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Ausgabe:

1897 Nr. 17

Spalte:

474-477

Autor/Hrsg.:

Nathusius, Martin von

Titel/Untertitel:

Die christlich-socialen Ideen der Reformationszeit und ihre Herkunft 1897

Rezensent:

Eck, Samuel

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 17.

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ficht auch das Lutherthum gerecht zu behandeln. Und
im fubjectiven Sinn ift es ihm wirklich gelungen, feinen
Standpunkt ohne Gehäffigkeit, ja Luther's Perfon gegenüber
mit Ehrerbietung und vielen freundlichen Urtheilen,
zu vertreten. So hat er fich ein Recht darauf erworben,
ruhig angehört zu werden, wenn er vom ,Lutherthum'
abfchätzig urtheilt und nicht müde wird, die Ruhmestitel
des Proteftantismus auf den reformirten Typus zu häufen.
Ich geflehe gern, dafs ich Einiges bei ihm mit Bezug
auf Calvin's Theologie gelernt habe. Das reicht
freilich nicht, um mich im Allgemeinen für feine Auf-
faffung zu gewinnen. — Für den Verf. ift das Lutherthum
eine Kirchenbildung die eine .Ausfonderung' aus der
gefammtproteftantifchen Bewegung darfteilt. Es fehlte
Luther's .harter religiöfer Energie', wie M. es am Abend-
mahlsftreit illuftrirt, ,die volle und klare Rückficht auf
das fittliche Element des Chriftenthums'. Den Keim der
Verkümmerung des Lutherthums fieht M. letzlich in
,Luthers eigenthümlicher Glaubensweife, welche im
Grunderlebnifs ausruhend jvon mir gefperrt] die
Verknüpfung deffelben mit allen anderen Lebensbeziehungen
nicht mit ftetiger Confequenz verfolgt'. Eine
einfeitig idealiftifche Innerlichkeit laffe den Mittelpunkt
häufig als das Ganze erfcheinen, vertraue gar zu ftark
der fich felbft durchfetzenden inneren Kraft und ver-
nachläffige die allfeitige Umgeftaltung des fittlich-kirch-
lichen Lebens und feiner Formen. Aehnliche Gedanken
hat Hundeshagen geäufsert. Es ift alfo nicht eben
neu, was M. meint hervorheben zu müffen. Richtig ift,
dafs dem Lutherthum eine .eigenthümliche Unfähigkeit'
anhaftet, fich felbftftändig kirchlich zu organifiren.
Gegenüber dem legalen Wefen des Calvinismus fällt am
Lutherthum eine Freiheit der fittlichen Lebensbewegung
auf, die auch in Laxheit ausartet. Dafs das Lutherthum
die fittlichen Momente des Chriftenthums von Haus aus
nicht fo kenne oder würdige, als der reformirte Proteftantismus
, beftreite ich. Was Luther's Glaubensidee
betrifft, fo hätte Müller Thieme's treffliches Buch ,Die
fittliche Triebkraft des Glaubens, eine Unterfuchung zu
Luthers Theologie' nicht nur anmerkungsweife kurz
erledigen, fondern in forgfältiger Ueberlegung auf fich
wirken laffen füllen. Dann würde er, wie ich denke,
mindeftens dazu gekommen fein, feine Auffaffung gründlicher
zu rechtfertigen. Was zu Hundeshagen's Zeiten
erlaubt war, ift es gegenwärtig nicht mehr; derGefchmack
an Conftructionen ift uns vergangen. Für den reformirten
Proteftantismus fieht der Verf., ohne Zwingli zu überfehen,
mit Recht in Calvin die geiftig maafsgebendfte Perfön-
lichkeit. Es ift nach ihm ein grofser Vorzug Calvins vor
Luther, dafs er das Kirchengebiet, das er beeinflufste,
doch nicht fo an feine Perfon band, wie letzterer, vielmehr
direct dazu anleitete, feine Individualität nicht zum
allgemeinen Maafsftab zu erheben. So ift es der Ruhm
der reformirten Kirche, dafs fie ,die einzige unter den
grofsen hiftorifchen Kirchen ift, welche in ihrer Selbft-
bezeichnung an keine irdifch-gefchichtliche Gröfse erinnert
und gefliffentlich nichts anderes fein will als nach
dem Evangelium oder »nach Gottes Wort reformirt«'. Der
Verf. findet überhaupt, dafs die reformirte Kirche der
lutherifchen in dem Maafse überlegen fei, als fie das
.allgemeine evangelifche Chriftenthum' vertrete. So berge
der reformirte Proteftantismus gegenüber dem ,immer
feparatiftifch gewefenen' Lutherthum die eigentlichen
Triebkräfte des Proteftantismus für die Zukunft. Der
centrale Gedanke der reformirten Frömmigkeit ift die
Ehre Gottes. Darin begegnen fich Zwingli und Calvin,
,fie haben fich beide ganz Gotte unterworfen, haben
nichts von falfcher menfchlicher Selbftändigkeit und von
jenem egoiftifchen Schimmer zurückbehalten, welcher
leicht über dem geniefsenden lutherifchen Heilsglauben
liegt; fie haben damit die confequentefte Geftalt des
Proteftantismus und aller wahren Religion erreicht, in
welcher die an Gottes Ehre hingegebene Heilsgewifs-

