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Ausgabe:

1897 Nr. 19

Spalte:

522-523

Autor/Hrsg.:

Wurster, Paul

Titel/Untertitel:

Christliche Glaubens- u. Sittenlehre 1897

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 19.

522

(S. 8—25) mit der katholifchen Lehre von den Gelübden
auseinander: er weift zuerft das katholifche Gelübdewefen
im Allgemeinen ab, nämlich den leitenden Gedanken der
überverdienftlichen Werke, überhaupt aber (auf 3 Seiten)
den ganzen Begriff des Erlaubten, aber auch die Anwendung
von Gelübden auf pflichtmäfsig gebotene Dinge; fo-
dann richtet er eine fpecielle Polemik gegen die Ordensgelübde
, gegen ihre negative Art, gegen die lebenslängliche
Bindung und gegen die aus Worten Jefu entnommene
biblifche Begründung dafür. Im zweiten Theil (S. 25
— 56 unterfucht der Verf. die Zuläffigkeit der Gelübde
auf evangelifchem Standpunkt: er zeigt, dafs hier jedenfalls
die Gelübde nur die Bedeutung von fittlichen Erziehungsmitteln
haben könnten, aber auch in diefem Fall doch
ftets pädagogifche Mittel von gefetzlichem Charakter
wären. So erhebt fich ihm die Frage nach dem allgemeinen
Verhältnifs von Gefetz und Evangelium; fie findet
(auf 13 Seiten) die Beantwortung, dafs das Gefetz überhaupt
keine Stelle mehr auf dem Boden des Chriftenthums
einnehmen dürfe, alfo auch das Gelübde fchon wegen
feines gefetzlichen Charakters unftatthaft fei. Auch die
weitere Frage, ob nicht doch gegen den uns noch anhaftenden
alten Menfchen befondere Tugendmittel nöthig
feien, beantwortet er (auf 3 Seiten) in einer principiellen
Unterfuchung des Verhältniffes von religiöfen und fittlichen
Tugendmitteln entfchieden dahin, dafs es im Christenthum
überhaupt nur religiöfe Tugendmittel gebe, und zwar
im Grund nur eines, die Hingabe an die Perfon Chrifti
und feinen Geift: ,Das Kommen diefes Geiftes vorzubereiten
oder zu erleichtern durch eigenmächtige Arbeit an
fich felbft', ift unmöglich. So bleibt an Stelle der ge-
wiffenbindenden Gelübde Gott gegenüber nur der ernfte
Vorfatz im Sinn eines um feinen Beiftand bittenden Gelobgebetes
. Bindende Verfprechungen behalten demge-
mäfs, wenn fie nicht mehr als Mittel der eigenen Erziehung
gewertet werden, nur noch ein Recht um desNächften
willen, genauer als Verpflichtungen gegen eine menfch-
liche Gemeinfchaft. Nur auf diefem Boden laffen fich
verfchiedene Arten des Gelübdebrauchs im rechten evan-
gelifchen Sinn verftehen, fo das Confirmationsgelübde,
das Treugelöbnifs der Diakoniffen, auch die Verpflichtung
der Geiftlichen, die freilich, ftreng genommen, nur Be-
kenntnifs auf die heilige Schrift fein tollte, ferner die Gelübde
der Enthaltfamkeitsvereine, die man jedoch höch-
ftens als leidige Krücke dulden mag.

Schon diefes Referat zeigt, dafs der Verf. feine Aufgabe
fyftematifch anzufaffen und in grofsen Zufammenhang
zu rücken gewufst hat. Manchmal faft in zu grofsen! Wenn
er felbft von feiner Arbeit fagt, dafs ,die fcheinbar nicht
allzuwichtige Materie ... aus einer Mücke zum Elefanten
wird', fo fühlt man fich doch etwas an den fatalen Klang
diefer fprichwörtlichen Redensart erinnert. Nicht als ob
der Verf. künftlich einen Zufammenhang feiner Specialfrage
mit jenen grofsen ethifchen Problemen conftruirt
hätte! Wohl aber hat man den Eindruck, dafs es zu
kühn ift, wenn er diefe fchwierigen Fragen in feiner monographischen
Arbeit en passant zu einer umfaffenden Löfung
glaubt führen zu können. Die Löfungen fahren doch zum
Theil etwas rafch zu. Z. B. bei dem Begriff des Erlaubten
wäre zu unterfcheiden zwifchen der Frage, ob das
ganze Chriftenleben dem Zweckgedanken des Reiches
Gottes unterftellt ift, und der andern Frage, ob es in feinem
ganzen Vollzug direkt durch den Pflicht begriff
und durch Pflichturtheile geregelt werden kann; ebenfo
bei der Beftimmung des Verhältniffes von Gefetz und
Evangelium zwifchen der PYage, ob der Chrift um eines
äufserlichen Gefetzes willen das Gute thut, und zwifchen
der andern, ob nicht auch der vom Geift Getriebene fich
unter eine unbedingte Norm, ein abfolutes Soll geftellt
weifs. Statt der epifodifchen Ausführung diefer Dinge
wünfehte man bisweilen mehr Eingehen auf das Hauptthema
; z. B. follte in einer Monographie über einen fo
fpeciellen Gegenftand eine Thefe des gerade hierfür be-

fonders wichtigen Thomas von Aquino nicht blofs nach
dem katholifchen Kirchenlexikon mitgetheilt werden. Und
wie die hiftorifche Fundirung fo dürfte auch die fyfte-
matifche Beweisführung manchmal gefchloffener, fie dürfte
concentrirter und ruhiger fein. Aber ich fage dies nur,
weil mir die Arbeit durch ihre fyftematifche Haltung und
durch ihre energifche Geltendmachung evangelifcher
Grundfätze Intereffe abgewonnen hat.

