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Ausgabe:

1897 Nr. 3

Spalte:

87-91

Autor/Hrsg.:

Müller, F. Max

Titel/Untertitel:

Theosophie oder psychologische Religion 1897

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 3.

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par la tradition), und zeigt 2) wie der proteftantifche
Begriff des Glaubens {avoir confiance dans la gräce de
Dieu revelee en J. CA.), und die proteftantifche Auffaffung
der Kirche (les CAretieus) diefen überkommenen Begriff j
völlig ausfchliefsen, wenn auch die Reformatoren felbft
das nicht klar empfunden haben. Das Dogma, das auch
der Proteftantismus nicht entbehren kann, um fein eignes
Leben verftehen, mittheilen und vertheidigen zu können,
gewinnt alfo in ihm eine ganz andre Bedeutung, als
l'interprete vivant de la foi evangelique. So ift 3) die
Aufgabe der Dogmatik l'exposition systhnatique de la
foi protestante, 4) ihre Quelle das Evangelium {la revc-
lation de Dieu dans la personne et l'azuvre de J. CA),
5) ihre Norm weder das kirchliche Bekenntnifs, noch
die h. Schrift im gefetzlichen Sinne, fondern das darin
bezeugte Evangelium fautorite religieuse a laquelle se
soumet le cliretien). 6) Die Methode der Dogmatik kann
weder autoritär noch fpeculativ fein. Denn le cAristianisme
est une realite spirituelle qui s'est manifestee da?is Vliistoire
en s'incarnant dans une personne. Sie hat auf Grund der
biblifchen und gefchichtlichen Wiffenfchaft, vor Allem
der reformatorifchen Gedanken, und mit philofophifcher
Schulung den Evangeliumsglauben der chriftlichen Gemeine
zu entfalten, und zwar fo, dafs 7) von Chriftus
und dem Heilswerke aus das Ganze fich organifch
auseinanderlegt.

Der Kenner der dogmatifchen Arbeit des letzten
Menfchenalters in Deutfchland wird in dem Buche nirgends
neue Gefichtspunkte finden. Aber die entfcheidenden
Frageftellungen und Gegenfätze find überall genau und
gründlich dargelegt und lichtvoll entwickelt. Die Polemik
ift ftets fachlich und in würdigfter Form gehalten. Die
Darftellung ift angenehm und feffelnd, die Hinweifungen
auf die Literatur in den Anmerkungen aufserordentlich
eingehend, und es gelingt dem Verf. oft, durch kurze
glückliche Ausdrücke die ganze Darftellung anfchaulich
zufammenzufaffen. Das Buch fcheint mir wohl geeignet
in dem unbefangenen Lefer den Eindruck hervorzurufen,
dafs der Weg der von dem Verf. gebilligten dogmatifchen
Arbeit der allein zum Ziele führende ift, fobald man
die traditionellen Anflehten über rechtliche Autorität der
Kirchenlehre und der Schrift in proteftantifchem Sinne
wirklich ernfthaft abzulehnen fich verpflichtet fühlt, und
doch das alte gefchichtliche Evangelium der Kirche ganz
und unverkürzt zum wiffenfehaftlichen Ausdrucke bringen
will.

Göttingen. H. Schultz.

Müller, F. Max, Theosophie oder psychologische Religion.

Gifford - Vorlefungen, gehalten vor der Univerfität
Glasgow im Jahre 1892. Aus dem Englifchen überfetzt
von Dr. Mor. Winternitz. Autorifirte, vom
Verf. durchgefehene Ausg. Leipzig, Engelmann, 1895.
(XXIV, 580 S. gr. 8.) M. 15.—; geb. M. 17.—

Mit der ,Theofophie' liegt nunmehr auch der vierte
Band der grofsen zufammenhängenden Vortragsreihe in
deutfeher Ueberfetzung vor, die F. M. Müller in Glasgow
als Lector der Gifford-Stiftung über das bereits früher
von ihm mehrfach behandelte Thema der religiöfen Ent-
wickelungsgefchichte der Menfchheit gehalten hat. Der
erfte Curfus behandelte unter dem irreführenden, aber j
für englifche Verhältnifse characteriftifchen Titel Natürliche
Religion' (deutfeh 1890) die Theorie einer entwicke-
lungsgefchichtlichen Erforfchung der Religion als einheitlicher
Gefammterfcheinung von einem idealiftifchen,
aber antifupranaturaliftifchen Standpunkte aus. Sein Inhalt
deckt fich im Wefentlichen mit der früheren (Einleitung in
die vergleichende Religionswiffenfchaft' (deutfeh2 1876).
Hier wurde der Grund gelegt für die methodifche Behandlung
des Stoffes und feine Dispofition entwickelt.
Demgemäfs bearbeitete der zweite Curfus die .Phyfifche |

