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Ausgabe:

1897 Nr. 20

Spalte:

543-548

Autor/Hrsg.:

Pfennigsdorf, Emil

Titel/Untertitel:

Vergleich der dogmatischen Systeme von R. A. Lipsius und A. Ritschl 1897

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 20

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er als] ermunterndes Beifpiel die Männer des Avenir an
(Lamenais, Lacordaire und Montalcmberi), welche ihrem frei
bekannten und heifs geliebten Glauben dadurch eine
immer mächtiger werdende Stellung erwarben, dafs fie
auf den Boden der neuen Gefetzgebung fich ftellend die
Rechte und Freiheiten, welche diefelbe darbot, aufs ge-
fchicktefte und eifrigfte für ihre Sache geltend machten.
Aehnlich müffe auch jetzt verfahren werden, und es ift
ganz intereffant, hier und da auch etwas amufant, den
Verf. bei der Arbeit zu fehen, wie er den confequenten
Katholiken, welche in dem Bunde mit dem Liberalismus
eine Verleugnung ihres Glaubens fehen, die Principien
von 1789 u. f. w. mundgerecht und annehmbar zu machen
fucht. Ebenfo viel Fleifs wird aber auch der anderen
Hälfte der Aufgabe zugewendet, die gemäfsigten Republikaner
dafür zu gewinnen, dafs fie ihre Rechte in
die ausgeftreckte Hand der Kirche legen und vereint mit
ihr gegen den alles vernichtenden Radikalismus fich ftellen;
als uraltes eigentlich franzöfifch-nationales Recht wird
z. B. die Souveränität der Nation behauptet und durch
Beifpiele nachgewiefen. Auch die grofse Drohung der
Gegenwart, der Socialismus, erhält feine Abfertigung und
gemäfs der Encyclika Leo XIII. Rerum novarum wird der
Kirche das Recht gewahrt, fich eingehend mit der fo-
cialen Frage zu befchäftigen. Finden feine Worte ,des
Friedens und der Gerechtigkeit', hofft der Verf., günftiges
Gehör, dann werde die erfehnte Einigkeit zwifchen den
Söhnen desfelben Vaterlandes eintreten.

Es ift nicht unfere Aufgabe, unfere Anficht darüber
abzugeben, ob fich die Wünfche des Dominicaner-Paters
bald verwirklichen werden, die Franzofen find ja das un-
berechenbarfte Volk der Welt; wohl aber begreifen wir,
dafs der Papft_ dem Verf. fein Wohlgefallen über feine
Schrift ausdrücken liefs. Denn das letzte Ziel der ganzen
Thätigkeit ift nicht etwa blofs die Gröfse und Einigkeit
des Vaterlandes, fondern die Revolution der Kirche' (p. 165)
d.h. die Entwickelung der Kirche zur alles beherrfchenden
und leitenden Macht unter den Nationen. Daher auch
das Zurückgehen auf die Grundfätze des Avenir, der
feinen Namen mit vollem Rechte trug; denn jetzt reift
die Ernte von dem, was damals ausgeftreut wurde, z. B.
die zunehmende Demokratifirung der Kirche. Darum
hat auch die Schrift, die vor Uebertreibungen fich hütet,
manchmal aber auch in ihren gefchichtlichen Ausführungen
etwas oberflächlich ift, z. B. in der Würdigung des
Gallicanismus, als Stimmungsbild der Zeit ihren vollen
Werth und bei der gewaltigen Bedeutung, welche die
franzöfifche Kirche für den ganzen Katholicismus hat,
verdient fie auch unfere Beachtung.

Stuttgart. Theodor Schott.

Neu mann, Dr. Arno, Grundlagen und Grundziige der
Weltanschauung von R. A. Lipsius. Ein Beitrag zur Geschichte
der neuesten Religionsphilofophie. Braun-
fchweig, Schwetfchke & Sohn, 1896. (X, 80 S. gr. 8.)

M. 1.50

Pfennigsdorf, Paft. Lic. F., Vergleich der dogmatischen
Systeme von R. A. Lipsius und A. Ritschi. Zugleich Kritik
und Würdigung derfelben. Von der Karl-Schwarz-
Stiftung mit dem i.Preife gekrönt. Gotha, F. A. Perthes,
1896. (VII, 191 S. gr. 8.) M. 2.40

1. ,Den eigenartigen Typus moderner Weltanfchauung,
welchen der geift- und gemüthvolle Richard Adalbert
Lipfius durch eine Lebensarbeit von feltener Bedeutung
zur Geltung zu bringen beftrebt war' (VII), möchte der
Verf. der erften Schrift in ,Pietät und Dankbarkeit gegen
feinen verehrten Lehrer' fchildern. Er ift dabei geleitet
von der Ueberzeugung, dafs Lipfius in feiner Perfon
allezeit von abfolut unbefangenem Standpunkt aus eine
edle Vermählung von Philofophie und Theologie, von

Glauben und Wiffen vollzogen hat' (S. 8). Gelegentlich
bemerkt der Verf. hierbei gegen meine Recenfion von
Lipfius' Dogmatik3 in diefer Zeitung 1896. Sp. 42 ff.:

