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Ausgabe:

1897 Nr. 20

Spalte:

548-549

Autor/Hrsg.:

Netoliczka, Oskar

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der Kirchengeschichte. 4., völlig umgearb. Aufl 1897

Rezensent:

Fay, Friedrich Rudolf

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 20.

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wichtig und fundamental findet, ,behält er fich doch die
Frage vor, ob die wiffenfchaftliche Erklärung der Ge-
fammtthatfache der Religion eine oder die andere Function
bevorzugen wird'. In Wahrheit fagt Ritfehl (S. 189) nur,
dafs man keine gegebene Religion in ihrer wirklichen
Lebenserfcheinung richtig verftehe, wenn man Lehrüber- 1
lieferung oder Cultus oder Gefühlsftimmung hintanfetze;
damit aber ift doch nicht ausgefchloffen, dafs die wiffenfchaftliche
Forfchung, die nicht blofs die religiöfen
Phänomene darlegen will, fondern nach ihrer VVurzel
gräbt, fich auf eine der pfychifchen Functionen als den
Wurzelboden hingewiefen fieht. Und auf welche denn?
Pfennigsdorf argumentirt fchnell bereit: auf die theore-
tifche; denn nach Ritfehl ift ja die Religion eine ,Deutung I
des in welchem Umfang immer erkannten Weltlaufs'.
Und nun eifert der Verf. (S. 73) gegen den Verfuch, ,die
Religion in die Sphäre des Intellects zu rücken', was
fchon Schleiermacher als unmöglich erwiefen habe. Gegen
diefe Ritfchlauslegung hätte den Verf. fchon der eine
Begriff des Werthurtheils bedenklich machen können.
An folche Mifsverftändniffe reihen fich die üblichen Vorwürfe
, dafs Ritfehl die Religion immer nur als Mittel zum I
Zweck des Menfchen betrachte' (S. 70), dafs er mit feinen
Werthurtheilen den Glauben im Grunde in Poftulate auf-
löfe, dafs er die individuelle Glaubensgewifsheit ,von der
Gemeinde fich leihen' laffe (S. 162). Diefe Beifpiele, die
ich fiark vermehren könnte, fprechen von recht wenig
Vertiefung in das zu unterfuchende Syftem und fie find
zugleich fymptomatifch für die Behandlung, die fich
Ritfchl's Werke heutzutage müffen gefallen laffen. —
Lipfius kommt im Einzelnen meift beffer weg. Der
Verf. nimmt nicht unbefehen alle Anklagen gegen ihn
auf, fondern nimmt ihn gelegentlich in Schutz, z. B. S. 123
mit Recht gegen Traub. Leider mufs zum Theil Ritfehl
die Korten der befferen Behandlung von Lipfius tragen;
z. B. foll diefer es (S. 154) vor Ritfehl voraushaben, dafs
er Chriftum nicht nur als Vertreter der Menfchen Gott
gegenüber, fondern vor allem als Vertreter Gottes den 1
Menfchen gegenüber fafst; und doch hat Lipfius die
Cordination diefer beiden Gefichtspunkte gerade von
Ritfehl entlehnt und damit feine frühere Darftellung er- 1
gänzt. Aber wenn Lipfius meift richtiger verftanden wird,
was bei dem Zufammenhang feines vollftändigen dog-
matifchen Syftems auch leichter ift, fo wird doch auch
er von folchen Mifsdeutungen, wie der Deutung der
Werthurtheile als Poftulate, getroffen.

Und wenn ich nicht nur auf das Verftändnifs des ;
Einzelnen fehe, fondern auf die Würdigung der dog-
matifchen Gefammtarbeit der beiden Theologen, fo
vermiffe ich auch bei der Beurtheilung von Lipfius
manches. Vor allem fehlt ein Eingehen auf die allmähliche
Weiterbildung feines Syftems; in dem einzigen
Punkte, wo Pfennigsdorf fich darauf etwas ausführlicher
einläfst (S. 150), fchöpft er, wie fich aus der Form der
Citate ergiebt, nur aus zweiter Hand, nämlich aus dem I
reichhaltigen Auffatz von Traub, der allerdings mit einem j
,Vergl. hierzu' genannt wird. Auch das Intereffe, von
dem Lipfius bei feiner ganzen fortbildenden Arbeit geleitet
war, insbefondere fein Bemuhen, die Bedeutung der
gefchichtlichen Offenbarung in Jefu Chrifto immer klarer
herauszuarbeiten, fcheint mir nicht genügend gewürdigt.
— Auch bei der Herausfteilung von Ritfchl's Tendenzen
hätte die allmähliche Fortbildung mancher Gedanken be- i
rührt werden dürfen. Aber gewichtiger ift mir auf diefer
Seite ein anderer Mangel: der Verf. hat zu wenig beachtet
, dafs Ritfchl's Plauptwerk keine vollftändige Dog-
matik ift, fondern eine Monographie über ein einzelnes
Lehrftück, in der die Erörterungen über die dogmatifchen
Principien nur eingeftreut find, und zwar nicht nur im ■
Band III, fondern auch am Anfang des vom Verf. gar
nicht verwendeten Bandes II. Faft möchte man denken,
dafs der Verf. Ritfchl's Entwicklung der Rechtfertigungsund
Verföhnungslehre nicht in ihrem eigenen inneren