Religion' (deutfeh 1892) oder die Entdeckung des Unendlichen
in der Natur, d. h. diejenigen Religionen,
die aus Vergötterung von Naturerfcheinungen hervorgegangen
und von da fchliefslich zu dem moniftifchen
Refultat der Allgottheit fortgefchritten find. Diefe Theorie
bildet den eigentlichen Stamm der Anfchauungen Müller's
über die Religion und ift als folcher bereits in den ,Vorlefungen
über den ,Urfprung und die Entwickelung der
Religion' (deutfeh2 1881) dargeftellt worden, wo er fich
noch auf fie befchränkte und von ihren Vorausfetzungen
aus direct die vedantiftifche Philofophie entfpringen liefs.
Auch jetzt noch treten in diefem zweiten Cursus die characteriftifchen
Züge der Religionsphilofophie Müller's am
deutlichsten hervor: feine pantheifirende Erklärung der
Religion als Wahrnehmung des Unendlichen, feine bekannte
Erklärung ihrer erften mythologifchen Formen
aus der Sprache, die romantifche Schätzung des Veda als
des eigentlichen Hauptdenkmals der religiöfen Urzeit und
als des characteriftifchen Ausdrucks des religiöfen Gedankens
. Der dritte Cursus behandelte dann die,Anthro-
pologifche Religion' oder die Entdeckung des Unendlichen
im Menfchen d. h. die Entftehung und Entwickelung
des Seelenglaubens, Ahnenkultus, der Jenfeits-
vorftellungen, Apotheofen, Heroifirungen, Eschatologien.
Damit war — ganz deutlich unter dem Einflufs der namentlich
in England verbreiteten ,anthropologifchen' Religionstheorien
Spencer's und Tylor's — ein neues Element in
die Religionstheorie Müller's eingeführt. Der neue und
letzte Band ftellt fich (S. 88) daher die Aufgabe, diefes
neue Element mit dem alten zu verfchmelzen, und handelt
daher von der Entwickelung des Verhält niffes zwifchen
Seele und Gott oder von der Vereinigung jener beiden
Arten des Unendlichen in der Theorie von der meta-
phyfifchen Identität der Seele mit der Gottheit. Diefe
Vereinigung wird vor allem an der Vedantaphilofophie
und dann auch am Chriftenthum gezeigt. Daher ent-
fpringt auch der doppelte Name: ,pfychologifche Religion
' wegen der Vedanta-Lehre von der Einheit des
Atman mit dem Brahman, wonach das ,Selbft' als tieffter
Kern des Menfchen identifch ift mit Gott, ,Theofophie'
in Anlehnung an die chriftliche Myftik der Alexandriner,
des Dionyfios Areopagita und der mittelalterlichen My-
ftiker, die mit Recht die gleiche Lehre als den eigentlichen
Sinn der Lehre Jefu erkannt haben. Zugleich dient
aber damit der letzte Band dem bereits in den frühern
mehrfach angedeuteten Hauptzweck einer apologetifchen
Verherrlichung des Chriftenthums, die den Abfchlufs des
Ganzen bildet.

Diefe ganze Anlage zeigt fchon, dafs das Verhältnifs
der drei Darftellungsreihen kein fehr deutliches und klares
ift. Bald fcheinen drei verfchiedene stufen weife aufeinander
folgender Religionsgruppen gemeint zu fein.
Wenigftens erfcheinen Vedantaphilofophie und Chriftenthum
als rein ,pfychologifche' Religionen, während freilich
phyfifche und anthropologifche Religion als meift
miteinander vorkommend gefchildert werden (Th. 229).
Häufiger und der Gefammtanfchauung entfprechender
ift die Bezeichnung der drei Reihen als Beftandtheile oder
Momente jeder Religion, die Gott, Seele und ein Verhältnifs
zwifchen beiden immerdar zugleich enthalten
mufs (Ph. R. 4, Th. 87). Freilich wird dann die ge-
fonderte Darftellung des Verhältniffes zwifchen Gott und
Seele nur Wiederholungen bringen können, wenn dabei
nichts als das Verhältnifs als folches gemeint ift. In der
That fleht faft alles, was in dem der Darftellung des
jVerhältniffes' gewidmeten vierten Bande fich findet, fchon
irgendwo in den vorausgehenden. An andern Stellen
aber wird fchliefslich der Anfchein erweckt, als handle
es fich nicht um drei gleichzeitige Momente, fondern um
drei aufeinander folgende Phafen jeder einzelnen Religion
(Th. 427, Ph. R. 4 ff), die aber dann doch wieder
als jOftmals gleichzeitig' bezeichnet werden. Bei diefer
Unklarheit der Grundconception ift es nicht zu ver-