heit am fefteften fleht'. Aus diefer vorbehaltlofen Hingabe
an Gott refultirt das unbedingte Pflichtbewufstfein,
wie denn die Anknüpfung des fittlichen Lebens an den
evangelifchen Glauben für die Reformirten ,nie die ge-
ringfte Schwierigkeit bereitet'. Der Verf. operirt zum Theil
mit Argumenten, die nur nach mancherlei Vorverhandlungen
begrifflicher Art ganz zu beleuchten wären. Es
fehlt zu folcher Auseinanderfetzung mit ihm hier der
Raum. Aber feine fouveräne Plerophorie und fuperla-
tivifche Art zu reden wird auch wohl nicht mir allein
die Neigung zur Diskuffion mindern.

Giefsen. F. Kattenbufch.

Nathusius, Prof. D. Martin von, Die christlich-socialen
Ideen der Reformationszeit und ihre Herkunft. (Beiträge
zur Förderung chriftlicher Theologie. Hsg. von
Proff. DD. A. Schlatter und H. Cremer. 1. Jahrg.
1897. 2. Heft.) Gütersloh, C. Bertelsmann, 1897.
(V, 167 S. gr. 8.) M. 2.40

Ueber die Veranlaffung zu diefer Schrift giebt der
Verf. folgende Auskunft. Als Vertreter der practifchen
Theologie hat er diefe hiftorifchen Unterfuchungen nicht
aus Liebhaberei unternommen. Er fucht vielmehr nach
einer ,richtigen Theorie der Stellung der Kirche gegenüber
den focialen Bewegungen der Gegenwart'. Nun
hat Harnack die früher von ihm gezogene Parallele
zwifchen Naumann und den Schwarmgeiftern der Reformations
-Zeit als fragwürdig und falfch abgewiefen (Hilfe 1896,
No. 25). Er unternimmt es hier, diefelbe näher zu begründen
, überläfst es aber dabei ganz dem Leser, die
parallelen Züge selbst herauszufinden. Soviel ich fehe,
wird nur einmal direct auf die Neuzeit angefpielt. S. 160
lieft man von den aufrührerifchen Bauern: ,Es war alfo
eine echt national-foziale Bewegung mit demokratifchem
Charakter, aber nicht communistifch'. (Letzteres gilt
freilich von Th. Münzer, S. 154, 159.) Aber auch ohne
ausdrückliche Polemik gegen Harnack, die den Eindruck
der gefchichtlichen Unterfuchungen nur abfehwächen
würde, werden feine Lefer, wie er hofft, das Ungenügende
jener Zurückweifung erkennen.

Der hierin liegenden Aufforderung ift es nicht ganz
leicht nachzukommen. Denn aufser Carlftadt, bez. den
Zwickauern, und Münzer, bez. den Bauern von 1525, werden
keine eigentlichen Schwarmgeifter derRef.-Zeit behandelt.
Einige andere mit Namen genannte oder kurz be-
fprochene Männer gehören in ein ganz anderes Gebiet,
das hier nicht zur Verhandlung fleht, nämlich in dasjenige
der Erasmifchen Reformgedanken. Dafs er aber
von den Täufern fchweigen mufs, empfindet der Verf.
felbft als Mangel. ,Allein die Zeit hat's nicht wollen
leiden'. Das wäre in einer Vorlefung unter obigem
Titel bedenklich genug, ift aber in einer Druck-
fchrift eine ganz nichtige Ausrede. Das Material
zur Vergleichung ift alfo dürftig ausgefallen. Denn Joh.
Eberlin und Jak. Straufs, über die ausführlich berichtet
wird, rechnet v. Nath. doch nicht unter jene Radicalen.
Und was von Radicalismus bei dem Letzteren übrig
bleibt, hebt fich fchärfer als billig ift, von Luther ab.
Es hat nämlich dem Verf. gefallen, über Luther's Wucher-
fchriften in einer Weife zu referiren, die ich nur als
Leifetreterei bezeichnen kann. Aus feiner Darfteilung
läfst fich kaum ahnen, mit wie leidenfehaftlichem Zorn
fich Luther über die Zinsjunker (vgl. Kraut- und Schlotjunker
), die heiligen und verfluchten Wucherer, die öffentlichen
Diebe und Stuhlräuber ausgefprochen hat. Diefe
fanft-geglättete Abfchwächung von Luther's Art, über diefe
Dinge zu reden, gelingt aber nur, weil der Verf. fich in
ganz unbegründeter Willkür auf ,Luther's Stellung zu der
Entwickelung von 1523—25' [foll heifsen 1519—25] be-
fchränkt. Von feinen Schriften werden nur die Sermone
von 1519/20 und ,von Kaufhandl. u. Wuch.' 1524 be-