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Ausgabe:

1897 Nr. 4

Spalte:

113-115

Autor/Hrsg.:

Kähler, Martin

Titel/Untertitel:

Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus. 2., erweit. u. erläut. Aufl 1897

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 4.

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tung der Perfönlichkeit geleiftet hat. Wir alle erfreuen , Kritik der „Leben-Jefu-Bewegung" ausführlich zurückge-
uns der Güter, die jene Zeit uns erftritten hat. Bei wiefen hatte (S. 96—148: „Hiftorifcher Skeptizismus" und
Becker fpeciell tritt zugleich in fehr anziehender Weife „dogmatiftifche" Grenzüberfchreitung oder vorfichtige

ein warmherziger deutfcher Patriotismus hervor, der ihn
denn auch dem Despotismus Napoleons verdächtig gemacht
und in längere Gefangenfchaft geführt hat. Der

Grenzberichtigung?) „An fich wichtiger ift die Frage, ob
die Schätzung der h. Schrift etwas für die Glaubensge-
wifsheit eines Chriften beizutragen habe"; zu ihrer weiteren

theologifche Lefer möchte wünfchen, dafs der Verf. aus ! Unterfuchung haben O. Ritsehl und befonders Herrmann
dem intereffanten Material, das Becker's Zeitfchriften und j Anlafs gegeben; dem entfpricht die zuletzt geileilte Ab-
Volksfchriften bieten, mehr mitgetheilt hätte zur Be- handlung (S. 149—206: Grund und Inhalt des Chriften-
leuchtung der Stellung, die der einflufsreiche Publicift zu j glaubens. Deckt fich der gefchichtliche Chriflus mit dem
Religion und Kirche eingenommen hat, und dafs er uns | biblifchen?) Dafs die Behandlung des angeregten Gegen-
z. B. den Typus des Aufklärungspfarrers, der in Becker's j flandes in getrennten Auffätzen, die Zerlegung desfelben
Schriften eine bedeutende Rolle fpielt, näher analyfirt I in einige felbftftändige Abhandlungen, den Uebelftand
hätte. Es würde dann auch noch klarer hervortreten, einer gewiffen Formlofigkeit mit fich führt und manch-
was Burbach gelegentlich andeutet, wie fehr doch zu- ! mal das Zurückkommen auf diefelben Gedankengänge

gleich jene Aufklärung mit der Rolle, die fie der Volkskirche
und dem Paftorenflande zuwies, an der Entfremdung
von der Kirche mitgewirkt hat, die feitdem auf
der evangelifchen Chriftenheit laftet. Auch die pädago-
gifchen Ideale der Aufklärung liefsen fich aus Becker's

verurfacht, hat der Verfaffer empfunden und unumwunden
ausgefprochen; was indeffen formell als ein Mangel er-
fcheinen mufs, ilt für die Sache felbft fördernd und trägt
durch die Behandlung derfelben Gegenftände unter ver-
fchiedenen Gefichtspunkten nicht unwefentlich zum VerSchriften
noch viel vollftändiger aufweifen, als gefchehen ftändnifs des Ganzen bei. Immerhin ifl die Leetüre des
ift. Doch brachte es der Anlafs, dem die kleine Gelegen- j in diefer Geftalt erweiterten Buches auch jetzt keine
heitsfehrift ihre Entftehung verdankt, mit fich, dafs diefe ( leichte Arbeit, und es ift zu befürchten, dafs die Mifs-

intereffanten Themata nur mehr angedeutet als ausgeführt
find. Wir möchten aber den Verf. erfuchen, dem
Stoff, den diefe Schriften Becker's befonders für die
deutfehe Kirchengefchichte im letzten Vierteides i8.Jahr-
hunderts bieten, näher nachzuforfchen und ihn als Beitrag
zur Phyfiognomie und Wirkfamkeit des Rationalismus
zu bearbeiten. Den dafür erforderlichen unbefangenen
Sinn, den frühere Zeiten in der Beurtheilung diefer
Phafe im Leben der evangelifchen Kirche meift vermiffen

verftändniffe, welche der Vortrag urfprünglich hervorrief,
nicht alle befeitigt werden; die Schuld dafür wird gewifs
nicht den Lefern allein zur Laft fallen. Ref. kann nicht
umhin zu bekennen, dafs K. fehr wichtige und beachtens-
werthe Inftanzen geltend gemacht hat, um die von ihm
unwandelbar vertretene Pofition aufs kräftigfte zu begründen
: an die Stelle des durch die biographifche Methode
angeblich entdeckten oder zu entdeckenden Jefus der
Gefchichte will er den gepredigten und geglaubten Christus

liefsen, bekundet er ja in diefer Skizze in erfreulicher j der neuteftamentlichen Gefammtverkündigung als den
Weife. | wahren hiflorifchen Chriflus einfetzen. Charakteriflifch

Breslau. G. Kawerau. j?in diefer Beziehung die doppelte Erklärung, deren fchein-

baren Widerfpruch der Verfaffer durch feine ganze Aus-

f,;1------:_ „:„., Uul____...r_._i«r /- , . ,

Kahler, Prof. Dr. Mark, Der sogenannte historische Jesus

und der geschichtliche, biblische Christus. 2. erweiterte

und erläuterte Aufl. Leipzig, Deichen Nachf., 1896.