Halle a/S. Max Reifchle.

Wurster, Stadtpfr. Dr. Paul, Christliche Glaubens- u. Sittenlehre
. Leitfaden für den Religionsunterricht hauptfächlich
an höheren Klaffen von Realanftalten und
Realgymnafien. Heilbronn, E. Salzer, 1896. (VII,
106 S. 12.) Geb. M. —.70

Wer felbft fchon mit dem Relgionsunterricht an den
oberen Klaffen höherer Schulen zu thun gehabt hat, weifs,
dafs die Herftellung eines paffenden Leitfadens für diefen
Zweck keine leichte Aufgabe ift. Ein gutes Hilfsbüchlein
fordert gründliche dogmatifche Schulung des Ver-
faffers, aber zugleich möglichfte Freiheit von dogmatifcher
Schulform, Stoffreichthum, aber ohne Ueberladung, Kürze
und doch volle Verftändlichkeit, Präcifion der Begriffsbe-
ftimmungen, aber dabei Anfchaulichkcit, Sinn für das,
was das Denken des Schülers befchäftigt, aber auch für
das, was ihn practifch intereffirt. Wenn ich die Schrift
Wurfter's, des Verfaffers der ,Lehre von der inneren Mif-
fion', an diefen Forderungen meffe, fällt das Urtheil recht
günftig aus. — Von den 106 Seiten des Büchleins fallen
69 der Dogmatik, 37 der Ethik zu. Die Einleitung behandelt
das Wefen und dann — im Anfchlufs an Kaftan's
Religionseintheilung — die gefchichtlichen Hauptftufen
der Religion. Die folgenden 6 Theile — I. Lehre von
Gott, II. Gott der Herr der Welt, III. Der Menfch und
die Sünde, IV. Jefus Chriftus der Welterlöfer, V. Chrifti
Geift in der chriftlichen Gemeinde, VI. Chrifti Geift, wie
er in dem einzelnen Chriften wirkfam ift — laffen, wenn
I und II und dann wieder V und VI zufammennimmt,
die übliche Eintheilung der Dogmatik wiedererkennen;
im Theil VII und VIII folgt Social- und Individualethik.
Ich hätte lieber die Individualethik, fchon wegen des An-
fchluffes an VI vorangeftellt; auch kann man fragen, ob
es nicht angezeigt gewefen wäre, Dogmatik und Ethik,
wenn fie ohnedies zu einem Ganzen vereinigt find, dadurch
noch enger zu verbinden, dafs fie beide ihren Ab-
fchlufs in der chriftlichen Zukunftshoffnung (in Beziehung
auf den Einzelnen und die Gemeinfchaft) erhalten hätten.
Auch fonft hätte ich da und dort eine etwas andere Stoff-
vertheilung bevorzugt, z. B. die Einfügung der Kunft in
den Paragraphen über das Erlaubte vermieden. Aber
alle Hauptpunkte der chriftlichen Lehre find zur Sprache
gebracht, auch alle die gegensätzlichen Anfchauungen,
mit denen fich das Chriftenthum oder der evangelifch-
kirchliche Standpunkt auseinanderfetzen mufs, an zweck-
mäfsiger Stelle berührt. Die befondere Beftimmung des
Büchleins für (neunklaffige) Realanftalten und Realgymnafien
kommt zum Theil in der Stoffwahl, hauptfächlich
aber in der Vermeidung der griechifchen und lateinifchen
Sprache zum Ausdruck. Eine Ausgabe für Gymnafien
liefse fich mit leichter Mühe herftellen. — Einzelne Proben
der Stoffbehandlung zu geben, verbietet die Rückficht
auf den Raum. Am gelungenften fcheint mir der
Abfchnitt über die Socialethik; hier ift der Verf. auf feinem
eigenften Gebiet. Aber das gefammte Büchlein ift
ein Beweis davon, wie gerade die neuere, von Ritfehl
beeinflufste Theologie zu einer unterrichtlichen Bearbeitung
der Glaubens- und Sittenlehre befähigt ift, die den
Schüler intereffiren mufs und in die tiefften Fragen unteres
eigenen Lebens und unferer Gefellfchaftsverhältniffc
hineinführt. Zugleich mag es auch zeigen, dafs der lebendige
Gefammteindruck der chriftlichen Glaubens- und