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Ausgabe:

1898 Nr. 12

Spalte:

343-345

Autor/Hrsg.:

Ritschl, Otto

Titel/Untertitel:

Nietzsches Welt- und Lebensanschauung 1898

Rezensent:

Hartung, Bruno

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343

Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 12.

344

Verf. gegen die Identificirung von Glauben und Dogma,
von Religion und Lehre (49—55); die wahre, gottgewollte
Einheit der Kirche ift nicht die unite de doctrine, fondern
die union dans la piete (94). Indeffen, wie berechtigt auch
der Proteft gegen den Intellectualismus der alten Schulen
ift, fo entfprechen doch die Aeufserungen des Verfs. über
das Wefen der Kirche und über die Bedingungen der
Zugehörigkeit zur chriftlichen Gemeinde zweifellos nicht
den Erfahrungen und Forderungen der evangelifchen j
Chriftenheit. Die Mängel und Schwächen der Pofition
Ch.'s dürften am beften aus den höchft merkwürdigen
Ausführungen erhellen, in denen er nachweift, dafs es I
verfehlt war, wenn man den Glauben an Chriftus als Bedingung
der Gliedfchaft an der Kirche aufftellen wollte
(60—61); mit vollem Bewufstfein abftrahirt vielmehr der
Verf. von der Glaubensftellung zu Chriftus, indem er mit
dem unbeftimmten Begriff der adoration de Dieu operirt,
deren Hauptfactoren die Ehrfurcht und die Liebe feien j
und die fich dadurch als chriftlich legitimire, dafs fie
alle jüdifchen und heidnifchen Zuthaten und Unarten
ausfcheide. Von diefen ganz allgemein und abftract gehaltenen
Prämiffen aus unterwirft Ch. den evangelifchen
Kirchenbegriff, vor Allem die Forderung der reinen Verkündigung
des Evangeliums und der ftiftungsmäfsigen Verwaltung
der Sacramente einer fehr ftrengen, die gefchicht-
lichen Entftehungsgründe des evangelifchen Bekenntnifses
vielfach verkennenden Kritik; auch die Urtheile über den J
Katholizismus leiden an einer auffallenden Oberflächlich- j
keit {Je catholicisme est ne de ce que Von a mis Punite
de doctrine ä la place de Punion des chretiens, S. 95).
Formell ift die Schrift nicht tadellos; fie ift nicht frei von
fprachlichen Unebenheiten (Jpouser un buP 62) und fchlägt
zuweilen einen Ton an, der dem Ernft und der Würde j
des Gegenftandes in keinerlei Weife angemeffen ift (Vgl. |
z. B. S. 93: Pourquoi y a-t-il des lutheriens, des reformes,
et cctte midtitude de denominations protestantes dont tEnumeration
remplirait des pagest Lhistoire repond clairement:
parce que chaque roquet a pretendu etre le chien type, le '
vrai chien. Siehe das gefchmackvolle Bild fchon S. 44). 1
Wahrlich, die theologifche Facultät zu Montauban hat
wohl daran gethan, diefer Etüde d' histoire chretienne
den Preis zu vertagen.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Tönnies, Ferd., Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. (XII,
114 S. 8.) Leipzig 1897, O. R. Reisland. M. 2.—

Schell wien, Rob., Nietzsche und seine Weltanschauung. Eine
kritifche Studie. Leipzig, A. Janffen, 1897. (45 S. gr. 8.)

M. I.—

Kattan, Prof. D.Jul., Das Christenthum und Nietzsches Herrenmoral
. Ein Vortrag, geh. im Berliner Zweigverein des
Evangel. Bundes. Berlin, G. Nauck, 1897. (24 S. gr. 8.)

M. —.50

Ritsehl, Prof. Otto, Nietzsches Welt- und Lebensanschauung

in ihrer Entftehung und Entwicklung, dargeftellt und be-
urtheilt. Freiburg i/B., J. C. B. Mohr, 1897. (VI, 58 S. gr. 8.)

M. 1.—

Wilhelm!, J. H., Th. Carlyle und F. Nietzsche, Wie fie Gott
fuchten und was für einen Gott fie fanden. Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht, 1897. (IV, 88 S. gr. 8.)

