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Ausgabe:

1898

Spalte:

342-343

Autor/Hrsg.:

Chavannes, C.G.

Titel/Untertitel:

Qu‘est-ce qu‘une Eglise? 1898

Rezensent:

Lobstein, Paul

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342

andeutend, nicht ausführend, doch auch hier zeigt fich,
dafs er dem Entwickelungsgedanken der modernen Welt-
anfchaung das fittlich religiöfe Leben der Perfönlichkeit
nicht zum Opfer bringt. Bei aller Anerkennung des
wachsthümlich und organifch fich entwickelnden Charakters
des Chriftenlebens, will R. keineswegs die Grundbegriffe
der chriftlichen Ethik preisgeben. ,Es wird, ob
auch in fehr allmählichem Fortfehritt und unter mancherlei
Rückfehritten, durch Jefus Chriftus eine qualitativ
andere Richtung unferes Sinnes und Muthes gegenüber
dem aus unferem Verhäftnifs zur Welt und unteren Trieben
und Neigungen erwachsenden Sinn in uns hervorgerufen
, eine „Umkehrung der Motive". Darum ift es
„Bekehrung", Wiedergeburt, Schaffung eines neuen Lebens
durch Gott'.

2) Diefen knappen AndeutungenderSchriftReifchle's
tritt die oben in zweiter Linie erwähnte, von dem Pro-
feffor der fyftematifchen Theologie an der Univerfität
Genf, Herrn G. Fromm el verfafste Schrift, ergänzend
und beftätigend zur Seite. Diefer jedem gebildeten
Lefer verftändliche, durch Kraft und Schönheit der
Sprache ausgezeichnete, dabei aber niemals in Rhetorik
ausartende Effay verdankt feine Entftehung mehreren
in der Schweiz und in Paris (zwifchen dem 21. September
und dem 14. Dezember vorigen Jahres) gehaltenen
Vorträgen. Diefelben umfaffen einen viel geringeren
Complex von Fragen als der weit angelegte,
die wefentlichlten Elemente der Frage berührende Vortrag
des deutfehen Theologen. Namentlich läfst F. die
auf das Naturgebiet bezüglichen Probleme, Schöpfung
der Welt, Abdämmung des Menfchen, ganz aus dem
Spiel; auch fafst er nicht das Gefammtgebiet der Ge-
fchichte ins Auge. Er befchränkt fich vielmehr auf die
Unterfuchung der Frage, ob der Entwickelungsbegriff
in feiner reinen und confequenten Geftalt auf die dem
fittlichen Leben eigenen Thatfachen angewandt werden
darf. Denjenigen gegenüber, welche die evolution tli'eo-
rique 01t de doctritie als Alles erklärende Wahrheit, als
principe uidque d'intrepretation integrale et universelle
vertreten, unternimmt es der Verf. den Widerfpruch
nachzuweifen, in welchem jenes als allein giltig gedachte
Prinzip mit den ethifchen Poftulaten und Grundgedanken
fich befindet, 1) mit der moralifchen Pflicht des Individuums
, fich eine moralifche Ueberzeugung zu bilden (25
—41), 2) mit der moralifchen Pflicht des Individuums, fich
religiös zu bethätigen (42—58), 3) mit dem Prinzip jeder,
fowohl weltlicher als religiöfer Ethik (59—68), 4) mit
dem Prinzip der fpezififch chriftlichen Ethik (69—120). !
Ihm ift, wia Reifehle, die Thatfache des Werdens und 1
Sich-Wandelns fittlicher und religiöfer Begriffe ficher und
unleugbar; allein, wie R., legt F. den entfehiedenften 1
Protei! gegen die Verfuche ein, die gefammte Gefchichte
des geiltigen, auch des religiöfen und'fittlichen Lebens j
nach Analogie der Naturvorgänge zu erklären. Mit der
zwingenden Macht einer unerbittlichen Logik und mit
der gewinnenden Wärme des religiöfen und fittlichen
Pathos zeigtF.wiedereinfeitigeEvolutionismusdasGeiftes-
leben der Perfönlichkeit auf den Boden des Naturgefetzes
herabdrückt, und damit fowohl das fittliche Bewufstfein
abftumpft als auch dem Chriftenthum feinen Lebensboden
entzieht. Trotz der überzeugenden Gewalt, mit
welcher der Verf. die Gefahr des naturaliftifchen Evolutionsgedankens
für das fittliche Leben aufdeckt, läfst
die vorzügliche Arbeit F.'s nicht das Gefühl innerer j
Befriedigung und Klärung zurück, das der Lefer aus
R.'s Vortrag fchöpft. Ich fehe hier von dem Verfuch
des Verfaffers ab, Sabatier und Chapuis als Vertreter
des Evolutionsgedankens gelegentlich zu bekämpfen oder
abzufertigen, ein Verfuch, bei welchem F. von dem übeln
Verfahren, einzelne Sätze aus dem Zufammenhang zu
reifsen und mit leichter Mühe zu widerlegen, nicht frei
zu fprechen ift: wo hätten z. B. jene Theologen den
chriftlichen Gedanken der Freiheit oder den Schuldcharakter
der Sünde geleugnet? Wo hätten fie der Perfon
Chrifti die blofs relative Bedeutung eines Gliedes der
Entwickelungsreihe beigelegt? Indeffen ift nicht diefe
m. E. irrthümliche und ungerechte Bcurtheilung der
Gegner Schuld an der Unficherheit und dem Unbehagen,

