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Ausgabe:

1897 Nr. 15

Spalte:

412-415

Autor/Hrsg.:

Rauschen, Gerhard

Titel/Untertitel:

Jahrbücher der christlichen Kirche unter dem Kaiser Theodosius dem Grossen 1897

Rezensent:

Krüger, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 15.

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ziehen, um die allmähliche Loflöfung Jefu von dem Judenthum
zu erklären (S. 196 fg). Anderswo hat es St. unter-
laffen, mit der durch die Wiffenfchaft gebotenen Schärfe
zu fcheiden, wie weit Gewiffheit, Wahrfcheinlichkeit, |
Möglichkeit reichen; fo z. 15. wenn er einen Fortfehritt
Jefu in der formellen Ausgeftaltung seiner Parabel wahrzunehmen
meint (S. 71). Oder er ftellt die geiftige
Thätigkeit Jefu zu fehr nach Analogie einer mühfamen
Verftandesoperation, nicht als unmittelbares Schaffen dar
(S. 70.75.272). Doch ich breche ab. Zu den gelungenflen
Ausführungen des Vf. gehört das Capitel über die
Wunder Jefu (S. 125 —148), vor allem aber das Schlufs- ,!
capitel: les exigences de Jesus (S. 319—393). Aus den
dort abgegebenen Erklärungen erhellt, dafs St. auch !
über die Fragen, die man fonft als befonders heikel zu
bezeichnen pflegt, fich rein und klar ausfpricht. So läfst
beifpielsweife folgende Ausfage gewifs an Deutlichkeit
nichts zu wünfehen übrig. Jl faut que chacun des
miracles attribues au Christ dans /es Evangiles
sott etudie separement, en lui-meme, et a la lu-
miere d'une saine critique. Cette critique doit
reposer sur ce principe indiscutable, sur cette
affirmation definitive de la science moderne: Les
lois de la nature sont iuviol'ables1 (S. 192). Wer fich
aber davon überzeugen will, in welchem Maafse die j
wiffenfehaftliche Freiheit des Urtheils fich bei St. mit
dem lebendigften und tiefften religiöfen Verftändnifs
part, der lefe die Schlufsfeiten, auf welchen der Vf. in
fchlichter und fchlagender Sprache das Wefen des evan-
gelifchen Fleilsglaubens im Unterfchiede von der fides
historica zum Ausdruck bringt (bes. S. 338 fg.). Diefe
Erörterungen bilden den würdigen Abfchlufs eines
Werkes, das, trotz aller Ausheilungen, die im Einzelnen
gemacht werden können, wie wenige geeignet ift, in den
weiteren Kreifen der Gebildeten das gefchichtliche und
das religiöfe Verftändnifs des Evangeliums und feines j
lebendigen Herzpunktes, der Perfon Chrifti, fowohl zu 1
wecken als zu vertiefen.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Ehrhardt, Lic. Eug., Le principe de la morale de Jesus. Ltgon
d'ouverture (2 novembre 1896). Paris, Fifchbacher, 1896.
(19 S. gr. 8.) Fr. 1.—

Diefer werthvolle Beitrag zur biblifchen Theologie
will auf ftreng hiftorifchem Wege eine Antwort auf die
für die chriftliche Ethik entfcheidende Frage geben: Be-
fteht zwifchen der Perfon Chrifti und der Moral des Chriften-
thums ein nothwendiges und daher bleibendes Verhält-
nifs? Man mufs bedauern, dafs die engen Grenzen eines
Vortrags den Verfaffer genöthigt haben nicht ausführend,
fondern nur andeutend zu verfahren; die gedrängte Kürze,
deren er fich befleifsigt, zwingt den Lefer zu ernfter
intenfiver Mitarbeit. Allerdings wird die geiftige An-
ftrengung, welche der Vortragende fordert, reich belohnt.
Wie in feinem Buch über den ,Grundcharakter der Ethik
Jefu' (1895), ftellt E. das zu löfende Problem in das gefchichtliche
milieu, welches der Ethik Jefu zugleich
ihre zeitlich bedingte Form giebt und diefelbe in ihrer
einzigartigen Originalität erfcheinen läfft. Nach einer
kurzen Schilderung des sittlich-religiöfen Lebens des j
zeitgenöffifchen Judenthums nimmt E. feinen Ausgangspunkt
im Bewufftfein Jefu felber, um erft dann auf feine
Lehrverkündigung einzugehen. Er verfolgt diefen Weg
in der richtigen Erkenntnifs, dafs der Schlüffel zum Verftändnifs
der ethifchen wie der religiöfen Grundgedanken
Jefu in der Perfönlichkeit desfelben liegt. Die Seele
diefes Perfonlebens war die einzigartige Gotteserkennt-
nifs, die unmittelbare Erfahrung eines Gottes, der nicht
in die Gefchichte eingefchloffen ift, der auch nicht in
dem Gefetz den höchften und erfchöpfenden Ausdruck
feines Willens kund gegeben hat, fondern fich dem Ge-