M. 1.60

Fünf Schriften über Friedrich Nietzfche faft zugleich
erfchienen liegen vor mir, eine jede grundverfchieden von
den andern, und das find noch lange nicht die einzigen,
ganz abgefehen von den in den Zeitfchriften zerftreuten
Abhandlungen. Was für eine Bedeutung fcheint doch
diefer wunderliche Denker und Dichter im deutfehen
Geiftesleben gewonnen zu haben! Freilich überaus bezeichnend
ift, was Kaftan erzählt. ,Ich befitze zwei Bände
von Nietzfche's Werken, die ich in einem hiefigen Lefe-
zirkel erttanden habe. Sie fahen fehr fchmutzig, vergriffen
, von Hand zu Hand gegangen aus, fo dafs die
Luft zum Kaufen trotz des billigen Preifes verging. Beim
Auffchlagen ergab fich aber, dafs fie inwendig ganz sauber
waren, in einem Band nur 100 Seiten aufgefchnitten, die
anderen faft ganz unberührt'. Ich habe ganz ähnliche
Erfahrung gemacht. Mein antiquarifches Exemplar des
Zarathuftra war nur an einzelnen Stellen aufgefchnitten.
Nietzfche wird mehr gekoftet, als ftudirt. Man freut
fich einiger in claffifcher Sprache ausgedrückter Gedanken
umfomehr, je ungewöhnlicher der Inhalt ift. Aber
man wird müde, die wechfelnden Bilder, die fich fchwer
zu einem Ganzen zufammenfaffen laffen, lange hintereinander
an fich vorübergehen zu fehen.

Ganz anders freilich hat Tönnies fich mit ihm be-
fchäftigt, der fchon als 16 bis 20jähriger Jüngling zu den
Vereh rem Nietzfche's gehörte und wohl alles aus leiner
Feder gelefen hat. Man kann über den Werdegang des
Philofophen hier viel lernen, befonders auch darüber,
wie feine Stellung zu R. Wagner für feine frühere Ent-
wickelung beftimmend gewefen ift. Uebrigens immer
weniger hat Tönnies dem Führer feiner früheren Jugend
zugeftimmt, wenn er auch in feiner Weife darlegt, warum
fo verfchieden geartete, auch Nietzfche gegenüber fo
ganz anders geartete Leute an ihm Wohlgefallen gefunden
haben. Der eigene Standpunkt des Verf, wird z. B. durch
die Worte gekennzeichnet: ,Die moralifchen Wirkungen
der chriftlichen, jeder Religion find im Ganzen nicht grofs.'
Mit Recht macht er Nietzfche den Vorwurf, dafs er für
die socialen Gedanken und Aufgaben der Zeit gar kein
Verftändnifs habe, und fleht in ihm feine eigenen Worte,
die er aus einer früheren Schrift in feiner letzten wiederholt
hat, erfüllt: ,Es giebt freie, freche Geifter, welche
verbergen und verleugnen möchten, dafs fie zerbrochene,
ftolze, unheilbare Herzen find, und bisweilen ift die Narrheit
felbft die Maske für ein unfeliges, allzu gewiffes
Wiffen'. ,Es ift der Fall Hamlet', ,Es war Nietzfche's
eigener Fall'.

Merkwürdig mit denfelben eben angeführten Worten
fchliefst Schellwien feine Beurtheilung Nietzfche's. Er
gefleht dann ein, dafs er in feiner eigenen Schrift feiner
eigenen Philofophie erneuten Ausdruck habe geben wollen.
Diefe aber ift, wie man es auch anders nennen mag, aus-
gefprochener Pantheismus. ,Die Wahrheit' ift in der
einzelnen Erkenntnifs, der Allwille im Individualwillen
gegenwärtig, und durch das Bewufstfein jenes gegenüber
' diefem beginnt die Moral. Diefe Darftellung wird zur
j Kritik Nietzfche's, der den Allwillen leugnet und das ganze
i Sein auf blofse Individualkräfte zurückführt. Er ift damit
j im Recht, fo meint Sch., fofern er den Menfchen von der
Herrfchaft des aufserweltlichen Gottes befreien will, aber
er thut Unrecht, indem er den Allwillen als immanente
Kraft des Lebens verkennt.

Weit unterfchieden von diefen beiden find die drei
andern Schriften, die mit aller Entfchiedenheit auf dem
Boden chriftlicher Weltanfchauung ftehen. Zu dem
Beften, was über Nietzfche gefchrieben worden ift, gehört
Kaftan's im Berliner Zweigverein des evangelifchen
I Bundes gehaltener Vortrag. Hier ift volles Verftändnifs
für den Schriftfteller, dem Kaftan in Bafel perfönlich
nahe getreten ift, für feine glänzende Begabung und
feinen leidensvollen Lebensgang, für fein nie ganz überwundenes
religiöfes Intereffe, das ihn fefthält und innerlich
auch vom Chriftenthum nicht loskommen läfst, felbft
| nachdem er längft gottlos geworden ift, für den Zauber,
den er auf die verfchiedenartigften Menfchen ausübt,
während es doch unmöglich ift, ihn im wiffenfehaftlichen
Sinne ernft zu nehmen. Hat doch kaum einer der
modernen Schriftfteller feine Feder fo in die Sprache
Luther's und der Schrift getaucht. Verliert man doch
z. B. im Zarathuftra nie den Eindruck, dafs er auch ihre