wohlgethan, den fyftematifchen
Verfuch einer fpäteren Entwickelungsftufe vorzubehalten.

Form und Sprache find einigermafsen einwandfrei.
Einige fremdartige Wortbildungen (z. B. .ftetsfort* S. 2.
20. 39. 103 u. f. w. und ,Eignung' = Tüchtigkeit = fich zu
etwas eignen) und wunderliche Satzgefüge (S. 28. 29)
fcheinen der Correctur des Verfaffers entgangen zu fein.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Riggenbach, Prof. D. Bernhard, Die christliche Gemeindepastoration
nach Schrift und Erfahrung. Vorlefungen
über Paftoraltheologie. Bafel, R. Reich, 1898. (VIII,
276 S. gr. 8.)

Nach den hinterlaffenen Vorlefungen des im kräftig-
ften Mannesalter heimgegangen Verfaffers hat der ihm
befreundete Pfarrer Haller in Bafel dies Werk herausgegeben
. Gegen Opera postuma, die nicht druckfertig
und für den Druck beftimmt vom Verfaffer hinterlaffen
werden, herrfcht ein wohlbegründetes Mifstrauen; die
Freundfchaft und Pietät kennt meiftens keine Kritik.
Diefem Buch gegenüber kann fich das Mifstrauen nicht
halten. Die frifche, durchweg gefunde und nüchterne,
auch wohl einmal derbe, dabei tief religiöfe und charaktervolle
Art der Darftellung und Beurtheilung aller Fragen
fichert dem Werk einen hervorragenden Platz in der
Literatur der praktifchen Theologie. Schade, dafs auf
die Correctur befonders der erften Bogen nicht gröfsere
Sorgfalt verwendet ift.

In der Einleitung (S. i—9) wird der Paftoraltheologie
ihre Stelle in dem Ganzen der theologifchen Wiffen-
fchaften, die der Verfasser in die hiftorifche und die
genetifche Befchreibung des Chriftenthums theilt,