müthe des Einzelnen in feiner ewigen Vaterliebe er-
fchliefst. Damit verlegt Jefus den Schwerpunkt der fitt-
lichen Forderung aus der Ordnung des durch das Gefetz
bezweckten und zu regelnden Gemeinfchaftslebens
in den Ausbau der inneren Welt, an welche keine
ftatutarifche Norm heranreicht. IIne corrigepas seule-
ment la loi, il franchit les limites de toitte loi . . .
II a decouvert unc spkere de devoirs moraux que
la Tora u' a point reveles. Diefe Thatfache ift angedeutet
in der uns in den Evangelien häufig begegnenden,
auch in dem Ausdruck d/.ot.nLÜiJv fich zufammenfaffen-
den Forderung. Die Analyfe und Prüfung diefes durch
die weitere gefchichtliche Entwickelung oft getrübten
und verfchobenen, im N.T. felbft manche Seiten darbietenden
Begriffs gehört zu den intereffanteften Ausführungen
des Vortrags und führt zugleich zur ab-
fchliefsenden Antwort auf die am Anfang aufgeworfene
Frage. La morale de Jesus n est point keteronome
car le coeur de Vkomme est fait pour eile, comme
eile est faite pour le coeur de V komme . . . eile s'est
imposee a lui en la personne de celui qtei est venu
non pour etre servi, mais pour servir et pour donner
sa vie en rancon pour plusieurs — Es ift nicht möglich
, im Rahmen einer kurzen Notiz, den reichen Inhalt
diefes Vortrags auch nur andeutend wiederzugeben.
Die Schwierigkeit einer eingehenden Analyfe hat wohl
auch darin ihren Grund, dafs es dem Lefer nicht leicht
wird, unter der Fülle des vorgeführten Stoffs, die leitenden
Gefichtspunkte im Auge zu behalten; die zahlreichen
Streiflichter, die E. nach vielen Seiten hin ausgehen
läfft, find zwar ftets anregend und intereffant, fie dienen
aber nicht alle unmittelbar zur Aufhellung des Grundge-
gedankens; eine energifchere Concentration auf das
Hauptthema hätte uns vielleicht mancher geiftvollen
Apercus beraubt, würde aber das Ganze zu tieferer Wirkung
gebracht und dem Lefer einen einheitlicheren
Eindruck zurückgelaufen haben. Da indeffen diefer
Mangel nur die Kehrfeite eines Vorzugs ift und aus dem
embarras de rickesses mit welchen der Vf. zu ringen
hat, herrührt, so wäre es unbillig, diefe Ausftellung befonders
zu urgieren. Wir empfehlen die Schrift fowohl
den ,Neuteftamentlern' als den ,Syftematikern', die beide
aus derfelben dankenswerthe Belehrung erhalten werden.

Strafsburg i. E. P. Lobftein.

Rauschen, Gymn.-Ober- u. Relig.-Lehr. Dr. Gerh., Jahrbücher
der christlichen Kirche unter dem Kaiser Theo-
dosius dem Grossen. Verfuch einer Erneuerung der
Annales Ecclefiastici des Baronius für die Jahre
378—395. Freiburg, Herder, 1897. (XVIII u. 610 S.
gr. 8.) M. 12.—

,Was will diefer Baronius redivivus unter uns ? Was
hat das Schattenbild diefes aus der Gruft des fiebzehnten
Jahrhunderts wieder heraufbefchworenen katholifchen
Annalenfchreibers den wiffenfehaftlich arbeitenden Söhnen
des zwanzigften Jahrhunderts kund zu thun?' Die berühmten
Worte, mit denen Röhr feine Befprechung
des Hafifchen Hutterus eröffnete, leicht abgewandelt
anzuführen, mag Lefer und Recenfenten des Buches von
Raufchen nahe liegen. Aber man darf fich beruhigen.
Raufchen meint es mit feiner Wiederbelebung des
Cardinais nicht viel anders als Hafe, wenn er den Geift
des Dogmatikers citirte: fo wenig wie diefer damals ift
Baronius heute dazu auserfehen, das neue Unternehmen
unter den Schutz der kirchlichen Rechtgläubigkeit zu
ftellen. Es handelt fich um eine auf dem Standpunkt
des modernen Wiffens und Könnens und ohne polemifchcn
Nebenzweck verfuchte ,Sichtung und chronologifche
Zufammenftellung des überlieferten Materials', in der der
Verf. ,die befte Grundlage und Handhabe für Special-
forfchung' fieht. Dafs er gerade mit der Regierung des