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Ausgabe:

1898 Nr. 8

Spalte:

216-217

Titel/Untertitel:

Old-Latin Biblical Texts: No. IV 1898

Rezensent:

Gebhardt, Oscar

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Theologifche Literaturzeitung. 1898. Nr. 8.

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weife inftinctive und unreflectirte, unbefangene Umfetzung
in die eigene Sprache anzunehmen haben. Wenn freilich
die Kritik diefen Aenderungen nachgeht und fie zu
erklären fucht, fo kann fie garnicht anders, als das, was
dort mehr oder weniger unbewufst gefchehen ift, mit
folchen Ausdrücken fchildern, dafs der Schein bewufster
überlegter Bearbeitung erweckt wird. Das ift immer der
Fall, wo die Kritik geiftige Arbeit, namentlich alles
formelle Geftalten nachzuzeichnen fich bemüht. Ohne
den Schein des Mechanifchen geht es da nicht ab, auch
nicht bei der Traditionshypothefe. Uebrigens ift gewifs
von manchen Kritikern im Errathen der geheimften
fchriftftellerifchen Abfichten auch zu viel gefchehen. Wir
follten uns klar machen, dafs wir nicht nur nicht im
Stande find, alle jene Aenderungen zu erklären, fondern
auch nicht verpflichtet. Wenn nur in einigen wenigen
grofsen Hauptpunkten der Beweis der literarifchen Abhängigkeit
erbracht und die Motive der Aenderung nach-
gewiefen find, fo genügt uns dies, man kann das Uebrige
dahingeftellt fein laffen. Was für eine Vorftellung der
Verf. von der Benutzungshypothefe hat, verräth er, indem
er redet von dem ,unausfprechlich kleinlichen Abhängigkeitsverhältnis
, welches den Synoptikern in der
Benutzung ihrer fchriftlichen Vorlagen von den Kritikern
nachgefagt wird'. ,Dies mühfelig-willkürliche Einhalten
einer gebundenen Marfchroute, fo lange der gute Wille
dafür ausreicht; diefes Ausfpähen nach Verbefferungen,

die doch fo oft verunglücken;--— diefes ganz

principlofe Sichabquälen mit dem Text feines Vorgängers,
wobei doch fchliefslich einer den anderen nur discreditirt,
ftatt Beftätigung zu bieten oder zu empfangen' ... So
malt fich im Kopfe unferes Verf. die Benutzungshypothefe.
Auch hier kann man nicht ganz leugnen, dafs der Stil
und die Ausdrucksweife unferer Kritiker hier und da folche
Vorftellungen zu erwecken geeignet ift. Aber im Ganzen
ift es doch eine übelwollende Schilderung, die hier entworfen
wird. Das ganze Bild des mühfeligen Abfchrei-
bers verfchwindet eben, wenn wir die Sache mit dem
Namen nennen, den fie verdient. Nach der Benutzungshypothefe
hat Mtth. das alte Evangelium des Markus
,neu herausgegeben' und zwar in Combination mit den
Logia des Apoftels Matthäus. Das neue Buch, welches
fo entftand, war doch im Grunde trotz der Kindheits-
gefchichten eine neue Auflage, eine erweiterte Recenfion
des alten ,Evangeliums' und Mtth. fowohl wie Luk. bezeugen
ihren Refpect vor diefer Schrift, fie bezeugen
deren officielle Geltung, indem fie diefelbe als Grundrifs
ihren Schriften zu Grunde legen, den fie durch die Reden
und anderes neues Material erweitern. Es ift ihnen alfo
nicht um Abfchreiben und Bearbeiten, fondern um die
Erhaltung und Verbreitung der alten Evangelien fchrift zu
thun und diefem Zwecke glauben fie nach der literarifchen
Anfchauung der Zeit garnicht beffer dienen zu können,
als indem fie verdeutlichen und ausmalen, glätten und
umfchreiben, ergänzen oder auch wohl vereinfachen. Es
fehlt ihnen an moderner philologifcher Akribie und
Achtung vor dem Buchftaben ebenfo fehr, wie an derjenigen
,Treue und Gewiffenhaftigkeit', die unfer Verf.
ihnen imputiren möchte. Für ihre Empfindung verfahren
fie dann am gewiffenhafteften, wenn fie die ihnen
vorliegende Ueberlieferung lebendig undfrifch zur Geltung
zu bringen fuchen. Kurz — fie verfahren mit der alten
Evangelienfchrift nicht um ein Haar anders, als fie nach
Veit mit dem auswendig gelernten Stoff verfahren fein
würden, nur dafs fie nicht gerade etwas vergeffen konnten.
Wenn man in diefer Weife lebendig ihr Verfahren fich
vorftellt, fo wird das Zerrbild der pedantifchen Benutzer
verfchwinden. Nun aber noch Eins — und das ift das
Entfcheidende, obwohl Veit mit rührender Leichtigkeit
darüber hinweg geht. Die Thatfache, dafs alle drei
Evangeliften trotz der einen grofsen Abweichung des
Mtth. im Grofsen und Ganzen demfelben Erzählungsfaden
folgen, im Einzelnen meiftens fogar ganz genau, die

