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Ausgabe:

1898 Nr. 11

Spalte:

314-315

Autor/Hrsg.:

Warneck, G.

Titel/Untertitel:

Abriss einer Geschichte der protestantischen Missionen von der Reformation bis auf die Gegenwart. 3., gänzlich umgearb. Aufl 1898

Rezensent:

Wurm, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. tt.

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faltung des fubjectiven Vorgangs der Bekehrung, an den
Anfang der Darftellung geftellt werden? Nicht minder
ift es zu rügen, dafs der Begriff des Reiches Gottes als
des höchflen Gutes (S. 281 f.) keineswegs eine domini-
rende Stellung behauptet, und dafs der Zufammenhang
in welchem diefer den Organismus aller ethifchen Be-
ftrebungen darfteilende Grundgedanke mit den einzelnen
(ittlichen Gütern fleht, nicht in gehöriger Weife zur Geltung
gelangt.

Was die ethifchen Grundbegriffe der Pflicht und
der Tugend betrifft, fo läfst lieh nicht leugnen, dafs
der Gruppirungsverfuch des Vfs. ein geiftvoller ift, der
auf den erften Blick etwas Beftechendes hat. Seine
Pflichtentafel gewinnt er, indem er die Pflicht als
das Correlat der Sünde fafst, und demgemäfs auch im
Gegenfatz zur Sinnlichkeit, zur pofitiven und negativen
Form der Selbflfucht, zur Gottentfremdung, die Pflichten
der Selbftb eherrfchung {spiritualitc), der Gerechtigkeit
, der Liebe und der Frömmigkeit ftatuirt.
Während aber die Pflicht als Forderung an das Gewiffen
herantritt, giebt fleh die Tugend als gottgewirkte Kraft
zu erkennen; diefe energie d'en kaut ftellt fleh Gott gegenüber
im Glauben dar, verwirklicht fleh gegen den Näch-
ften in der Liebe, bethätigt fleh endlich in der Dankbarkeit
und in der Hoffnung. — Prüft man aber
diefe Conftruction genauer, fo taucht ein Heer von Fragen
und Einwendungen auf. Ift die Formel le picke" fait
Ic devoir (316) nicht mifsverftändlich und verwirrend?
Was foll die Gleichung des Syftems der Pflichten und
des flttlichen Kampfes (/a luttc, 011 Systeme des devoirs)
bedeuten? Was berechtigt uns, die Tugend aus dem
Gebiete des flttlichen Kampfes zu eximiren und unter
das Schema der Hilfe zu ftellen? Kommt in der Bildung
des Tugendbegrififs das Sittliche als erworbene
Wilienskraft in Betracht, fo fällt gewifs die Tugend nicht
weniger als die Pflicht unter den Geflchtspunkt des
Kampfes; eine indirecte Beftätigung diefes Urtheils giebt j
der Vf. felbft dadurch, dafs er die Tugend, wie die
Pflicht, als wefentliches Moment der Bewährung des
chriftlichen Lebens fafst. — Durchaus incorrect ift es
endlich, wenn B. das Problem von der Pflichtencollifion
(201—210) lange bevor er fleh prinzipiell über das
Wefen und den Theilungsgrund der Pflicht geäufsert hat,
eingehend zur Sprache bringt.

Die bisher gemachten Ausftellungen fcheinen zu-
nächfl rein formaler Natur zu fein; das ift aber keineswegs
der Fall: fle berühren bereits den Inhalt felbft und
greifen fehr entfehieden in die grundlegende Prinzipienlehre
ein. Sie laffen eine der Hauptfchwächen des Werkes
erkennen, den Mangel an Schärfe in der Begriffsbe-
ftimmung, welcher feinerfeits auf eine nicht genug in die
Tiefe gehende psychologifche und ethifche Beobachtung
hinweift. In der That, während der Vf. in der Behandlung
der concreten FYagen eine reiche Belefenheit, einen
feinen religiöfen und ethifchen Tact, eine mit entfehie-
denem Ernft gepaarte Milde und Weitherzigkeit an den
Tag legt, leidet die Analyfe der ethifchen Grundbegriffe
an einer, auch für die Ausführung der Einzelprobleme
zuweilen verhängnifsvollen Unbeftimmtheit. Lieft man
z. B. die Erörterungen über Determinismus und Freiheit
, über das Gewiffen, über den Begriff des Sittlichen,
fo wird man zwar aus der vorfichtig abwägenden, die
verfchiedenen Seiten der Fragen beleuchtenden Darfteilung
manche Förderung erhalten, dagegen legt
man am Schluffe der betreffenden Capitel das Buch un-
friedigt aus der Hand, weil man keiner einheitlichen und
gefchloffenen, klar und confequent durchgeführten An-
fchauung begegnet ift. Es fei mir geftattet, bei einem
letzten Punkte noch kurz zu verweilen, weil er für ein
Lehrbuch über die Morale chretienne von entfeheidender
Bedeutung ift, ich meine das Verhältnifs der chriftlichen
Ethik zum Neuen Teftament. Wie ift der
Schriftbeweis in der theologifchen Ethik zu führen?

