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Ausgabe:

1897 Nr. 19

Spalte:

513-519

Autor/Hrsg.:

Simon, Theodor

Titel/Untertitel:

Die Psychologie des Apostels Paulus 1897

Rezensent:

Grafe, Eduard

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 19.

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Verf. unterfuchen follen etwa die erfte Jüngerberufung
Mk. 1 ig ff., wo gegen die fchlagenden Beweife
für die Primitivität des Mk. und die fecundäre Geftalt des
Mtth. fchlechterdings nicht aufzukommen ift.

So muss ich urtheilen, dafs es Badham nicht gelungen
ift, die Abhängkeit des Mk. von Mtth. zu beweifen.

Aber der Werth des Buches liegt wo anders, nämlich
in der Zufammenftellung einer nicht geringen Zahl
von Stellen, an denen unzweifelhaft der Text des Mtth.
im Vergleich mit Mk. älter, primitiver, ungeformter ift.
Dies Material ift ja jedem Mitforfcher bekannt, aber in
diefer Zufammenftellung wirkt es erdrückend und erweift
fich aufs Neue als tötlich für die reine Mk.-Hypothefe
d. h. für die Annahme, dafs unfer zweites Evangelium
in der Geftalt, wie wir es befitzen, die Quelle des Mtth.
gewefen fei. Ich nenne vor Allem die Züge, in welchen
Mtth. jüdifcher, judenchriftlicher ift, als Mk.: die Flucht
am Sabbat und der Greuel an heiliger Stätte (Mtth. 2415.20)
fowie das Wort von den verlorenen Schafen vom Haufe
Israel an die Syrophoenicierin (Mtth. 1521). Wenn überhaupt
Exegefe und Kritik noch ernft genommen werden
follen, mufs zugeftanden werden, dafs die Metapher von
den Kindern und den Hunden bei Mk. 727 weniger ur-
fprünglich ift, als bei Mk. 1520f., wo das Gleichnifs in
feiner vollen Breite entwickelt wird. Hätten wir die
Matthäusparallele nicht, könnten wir Mk., der die Pointe
in unerträglicher Weife gleich vorwegnimmt, überhaupt
nur mit Mühe verliehen. Kann man ferner wirklich ernit-
haft zweifeln, dafs das Wort vom Abbrechen des Tempels
bei Mtth. 26 ei in feiner änigmatifchen Knappheit urfprüng-
licher ift, als die fpiritualiftifche Umformung bei Mk. 145s?
— Die maffenhaften Fälle, wo der Mk.-Text formell
dem Mtth. gegenüber fecundär ift, bringt der Verf. we-
fentlich unter die beiden Gruppen ,Glosses and Inflation'
und ,Picturesque Details' unter. So zahlreich die Bei-
fpiele find, fo laffen sie fich doch noch reichlich vermehren
und die Aufzählung würde noch eindrucksoller
fein, wenn fie beffer geordnet wären. Denn dann würde
die fpecielle fchriftftellerifche Manier des Mk. hervortreten.

Leider hat nun aber der Verf. es unterlaufen, fich
über den merkwürdigen Umftand auszufprechen, dafs
von diesen zahlreichen ,Gloffen' und pittoresken Details
des Mk. die allermeiften — auch bei Lk. fehlen. Hätte
er diefen Umftand mit in Betracht gezogen, fo würde
er doch wohl zu einem anderen Refultat gekommen fein.
Vor allem würde er vielleicht nicht den Muth gefunden
haben zu dem triumphierenden Schlusswort: Requiescat
ur-Marcus Mag er einftweilen ruhen, er wird schon
noch wieder aufftehen.

Die befprochene Arbeit in ihren Vorzügen und
Mängeln zeigt wieder, dafs jeder Verfuch, dem fynop-
tifchen Problem mit einer einfachen Formel beizukommen
, mifslingen .mufs. Ich denke, es wird wohl bei
dem Worte Schürer's bleiben (Theol.-Lit.-Zeitung 1886
Col.485), das als Motto für alle künftigen Unterfuchungen
dienen kann: Jeder der drei Synoptiker zeigt im Ver-
hältnifs zu jedem der beiden anderen ein Doppelge-
ficht: fowohl urfprüngliche als fecundäre Züge^ aufweifend
... dann giebt es nur eine wiffenfehaftliche
Löfung: die Annahme gemeinfamer Quellen, die von
unferen kanonifchen Evangelien in verfchiedener Weife
benutzt worden find.'

Marburg. Johannes Weifs.

Simon, Schlosspfr. Lic. Dr. Thdr., Die Psychologie des
Apostels Paulus. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht,
1897. (VI, 118 S. gr. 8.) M. 2.80.

Wernle, Lic. Paul, Der Christ und die Sünde bei Paulus.

Freiburg i. B. 1897, J. C. B. Mohr. (XII, 138 S.) M. 2.50.

Diefe beiden Unterfuchungen find hinfichtlich ihrer
Methode und ihrer Bedeutung für die wiffenfehaftliche

Forfchung fo verfchieden, dafs eine fie zufammenfaffende
vergleichende Befprechung fich nicht empfiehlt, auch da
nicht, wo die gleichen Gedankengruppen erörtert werden.