(XII, 206 S. gr. 8.) M. 3.25

Der vor 3 Jahren unter paradoxem Titel erfchienene,
in fcharf gewähltem Ausdruck und oft herausfordernder
Form fich bewegende Vortrag Kaehlers hat, wie es der
Verfaffer hoffen durfte undbeabfichtigt hatte, den Dienftge-
than, das von ihm behandelte Thema in Fluss zu bringen
und manche Entgegnungen und Auseinandersetzungen
hervorgerufen. In vorliegender Schrift unternimmt es K.,
den Theologen, die fich eingehender mit feinem Vortrag
befchäftigt und eine vorwiegend ablehnende Stellung zu
demfelben eingenommen hatten, Rede zu flehen und feine
Pofition umfaffender darzuthun und fefler zu begründen.
An feinem Grundgedanken hat allerdings K. nichts
wefentliches zu ändern gefunden: ja um recht augen-
fcheinlich zu zeigen, dafs er in der Hauptfache nichts
zurückzunehmen habe, giebt er in diefer neuen Auflage
den früheren Wortlaut des Vortrags wieder, indem er
den früheren Wurf nur an folchen Stellen leife änderte
, die fich befonders mifsverftändlich gezeigt hatten
(S. 43—95). Das Neue, das der Verfaffer in der zweiten
Ausgabe bietet, befteht in drei Abhandlungen, die er
dem wiederabgedruckten Vortrag beifügt. Um zunächst
feinen Lefern „nicht zum Anlaffe zu werden, dafs ihr
Verlafs auf den Stoff der Evangelien wanke", hat K.
feinem Vortrage eine Darlegung vorausgefchickt, wie
fich ihm unter Stellungnahme zur Litterarkritik das Anfeilen
der h. Schrift ficher ftelle (S. i—42: Befteht der
Wert der Bibel für die Chriften hauptfächlich darin, dafs
fie gefchichtliche Urkunden enthält?) Die zwei auf den
Vortrag nun folgenden Auffätze fetzen fich mit den gegen

führung in eine höhere Einheit aufzulöfen verfucht hat:
„Für eine Biographie Jefu nach dem Mafsftabe heutiger
gefchichtlicher Wiffenfchaft befitzen wir keine Quellen,
welche ein Gefchichtsforfcher als zuverläffig und ausreichend
gelten laffen kann"____ Und doch „find wir über

Jefum viel glaubwürdiger und viel ausgiebiger unterrichtet,
wie über irgend eine hohe Geftalt des Alterthums, fo lange
Jefu öffentliches Auftreten im Gefichtskreife fleht, wir als
überzeugte Chriften miteinander verhandeln und die Quellen
im Zufammenhange mit der nachfolgenden Gefchichte
abfehätzen." (S. 118—119). In derfelben Linie bewegen
fich manche Erklärungen, die auch den etwaWiderftrebenden
zum Nachdenken reizen und ihn zwingen, Probleme, über
welche er vielleicht zur Tagesordnung gefchritten war, fich
aufs Neue zu flellen und einer flrengeren Revifion zu
unterwerfen. „Der von den Apofteln gepredigte Chriflus
bietet fich uns dar, um von ihm aus das Verftändnifs
für die Erinnerungen an Jefum zu gewinnen, und mit
diefem Verftändnifs und unter dem verftändnifsvollen Umgange
mit ihnen zugleich die Vergewifferung, dafs fie
uns den „hiflorifchen Jefus" zeigen, weil wir in ihnen
den wirkfamen Chriflus wieder finden. Diefen Vorgang
erleichtert jedem Chriften fonderlich das vierte Evangelium;
defshalb ift es auch nicht nur bei den Metaphyfikern in der
Theologie, fondern auch bei Hiftorikern, bis zu Schleiermacher
einfchliefslich in fonderlicher Gunft gewefen."
(S. 112—113). Den Höhepunkt der dogmatifchen Aus-
einanderfetzungen bildet der in das Heiligthum der
evangelifchen Frömmigkeit einführende Abfchnitt über
Grund und Inhalt des Chriftenglaubens. „Im Grunde
empfangen alle tiefgreifenden Erfcheinungen im Fortleben
der evangelifchen Chriftenheit hier ihren Anftofs. Wie
kommt ein jeder zur Heilsgewifsheit? Diefe Frage benimmt
die thatfächliche Heilsaneignung, und defshalb ist .
hre Beantwortung auch entfeheidend für eine gefammte

K. erhobenen Einwendungen auseinander. Nr..III hat es Theologie, welche nach dem Sinne der Evangelifchen ein
mit den Ausführungen Beylchlags zu thun, welcher Kählers 1 habitus practicus fein mufs." Die eingehende Behand-