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Ausgabe:

1898 Nr. 14

Spalte:

401-405

Autor/Hrsg.:

Stock, Otto

Titel/Untertitel:

Lebenszweck und Lebensauffassung 1898

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 14.

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ftark hervortreten verfchiedene aus den pfychifchen ! griff idealiftifcher Lebensauffaffung wie als Beurtheilungs-

Grundlagen hervorgehende Einzelfyfteme menfchlichen
Handelns, Wollens und Denkens, die bei aller Verflechtung
und Wechfelwirkung fleh doch nie auf eine
Einheit redlichen laffen. Wie das in diefe verfchiedenen
Syfteme verflochtene Individuum fie nie in fleh zu einer
völligen Einheit verarbeitet, gerade fo wenig gelingt dem
focialen Procefz eine folche Vereinheitlichung. Das lft
jedenfalls Thatfache, alle entgegengefetzten Darflellungen

maafsftab für die fubjectiven Unterfchiede in den fittlichen
Entwickelungsftufen darzuflellen, ift die Aufgabe, die fleh
die lehrreiche und ausgezeichnet klar und knapp gefchrie-
bene Schrift des Verfaffers ftellt. In fcharffinnigen
Auseinanderfetzungen mit den bekannteften Ethikern der
Gegenwart, mit Simmel, Wundt, Paulfen, Höffding, Mei-
nong, Mill, Spencer, v. Schubert-Soldern, Schuppe u. a.
entwickelt er feine ernfte und umfichtige Anfchauung von

geben nur fociale Utopien für die Zukunft, in der man der Sache. Seine eigene Auffaffung fchliesst fleh dabei
freilich alles gefchehen laffen kann, was man will. Wer | am nächflen an Schuppe's ,Grundzüge der Elthik' an.
den Gefchichtsprocefs überwiegend religiös betrachtet, 1 Auf theologifche Ethiker ift hier, wie auch bei den übrigen,
wird fleh darüber nicht wundern. Denn zwifchen zwei j gar keine Rückficht genommen, wie ja auch die Theo-
Welten flehend und aus der Natur in die Welt des Geiftes logen jene philofophifchen Ethiker kaum zu berückfich-
und der Perfönlichkeit fleh emporkämpfend kann der | tigen pflegen. Die gegenfeitige Trennung, die in der
menfehliche Gefchichtsprocefs weder in den treibenden ; Ethik viel fchlimmer herrfcht als in der Rehgionsphilo-

fophie, wird dadurch trübfelig veranfehaulicht. Das wird
auch kaum beffer werden fo lange man das Hauptproblem
einer religiöfen Ethik nur in dem Aufweis der Noth-
nungfeilf^" wendigkeit einer religiöfen d. h. übernatürlich-offen-

I3iefe Einwände follen aber den Dank gegen die j barungsmäfsigen Sanction gewiffer Moralgebote oder der

pfychologifchen Kräften noch in den Refultaten einheit
lieh fein, wenigftens nicht unter den irdifchen Dafeins-
bedingungen. Die Einheit kann hier lediglich eine Hoffüberaus
lehrreiche und nützliche Darflellung des Verf.
nicht einfehränken. Das Buch ift vortrefflich geeignet,
fowohl hiftorifch über den Verlauf der europäifchen Ge

Nothwendigkeit einer die Verflttlichung bewirkenden
übernatürlichen Gnadenkraft fleht. Es ift erfreulich, dass
Stock (S. 77) klar erkannt hat, wie wenig hier die eigent-

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dankenbewee-une- als auch eben dadurch fyftematifch über j liehe Hauptfrage liegt und dass er bei aller Ignorirung

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die hier in Betracht kommenden Begriffe zu unterrichten.
Es ift daher fowohl dem Religionsphilofophen als befonders

der theologifchen Ethiker doch die chriftliche Moral
felbft fehr ernftlich und originell, wenn auch äufserft ein-

dem Ethiker zu empfehlen. Auch fei auf die — freilich | feitig in Betracht gezogen hat

nur theilweife treffende — Kritik hingewiefen, die B. an den
beiden anderen bedeutendften modernen Arbeiten über
Gefchichtsphilofophie und gefchichtliche Methode übt
an der Rickert's (Grenzen der naturwiffenfehaftlichen Be

Die Methode ift, wie heute allgemein für diefe Zweige
der Geifteswiffenfehaften, diepfychologifch-empirifch-kriti-
fche, zunächft das Gegebene der Ethik, the data of ethics,
wie Spencer fagt, feftzuftellen und aus dem thatfächlichen

griffsbildung 1897) und an der Dilthey's (Einleitung in Vollzug der fittlichen Werthurtheile das Princip zu abftra

die Geifteswiffenfchaften 1883, Ideen über eine befchrei-
bende und zergliedernde Pfychologie SAB 1894, Beiträge
zum Studium der Individualität SAB 1896). Auf die
früher von mir an diefer Stelle befprochenen Werke von
Clafs und Eucken ift leider kein Bezug genommen. Das
gefchieht wohl erft im pofitiv ausführenden zweiten Bande,
dem man mit Intereffe entgegenfehen darf.