Unterliegt er denfelben Gefetzen, wie der dogmatifche
Schriftbeweis? Läfst fleh eine Methode für die Verwendung
der neuteftamentlichen Urkunden in unferer Disci-
plin feflftellen? Wie weit reichen hier die Grenzen der
Autorität oder der Bedeutung der heiligen Schrift? Eine
prinzipielle Beantwortung diefer Fragen ift uns B. fchul-
dig geblieben. Sehe ich recht, fo bleibt die Unklarheit
in welcher er fleh in Bezug auf diefe Hauptpunkte bewegt
, in der Ausführung feiner Arbeit nicht ungeftraft.
Bald ift der Recurs auf die neuteftamentlichen Schritten
ein zu äufserlicher, zu fragmentarifcher, der an das ato-
miftifche Verfahren der alten Schulen erinnert; bald ver-
fäumt es der Vf., die ethifch fruchtbaren Stellen des
Neuen Teftaments zu verwerthen und es geht ihm ein
reiches, für untere Wiffenfchaft direct oder indirect verwendbares
Material verloren. Der Umftand, dafs B. in
den zwei erften Bänden feines Gefammtwerkes eine neu-
teftamentliche Theologie entworfen hat, bietet keinen
Erfatz für den hier beklagten Mangel, und es genügt
ein Blick in einzelne Capitel, wie z. B. das über die Vollkommenheit
, die Keufchheit u. a. um die praktifchen
F'olgen der Prinziplofigkeit B.'s auf diefem Gebiete wahrzunehmen
.

Die Stärke der Schrift B.'s liegt darnach nicht in
der Analyfe und in der pofitiven Begründung der grofsen
ethifchen Fragen und Probleme, fondern in dem Reichthum
der oft feinfinnigen und geiftvollen Bemerkungen,
in dem Pathos, mit welchem die chriftliche Erfahrung
zum Ausdruck kommt, in der Wärme des religiöfen und
flttlichen Zeugnifses, welches allerdings die Grenze zwi-
fchen der wiffenfehaftlichen und der homiletifchen Sprache
allzuhäufig verwifcht und daher auch die Unbeftimmtheit
und Unflcherheit der Unterfuchung wefentlich mit ver-
fchuldet.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Warneck, Prof. D. G., Abriss einer Geschichte der protestantischen
Missionen von der Reformation bis auf die
Gegenwart. Ein Beitrag zur neueren Kirchenge-
fchichte. 1. Abteilung. Das heimatliche Miffions-
leben. 3. gänzlich umgearbeitete Auflage. Berlin,
M. Warneck, 1898. (VI, 133 S. gr. 8.) M. 2.50

Missions-Zeitschrift, allgemeine. Monatshefte für gefchicht-
liche und theoretifche Mifflonskunde. In Verbindung
mit Miff.-Infp. D. H. M. Zahn und Paft. D. R. Grundmann
hrsg. von Prof. D. Gustav Warneck. 25. Band.
1898. 12 Hfte. Berlin, M. Warneck. (1. Heft. 47 S. u.
Beiblatt 16 S. gr. 8.) M. 7.50

Durch seinen Lehrauftrag an der Univerfltät Halle
ift Warneck veranlafst worden, feinen Abrifs der Ge-
fchichte der proteftantifchen Miffionen, welcher ursprünglich
für die Theologifche Realencyklopädie gefchrieben
war, in fehr erweiterter Form ganz neu zu bearbeiten.
F3r foll zunächft für feine Zuhörer das nothwendige
Namen- und Zahlenmaterial darbieten. Aber es ift
felbftverftändlich für alle Mifflonsfreunde eine folche
zuverläffige Ueberflcht aus Warneck's F"eder eine fehr
willkommene Gabe, und diefelbe bedarf keiner weiteren
Empfehlung. Nur fcheint dem Referenten die Einleitung
im Verhältnifs zum ganzen Umfang etwas zu lang geworden
zu fein. Es macht doch einen eigentümlichen
Eindruck, wenn in einem Büchlein von 133 Seiten der
Zeit, in welcher in Deutfchland nichts für die Mifflon
gefchehen ift, 28 Seiten gewidmet find (S. 7—35), die
deutfehen Miffionen in unteren Jahrhundert dagegen mit
14 Seiten (S. 105—118) abgefertigt werden. Es hätten
z. B. auch die Verfuche Blumhardt's und Steinkopfs, eine
allgemeine deutfehe Miffionsgefellfchaft mit continentakm
Arbeitsfeld zu gründen, erwähnt werden dürfen, aus