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Ausgabe:

1897 Nr. 1

Spalte:

24-26

Autor/Hrsg.:

Dörpfeld, Friedrich Wilhelm

Titel/Untertitel:

Gesammelte Schriften. 11. Bd 1897

Rezensent:

Thieme, Karl

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 1.

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man die gefetzlich geordnete und (ich entwickelnde Welt
der Phänomena exact erkennen, aber darüber hinaus
nichts erkennen zu können vermeint. Er fuhrt aus, wie
practifch unbefriedigend diefe Weltanfchauung ift, bei

deren confequenter Durchführung Sittlichkeit, Schönheit Zur Ethik. I. TL Die geheimen Feffeln der wiffenfchaftlichen und

Dörpfeld, Friedr. Wilh., Gesammelte Schriften. 11. Bd.

Gütersloh, Bertelsmann, 1895. (gr. 8.)

M. 3.—., geb. M. 3.60.

und Vernunft aufhören müffen als etwas Wahrhaftes
und Dauerndes zu gelten. Er zeigt dann, dafs die philo-
fophifchen (erkenntnifstheoretifchen) Vorausfetzungen,
unter denen man diefe exact-wiffenfchaftliche Weltanfchauung
zu gewinnen meint, in einem inneren Wider-
fpruche zu diefer Weltanfchauung felbft flehen und dafs
man bei Befeitigung diefes Widerfpruch.es vielmehr zu
einer Skepfis mit Bezug auf die Richtigkeit aller unferer
Erfahrung gedrängt wird. Auch die naturaliftifche Weltanfchauung
— und nicht anders die idealiftifche — beruht
im letzten Grunde auf Glauben d. h. auf einer ,von
Beweifen unabhängigen oder über jeden Beweis erhabenen
Ueberzeugung' (S. 164). Bei der Bildung folches Glaubens
fpielt immer nicht nur die Vernunft, fondern namentlich
auch die Autorität, diefe befonders in der Form des
,Zeitgeiftes', der ein beftimmtes ,pfychologifch.es Klima'
fchafft, eine bedeutende Rolle (S. 204 ff.). Wir müffen
nun zwar, den unvermeidlichen Urtheilen unferer Sinneswahrnehmung
folgend, an die Wirklichkeit der Welt der
Phänomena glauben. Aber wir müffen dabei das Be-
wufstfein haben, eben einen unferen practifchen Bedürf-
niffen entfprechenden Glauben zu vollziehen; und wir
haben kein Recht, die auf diefem Wege gewonnene
naturwiffenfchaftliche Erkenntnifs blofs um der logifchen
Confequenz willen unbefchränkt zu verallgemeinern und
in diefer Verallgemeinerung für die alleinige Wiffenfchaft
auszugeben. Wir müffen vielmehr fuchen, denjenigen
Einklang unferer Gefammtanfchauung mit anderen Be-
dürfniffen unferes Glaubens herzuftellen, welchen die
naturaliftifche Weltanfchauung nicht zu bieten vermag.
Der Theismus ermöglicht diefen Einklang und erweift
eben damit feine wiffenfchaftliche Berechtigung und
Notwendigkeit. Aber noch voller und befriedigender
als der allgemein theiftifche ftellt der fpeciell chriftliche
Glaube einen Zufammenfchlufs unferer Erkenntniffe zu
einem unferen vielfeitigen Bedürfniffen entfprechenden
Ganzen her. Erft bei der chriftlichen Anfchauung, in
deren Mittelpunkte die Idee von der Menfchwerdung
Gottes fleht, wird die ganze natürliche Welt und unfer
menfchliches Leben in ihr in eine lolche Beleuchtung
gefetzt, bei der die letzten Schwierigkeiten und Räthfel
gelöft werden und unfere tiefften Bedürfniffe, insbefondere
die ethifchen, volle Befriedigung finden.

Leider beläfst der Verf. den chriftlichen Glauben in
der Rolle einer zwar den Bedürfniffen des Menfchen am
beften entfprechenden, aber doch eigentlich nur auf
Autorität gegründeten Gefammtanfchauung. Er fchreitet
nicht dazu fort, ihn auf folche pofitive Erfahrungen
fittlich-religiöfer Art zu gründen, welche ihn erft zu einer
freudigen, fieghaften Ueberzeugung werden laffen. Vielleicht
würde der Verf. diefem Puncte eine gröfsere Auf-
merkfamkeit zugewendet haben, wenn er bei feiner Auf-
faffung des chriftlichen Glaubensinhalts neben dem Momente
der Menfchwerdung Gottes auch dem der Gottes-
kindfchaft der Menfchen ein gehöriges Gewicht beizulegen
gewohnt wäre. Aber indem ich diefen Mangel hervorhebe
, möchte ich doch zugleich dem Ernfte des Kampfes
um die Weltanfchauung, von dem das ganze Werk zeugt,
vollfte Anerkennung zollen und den Wunfeh ausfprechen,
dafs das Werk feine zum Nachdenken über die höchften
Probleme eminent anregende Macht auch in Deutfchland
bewähre. Dafs dazu durch eine gute Ueberfetzung für

praktifchen Theologie. Ein Beitrag zur Apologetik. 2. Tl. Einige
Grundfragen der Ethik. (XXXVII, 268 S.)