Zufammenhang hat auf fich wirken laffen, fondern nur
die Seitenftücke zu den principiellen Erörterungen von
Lipfius' vollftändiger Dogmatik herausgefucht hat. Zu
plump fährt mir auch die Gefammtcharakteriftik von
Ritfchl's Syftem daher, dafs es nach der formalen Seite
pofitiviftifch fei, nach der materialen Seite rationaliftifch,
nämlich beherrfcht von der rationalen Formel, dafs in der
Religion die Herrfchaft über die Welt gewonnen werde.
Der rationaliftifche Schein und die Kluft zwifchen beiden
Seiten vermindert fich, fobald man beachtet, dafs nach
Ritfchl's Abficht die Offenbarung nicht nur formales,
äufserlich autoritatives Erkenntnifsprincip ift, fondern dafs
das Glauben an Jefum Chriftum zugleich die ganze prac-
tifche Lebenshaltung des Chriften benimmt, dafs darum
auch die hierin zu gewinnende Herrfchaft des Chriften
über die Welt in der Freiheit des an Chriftnm glaubenden
Gotteskindes befteht, alfo nicht ein vom gefchichtlichen
Zufammenhang losgelöftes rationales Moralitätsideal ift.
Ob Ritfchl's Abficht in diefer Richtung wirklich ganz erreicht
ift, kann man mit Grund fragen; aber die Kritik
des Verf.'s macht fich mit ihren Schlagworten die Sache
viel zu leicht.

Jedoch der Verf. möchte nicht nur kritifiren, fondern
im Anfchlufs an Teichmüller's Philofophie eine neue
Grundlegung und Zielbeftimmung der Dogmatik geben.
Ob die empfohlene neue Metaphyfik, die fich in manchen
Punkten mit Lotze's Philofophie berührt, für die Dogmatik
ein tragfähiges Fundament giebt, ob ihr insbefondere
,Denknothwendigkeit' zukommt, kann ich hier nicht
unterfuchen. Ich mufs es bezweifeln. Auch des Verf.'s
Idee von einer Scheidung zwifchen practifch-religiöfcr und
philofophifcher Dogmatik, eine auch fonft beliebte moderne
Idee, hat fchon Schleiermacher (Chriftl. Gl. § 191 Zuf.), wie
ich meine, mit vollem Recht abgewiefen. — Es ift nicht
wenig, was ich an der vorliegenden Preisfchrift auszufetzen
habe; aber ich möchte zum Schlufs ausdrücklich anerkennen
, dafs fich in ihr refpectabler Scharffinn, Fähigkeit
zu fyftematifcher Gedankenentwicklung und Gefchick
der Darfteilung bekundet. Ich möchte wünfehen, dafs der
Verf. diefe Gaben bald in einer in fich einheitlicheren
Arbeit und in weniger gewaltthätiger Weife verwerthen
möge.

Halle a/S. Max Rei fehle.

Netoliczka, Gymn.-Prof. Dr. Oskar, Lehrbuch der Kirchengeschichte
. 4., völlig umgearb. Aufl. von D. F. Loh-
mann's Lehrbuch der Kirchengefchichte. Der Neubearbeitung
2., verb. und verm. Aufl. Göttingen, Van-
denhoeck & Ruprecht, 1897. (VIII, 183 S. gr. 8.)

M. 2.— ; geb. M. 2.30

Wenn von der Kritik, wie der Verf. in dem Vorworte
zu diefer vierten Auflage des urfprünglich Loh-
mann'fchen Lehrbuchs der Kirchengefchichte bemerkt,
die vorhergehende dritte, bezichungsweife die erfte der
Neubearbeitung, ,freundlich aufgenommen' worden ift, fo
befteht kein Grund, diefe freundliche Aufnahme jetzt zu
vertagen. Der Inhalt ift durchweg gediegen und mit
forgfältig ausgewählten Citaten belegt, die Gruppirung
des Stoffes anfprechend, die Beurtheilung der gefchicht-
lich hervorragenden Perfönlichkeiten, fowie bedeutender
Zeiterfcheinungen unparteiifch, der Geift echt evangelifch,
ein fchönes Zeugnifs dafür, wie in dem fernen Siebenbürgen
gelehrt wird. Mit Beziehung darauf fpricht der
in Kronftadt wirkende Verfaffer die Hoffnungaus, dafs
,das Werkchen' auch fein möge ,ein Erweis, in welchem
Geifte in unteren fiebenbürgifch-fächfifchen Schulen unterrichtet
wird und fo zugleich ein Grufs aus dem Lande
„jenfeits der Wälder" an die Glaubens- und Stammesbrüder
im Mutterlande der Reformation'.' Wir erwidern
diefen Grufs mit dem herzlichen Wunfche, dafs fort und
fort dort ein folches Verftändnifs der Reformation und