I ,Reifchle's fubtile Unterfcheidung wird daran kaum etwas
ändern'. Ich freue mich, dem Verf. bezeugen zu können,
dafs er felbft auf dem von ihm unterfuchten Gebiet fich

J der ,fubtilen Unterfcheidung', zu der die Gedankenreihen
der Lipfius'fchen Religionsphilofophie und Dogmatik
nöthigen, nicht überhoben hat. — In zweckmäfsiger

J Weife fkizzirt der Verf. in einer allgemeinen Vorbe-

j trachtung den Einflufs des Altkantianismus und Neukantianismus
auf die Entwickelung der Religionsphilofophie
, um in diefer die Stelle zu bezeichnen, die der
Kantianer Lipfius einnimmt. In der Hauptunterfuchung
befchäftigt fich Cap. I mit der ,erkenntnifstheoretifchen
Grundlegung' von Lipfius; es zeigt, wie Lipfius durch

1 Schleiermacher's Erkenntnifstheorie zu der Kant's weiter

| geführt wurde, und benimmt, zum Theil in Vergleichung
mit dem urfprünglichen Sinne Kant's, die Hauptpunkte
der modificirten Kant'fchen Erkenntnifstheorie, die Lipfius
ausgebildet hat. Cap. II umfehreibt ,dic Bedeutung der

' Metaphyfik', die auf dem Boden diefer Erkcnntnifs-
kritik für Lipfius noch übrig bleibt: die Metaphyfik ift

■ ihm vor allem die Feftftellung von Grenzbegriffen. Durch
diefe wird für ihn das Bereich der wirklichen Erkennt-
nifs abgefteckt; aber auf das für die ftreng wiffenfehaft-
liche Erkentnifs unerreichbare Gebiet erftreckt fich gleichwohl
noch die produetive Phantafiethätigkeit, und unter
den verfchiedenen Weltanfchauungen, die fie auszuge-
ftalten verbucht, hat nach Lipfius eine idealiftifche und
teleologifche Auffaffung des abfolutenWeltgrundes immerhin
den Charakter,einer fürunferDenken faft unabweisbaren

; Hypothefe'. Jedoch gewinnt, wie Cap. III zeigt, bei
Lipfius der Begriff des Abfoluten feinen lebensvollen und
überzeugungskräftigen Inhalt erft auf Grund von prac-
tifchen Nöthigungen, befonders von ethifchen Ideen und
religiöfen Erlebniffen. Eine Schlufsbetrachtung des Verf.s
zieht das Facit und weift befonders die gegen Lipfius
erhobenen Vorwürfe des Skepticismus und des Dualismus
zwifchen Kopf und Herz zurück. — Im Lauf diefer
Unterfuchung fucht nun Neumann die Einflüffe aufzuzeigen
, welche auf die Bildung und Umbildung der Anflehten
von Lipfius eingewirkt haben, die Einflüffe von
Schleiermacher und Kant, von Weifse (auf diefen dürfte
genauer eingegangen fein) und Alex. Schweizer, von
Friedr. Alb. Lange nnd Albrecht Kraufe, von Biedermann
und W. Wundt. Er bemüht fich dabei um eine
eindringende Analyfe von Lipfius'Gedankengewebe, wenn
auch nicht überall in dem Mafs, wie ich es wünfehen
möchte, z. B. bei Lipfius Unterfuchungen über Wefen
und Urfprung der Religion. Zum Theil übt er auch recht
fcharfe Kritik an Einzelheiten. Z. B. gegenüber der
Kantexegefe feines Meiners, nach welcher Kant die
Kaufalitätskategorie nicht auf die ,Dinge an fich' angewendet
, fondern wo er von den ,uns afficirenden Dingen'
redet, nur die zur Erfcheinungswelt gehörigen ,Dinge
aufser uns' gemeint hat, verfteigt fich Neumann zu dem
Satz: ,Neben den Dingen an fich und den Vorftellungen
des Subjects wurde (seil, von Lipfius) als ein drittes das
1 fing aufser uns entdeckt, der anfechtbaren Aufftellungen
über die Noumena und manches andern Gallimathias noch
gar nicht zu gedenken'. Ich möchte hier Lipfius gegen
feinen Verehrer in Schutz nehmen: Lipfius hat zwar die
Kantifchen Ausführungen zu viel zu fyftematifiren gebucht
, aber doch nur durch Weiterverfolgung von Linien,
die bei Kant felbft fich zeigen laffen. — Aber auch mit
der Gefammtrichtung von Lipfius ift der Verf. nicht
durchaus einverftanden: er findet, dafs Lipfius doch noch
zu wenig das Bedürfnifs theoretifcher Stützen für die

j religiöfen Ueberzeugungen befriedigt und insbefondere
die wiffenfehaftliche Nothwendigkeit der telcologifchen
Naturerklärung noch nicht genügend betont. Auch hier
glaube ich, dafs Lipfius fchärfer gefehen hat als fein