I mit welchem der Lefer, bei aller Anerkennung des
Werthes der hier geäufserten Gedanken, die Fromme 1'-
fche Schrift aus der Hand legt. Das Unbefriedigende

I liegt vielmehr in der rein negativen und polemifchen
Haltung der Ausführungen Frommel's. Zu wiederholten
Malen äufsert fich der Verf. dahin, dafs das Chriftenthum
nicht lediglich ablehnend und feindlich dem Entwickelungsbegriff
gegenüber fleht; nun hat er es aber unter-
laffen, fowohl die conftituirenden Momente des modernen
Entwickelungsgedankens fcharf und präzis zu beftimmen,

j als auch zu zeigen, in welchem Sinn und unter welchen
Bedingungen diefer Gedanke mit dem Chriftenthum vereinbar
ift. Der Hinweis auf Berthoud's foeben er-

: fchienene Apologie du christianisme pg. 300—320, bietet
für diefen Mangel um fo weniger den gewünfehten Er-
fatz, als F. fchwerlich den erkenntnifstheoretifchen Vor-
ausfetzungen B.'s beipflichten dürfte. Auch die Schlufs-
erklärung F.'s läfst den hier erhobenen Einwand nicht ver-

| ftummen. ,Certain que l'intelligence travaille toujours au
profit de la volonte, et convaineu que toute verite religieuse
a ses conditions dans la volonte niorale, j'ai cherche a
mettre celle-ci en demeure de trancher moralement, erst
ä dirc prafiquement, une question que les theories modernes
tue paraissent embrouiller a plaisir. Et J'ai vu que,
trancliee sur ce terrain, eile sc resoudrait d' ellc-meme et
sans tnoi dans la pensee de nies leeteurs' (123). Wir glauben
, dafs fich der Verf. in diefer Erwartung täufcht, und
wir können nicht umhin, die Hoffnung auszufprechen,
dafs er felbft die von ihm zwar mit Abficht, aber zum
Schaden der Beweiskraft des Ganzen, gelaffene Lücke
ausfüllen und die Frage in ihrem vollen Umfang und
in ihren weitverzweigten Zufammenhängen behandeln
wird. Dafs er diefer Aufgabe gewachfen ift, dafür ift
die vorliegende Schrift die ficherfte Bürgfchaft.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Chavannes, C. G., Qu'est-ce qu'une Eglise? Etüde d'histoire
chretienne. Paris, Fifchbacher, 1897. (III, 97 S. 8.)

Fr. 1.25

Diefer Löfungsverfuch einer von der theologifchen
Facultät geftellten Preisaufgabe erhielt den Preis nicht
und fleht in der That hinter den gekrönten Arbeiten
von Fallot und Weftphal fehr beträchtlich zurück (Th.
Ltztg. 1897. Nr. 7.). Trotz des von dem Verf. offen ge-
ftandenen Mifserfolges, hat er feine Schrift veröffentlicht,
weil er ,überzeugt ift, in derfelben fehr wichtige, von der
ungeheuren Mehrheit der Proteftanten verkannte Wahrheiten
vorzubringen und zu beweifen'. Leider werden
die durch eine folche Verheifsung geweckten Erwartungen
nicht gerechtfertigt. Ch. geht von dem Grundfatz aus,
dafs die Kirchen, von denen das Neue Teftament fprichi,
chriftliche Kirchen waren, und zwar die erften, die es
überhaupt gab. Demgemäfs beftimmt er zunächft die
Bedeutung des Wortes txxXtjöla in den neuteftamentlichen
Urkunden (6—28); hierauf unterfucht er ,die Genefis der
Kirche', unter Ablehnung des hiftorifchen Charakters und
Werthes der Apoftelgefchichte (29—39); drittens beantwortet
er die Frage qu'est-ce qu'une Eglise dahin, dafs
die Kirche eine Gemeinfchaft derer ift, die an einem gegebenen
Orte in ihrer Eigenfchaft als Chriften und im
Unterfchied zu Nichtchriften fich als Chriften bekennen
(S. 43 vgl. 90). Was aber den Chriften zum Chriften
macht, was ihn vom Nichtchriften unterfcheider, ift nicht
irgend eine Lehre oder dogmatifche Formel, fondern die
Religion, die Anbetung Gottes, fpeciell die Art diefer
Anbetung (S. 55). Sehr fcharf und entfehieden eifert der