I Thatfache ferner, dafs, wo einer von dem gemeinfamen
Tenor abweicht, die beabfichtigte Ordnung zerftört und
zerriffen wird, zeigt unwiderleglich, dafs die von allen
dreien benutzte Tradition nicht nur in den einzelnen Erzählungen
feft fixirt war, fondern auch in der Gefammt-
anlage. Und wenn nun Veit etwa die Anordnung der
Erzählungsftücke, wie fie von den Apofteln vereinbart
worden, reconftruiren wollte, fo würde er ungefähr auf
die Anordnung des Markus-Evangeliums kommen. Nun
ift aber — bei aller Anerkennung der Kraft jüdifchen
Gedächtnifses — fchlechterdings unbegreiflich, dafs eine
fo umfangreiche und theilweife künftliche Compofition
Jahrzehnte lang lediglich durch gedächtnifsmäfsige
Weiterüberlieferung im Wefentlichen fich fo feft erhalten
hätte, dafs noch in fo fpäter Zeit das Schema bei drei
verfchiedenen Bearbeitern immmerhin deutlich erhalten
wäre. Wenn der Verf. die Compofition diefes Ganzen
dann näher erwägen wollte, würde er erkennen, dafs fie
nur als ein literarifches Gebilde zu bezeichnen ift und
zwar als ein Werk, welches ganz von den Gedanken der
Paulinifchen Heidenmiffion erfüllt ift. Hier wäre nun
auch der Punkt, wo er feine nicht unrichtigen Vorftellungen
von der Entftehung der evangelifchen Tradition
fruchtbar verwenden könnte. Eine noch ungelöfte wichtige
Aufgabe ift es, zu erklären, wie aus der einigermaafsen
wild wachfenden mündlichen, vielleicht auch hier und da
fchriftlich aufgezeichneten Ueberlieferung das erfte ,Evan-
gelium' entftand. Es würde fich ergeben, dafs eben
gerade dies ältefte Evangelium eine ,Art Leitfaden' war,
,der den Unterrichtsftoff, fei es zum Gebrauch bei dem
Unterricht felber, fei es zur Unterftützung des Gedächtnifses
für fpäter, zufammenftellt'. Ich würde noch
hinzufügen: eine kurze Zufammenftellung desjenigen
Stoffes, der den zu gewinnenden Heiden Art und Abficht
der chriftlichen Verkündigung klar machen follte — kurz
eine Miffionsfchrift im eigentlichen Sinne. Aber eben
dies erfte Evangelium erweift fich als eine Auswahl aus
dem gefammten Stoff, unter religiöfen oder miffiona-
rifchen, apologetifchen Zwecken zufammengeftellt, von
diefem älteren Stoffe in mannigfacher Weife abhängig
und hier und da durch die Anordnung diefes Stoffes
bereits gebunden.

Im Ganzen verdient Veit's Arbeit als Leiftung eines
Mannes im praktifchen Amte alle Anerkennung. Wenn
er auch einen verkehrten Weg gegangen und durch
dogmatifche Ueberzeugungen vielfach gehemmt ift, fo
hat er doch den riefigen Stoff forgfältig durchgearbeitet
und fich ein möglichft lebendiges Bild zu machen gefacht
. Man kann nur bedauern, dafs die Befchäftigung
mit dem Gegenftande ihn nicht zu einer gerechteren und
verftändnifsvolleren Beurtheilung der kritifchen Arbeit
geführt hat.

Marburg. Johannes Weifs.

Old-Latin Biblical Texts: No. IV. Portions of the Acts of
the Apostles, of the Epistle of St. James and of the
first Epistle of St. Peter, from the Bobbio Palimpsest
(S), now numbred Cod. 16 in the Imperial Library at
Vienna, edited, with the aid of Tischendorf's and
Belsheim's printed texts, by Henry J. White, M. A.
With a Facsimile. Oxford, Clarendon Press, 1897.
(1 Taf., XXII u. 53 S. 4.) Sh. 5. —.

Die Schwierigkeit der Entzifferung des Palimpfeftes,
welchem das vorliegende vierte Stück der Old-Latin Biblical
Texts gewidmet ift (über No. III vgl. Jhrg. 1890 der
Th.L.Z. Sp. 77f.), erhellt am heften aus der Gefchichte
derfelben. Auf den 40 dazu gehörigen Seiten konnte
J. von Eichenfeld (1824) nur hier und da einige Zeilen
entziffern. ,In diesen zwanzig Blättern', erklärte er (Wie-
| ner Jahrb. d. Litter. Bd. 26, Anz.-Bl. S. 20), ,finden sich