Heidelberg. Troeltfch.

Stock, Priv.-Doc. Dr. Otto, Lebenszweck und Lebensauffassung
. Greifswald, J. Abel, 1897. (V, 177 S. gr. 8.)

M. 3. 50

Noch eifriger als die Religionswiffenfchaft wird die
Ethik von nicht-theologifcher Seite betrieben, weil begreiflicher
Weife bei dem Zufammenbruch der bisherigen
Normen den meiften die ethifchen Normen noch dringender
einer Erneuerung oder Befeftigung zu bedürfen
fcheinen als die religiöfen. Auf das Zeitalter der Autorität
oder kirchlich-religiöfen Heteronomie ift, wie die
Einleitung der vorliegenden Arbeit ausführt, feit dem
18. Jahrh. ein Zeitalter der Autonomie des Subjectes gefolgt
, das auch die Moral wefentiieh vom Standpunkt
des Subjectes conftruirte und feit der Auflöfung der hierbei
gemachten Vorausfetzung von der allgemeinen Gleichheit
der Menfchen zu einer unabfehbaren fubjectiviftifchen
Verwilderung geführt hat. Dagegen hat fleh dann ein
erneutes Streben nach Gewinnung objectiver Normen
erhoben, die nun aber nicht mehr aus der kirchlichen

oder religiöfen Autorität, fondern aus den Bedürfnifsen [ Luft den Willen "in BVwegun"g"*feVz't, Tber'das SittlTche

hiren, nach dem diefe Urtheile gefällt werden. Die Ethik
fucht, wie jede Wiffenfchaft, nicht in erfter Linie Normen
für das Leben aufzuftellen, fondern die in der Wirklichkeit
herrfchenden Gefetze zu erkennen, woran dann erft
praktifche Folgerungen fleh anfchliefsen können. Nachdem
eine Unterfuchung der Werthurtheile überhaupt gezeigt
hat, dafs es nur benannte, am Gegenftand haftende
und je nachdem Gegenftand fpeeififeh verfchiedene Werthe
und dementfprechend auch verfchiedene Werth- oder
Luftgefühle giebt, womit das abftracte Luft-Princip des
Eudämonismus fchon in der Wurzel abgefchnitten ift, nachdem
eine weitere Unterfuchung der Gefetze des Wollens
gezeigt hat, dafs der Wille nur von dem gefühlten Werthe
beftimmt wird, wobei aber das Fühlen des Werthes felbft
vom Subject und dem Ernft feiner vergleichenden und
reflectirenden Abfchätzung abhängig ift und dadurch der
relative Freiheitscharakter des fittlichen Werthurtheils
gewahrt bleibt, geht Stock an die Frage nach dem eigentlichen
Gegenftande des fittlichen Urtheils. Unter Aus-
fchlufs des Subjectes des Wollens, das die antike Ethik
als Tugendlehre zum Gegenftande gemacht hatte, der
blofsen allgemeinen Form des Wollens, von der Kant
nur die logifche Allgemeingiltigkeit der praktifchen Vernunft
verlangt hatte, und des unbenannten abftracten
Luftmotivs, das der Eudämonismus mit Verkennung des
concreten, die Luft erregenden Zweckinhaltes in den
Mittelpunkt zu Hellen pflegt, zeigt Stock mit treffender
Klarheit den Gegenftand des Urtheils in dem inhaltlichen,
concret benannten Zweck des Wollens, der zwar durch
das Motiv der von ihm gewährten fpeeififeh fittlichen

der pohtifchen oder focialen Gemeinfchaft abgeleitet j oder Unfittliche des Willensactes in der Entfcheidung
wurden und zu dem heute faft allgemein herrfchenden Be- | für den jeweiligen Zweckinhalt erkennen läfst Der fitt-
griff der (utihtariftifchen) Socialethik geführt haben. Zwi- : liehe Zweck läfst fich auch ohne Mühe als die bei der
fchen beiden Gegenfatzen, m denen Stock — den wirk- antiken Tugendlehre, bei Kant's Vernunftgefetz und bei
liehen Umkreis freilich fehr verengend — die zwei Haupt- der eudämoniftifchen Unterfcheidung höherer und niederer
Probleme der gegenwartigen Ethik erkennt, die höhere j idealer und finnlicher Luft im Hintergrunde flehend er-
Einheit zn finden, von ihr aus die Ethik ftreng wiffen- kennen.

fchaftlich d.h. logifch nothwendig und einheitlich zu con- ] Die Hauptfrage ift alfo die nach dem fittlichen
ftruiren und fie derart fowohl als Inbegriff und Zielbe- | Zwecke. Hier aber verläfst Stock die eingefchlagene