Für Simon ift Paulus der Pfycholog unter den
Apofteln und allen pfychologifchen Empirikern fchon
dadurch überlegen, dafs er von dem zerrüttenden Ein-
, flufs der Sünde auf den pfychifchen Zuftand des Men-
| fchen weifs. Aufserdem befitzt er die Ueberzeugung
von der Wirklichkeit einer höheren geiftigen Welt.
Darum verdient er durchaus nicht die geringe Wür-
I digung, die ihm in den Darftellungen der Gefchichte
der Pfychologie, gewifs nicht ohne Schuld der Theologen
, zu Theil geworden ift. Die bisherige Behandlungsart
will Verf., der auch für weitere Kreife fchreiben
möchte, verbeffern, indem er ,auch die von P. nicht ausdrücklich
gegebenen Brücken zwifchen dem direct von
ihm Ausgefprochenen' fucht oder m. a. W. die An-
fchauung, die ,falls der Apoftel felbft fich ihrer gar
nicht deutlich bewufst war, doch zum wiffenfehaftlichen
Verftändnifs feiner Ausdrucksweife zu Grunde gelegt
werden mufs' (S. 4, vgl. befonders S. 55). Der Bedenklichkeit
diefes Unternehmens entfprechen Gang und Er-
gebniffe der Arbeit. Der erfte Theil (S. 5—23) legt
das äufsere oder leibliche Wefen des Menfchen dar,
und zwar 1. den Begriff oiüiia, 2. die Begriffe öctoi; und
öo£a. Nach Simon ift owiia ,ein gleichfam über dem
jeweiligen empirifchen Leibe flehendes und denfelben
überdauerndes Geftaltungsprincip'. Unter diefer Voraus-
fetzung löft fich einfach die Schwierigkeit, dafs Paulus
einerfeits den irdifchen Leib als nicht identifch mit dem
himmlifchen bezeichnet (1. Kor. 15 35 f., Rom. 7 21, 2 Kor.
5), andrerfeits die Identität beider ocoiiaTa vorausfetzt
(Rom. 8 1123, Phil. 3 21). Denn einmal fafst er das adua
ins Auge, wie es in diefer irdifchen Welt allein Wirklichkeit
hat, an anderen Stellen ,wie es alle wirklichen
Geftaltungen in den verfchiedenen Stoffen überdauert
und im jenfeitigen wie im diesfeitigen Stoffe im Grunde
daffelbe ift'. Wie fchon diefe characteriftifchen Aus-
fprüche errathen laffen, erörtert Verf. bereits hier die
Fragen des Zwifchenzuftandes und der Auferftehung, ehe
überhaupt die Begriffe aclg!; und xpvyfl gründlich zur
Sprache gekommen find. Aus der Bedeutung des oiütia
,als inneren Geftaltungsprincips der Leiblichkeit' wird
auch verftändlich, dafs von den Sünden nur die Unzucht
das awiia berührt. Eine andere unheilvolle Einwirkung
auf das owiia übt allerdings auch der unwürdige Ge-
nufs des Abendmahls aus, weil unfere acöiiazu ,durch
das leibliche Effen in eine geheimnifsvolle doch reale
Verbindung mit dem owua Chrifti' treten. — In dem
folgenden Abfchnitte, der die Begriffe ado* und <Jo§a
mehr in Uebereinftimmung mit den herrfchenden Anflehten
darlegt, gleitet Verf. über die fchwierige Frage, ob
die ffdof ihrem urfprünglichen Wefen nach fündig ift, mit
der fummarifchen Bemerkung hinweg: ohne die menfeh-
liche Schuld wäre vielleicht eine Verklärung aus der aüifl
zur öofa ohne dazwischenkommenden Tod eingetreten.

Der zweite Haupttheil (S. 23—48) befchreibt das
innere oder feelifch-geiftige Wefen des Menfchen: als
Ganzes in der xagdia, dann das innere Wefen als q-v/fl,
endlich als nvecua, letzteres fowohl als Beherrfcher
des farkifch-pfychifchen Lebens, wie in feinen Beziehungen
zu einer höheren Welt. Richtig wird hier gezeigt
, wie v.aodia Sitz nicht nur des Gefühls und des Willens
fondern auch des Intellects ift. Zur Erläuterung des
Letzteren ,uns phlegmatifchen Bewohnern kälterer Klimata
' ferner liegenden Gebrauchs wird auf die gewifs
für Sprachforfcher fehr intereffante Thatfache hingewiefen 1
,Die fcharfe Beobachtungsgabe hat den Semiten auf
fprachlichem Gebiet felbft im vocalifchen Anlaut den
aus der Tiefe kommenden Hauch, den den Vocal begleitenden
confonantifchen Beftandtheil entdecken laffen,
der uns entgangen ift. So beginnt der Hebräer das'
Wort Adam, in deffen Anlaut wir nur den Vocal a

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