Dörpfeld arbeitete in feinen letzten Jahrzehnten an
einer grofsen apologetifchen Schrift über ,Die geheimen
Feffeln der Theologie'. Die Herausgabe ihrer Bruch-
ftücke ordnete er letztwillig an. Sein Schwiegerfohn
unternahm iie, indem er ihnen eine überfichtliche Gliederung
gab und einige verwandte ethifche Abhandlungen
Dörpfeld's, theilweife fchon gedruckt, zur Ergänzung
mit anfchlofs. Auch eine etwas forgliche ,Abwehr von
Mifsdeutungen' hat er für die Recenfenten vorausge-
fchickt.

Die ,geheimen Feffeln der Theologie' rühren nach
Dörpfeld daher, dafs fie die Ethik nicht rationell und
unabhängig von jedem andern Wiffen lehrt, fondern nur
nach der fcholaftifchen Autoritätsmethode. Diefe befteht
darin dafs die Ethik von der Dogmatik abhängig gemacht
, d. h. auf Grund eines dogmatifchen Lehrfatzes,
des fog. Formalprincips, lediglich aus der heiligen Schrift
abgeleitet wird. Dörpfeld hat nichts dagegen, dafs es
auch Lehrbücher der Ethik gebe, die fich lediglich auf
die heilige Schrift ftützen (S. XXVI), aber als die funda-
mentalfte Aufgabe der Theologie bezeichnet er die
Pflege der rationellen Ethik. Denn diefe und nicht die
Dogmatik ift die theologifche Fundamentaldisciplin. Das
foll vor allem eine lange kirchengefchichtliche Betrachtung
beweifen, die von Luther's erfter Thefe ausgeht.
Was Dörpfeld an Uebertreibung ihrer Tragweite leiftet,
ift unglaublich. Das Allerwichtigfte ift ihm, dafs fie ein
Morallatz ift: ift die gereinigte Moral es gewefen, welche
die ganze Kirchenreinigung des 16. Jahrhunderts in der
Dogmatik u. f. w. bewirkt hat, to ift damit auch be-
wiefen, dafs die Dogmatik von der Ethik abhängig ift,
woraus weiter folgt, dafs diefe ihre eigene Erkenntnifs-
quelle hat und demgemäfs rationell entwickelt werden
mufs. Die Vernachläffigung der rationellen Ptthik hat
die fchlimmften Folgen befonders defshalb, weil fie der
neutrale Boden ift, auf dem allein die Kirche mit den
ihr Entfremdeten wieder Fühlung gewinnen kann.

Aber was verfteht nun eigentlich Dörpfeld unter der
rationellen Ethik? Schon dafs er die Unabhängigkeit
der Ethik von jedem andern Wiffen, von jeder Weltanfchauung
forderte, erinnerte an Herbart: deffen Ethik ift
die rationelle. In ihr find durch Induction aus den er-
fahrungsmäfsig gegebenen Aeufserungen der fittlichen
Anlage die normalen Willensverhältniffe gefunden; nicht
mehr als fünf find möglich, gerade eine Handvoll, wie
fleh deduetionsmäfsig beweifen läfst. Damit ift die Ethik
ihrem principiellen Theile nach in allem Wefentlichen
im reinen, fo gut wie vollendet. Sie fleht an Sicherheit,
Exactheit und Evidenz hinter keiner andern rationellen
Wiffenfchaft zurück. Aber die Theologie wirft die
grofse Gottesgabe der rationell evidenten Ethik, welche
die fundamentale Hälfte der Religionslehre zur Sache
evidenten Wiffens macht, wie ein werthlofes Ding auf
die Strafse (S. 250). In Palmer's .Moral des Chnften-
thums' findet fleh allerdings auch eine principielle Ethik,
im Wefentlichen die Herbartifche. Diefe Anlehnung an
Herbart zeigt, dafs auf dem Wege der Autoritätsmethode
nicht zu einer principiellen Ethik zu gelangen
ift. (S. 198*).

Wie verhält fleh weiter die rationelle Ethik Herbart's
weitere Kreife die Möglichkeit geboten ift, verdient j zum Chriftenthum? Ihre Refultate ftimmen mit den

grofsen Dank. Leicht ift die Leetüre des Buches nicht.
Aber wer fleh die Mühe nimmt, den Gedankengängen
des Verf.'s zu folgen, wird durch feine fcharffinnigen,
geiftvollen, originellen Ausfuhrungen reich belohnt werden.
Jena. H. H. Wendt.

practifchen Weifungen des Neuen Teftaments durchaus
überein; durch ihre Principien erhalten diefe erft ihre
rechte Beleuchtung (S. 196. 200*). Andrerfeits heifst
es S. I99'20C>, dafs diefe Weifungen darum in fo reicher
Fülle gegeben waren, damit die ihnen zu Grunde