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Ausgabe:

1897 Nr. 13

Spalte:

358-359

Autor/Hrsg.:

Dalmer, Johs.

Titel/Untertitel:

Die Erwählung Israels nach der Heilsverkündigung des Apostels Paulus 1897

Rezensent:

Bousset, Wilhelm

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357

Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. 13.

358

130—135 ftatt 130—150, S. 12 Mitte fteht derer ftatt
deren, S. 13 unten V, 22,3 ftatt II, 22,5.

Strafsburg i. E. H. Holtzmann.

Wiesen, Paft. G., Die Stellung Jesu zum irdischen Gut mit

befonderer Rückficht auf das Gleichnis vom ungerechten
Haushalter. Gütersloh, Bertelsmann, 1895.
(VII, 84 S. gr. 8.) M. 1.20

Das kleine Schriftchen enthält drei Auffätze, 1. einen
im wiffenfchaftlichen Prediger verein zu Hannover gehaltenen
Vortrag über die Stellung Jefu zum irdifchen Gut; 2.
und 3. im .Beweis des Glaubens' veröffentlichte Auffätze
über das Parabelreden Jefu und über das Gleichnifs vom
ungerechten Haushalter.

Von Abfchnitt 1 fagt der Verf. felbft, dafs diefer
fich vorwiegend auf Autoritäten ftütze, alfo wenig Neues
bringe. Und es läfst fich nicht verkennen, dafs er fich
hier feine Aufgabe ein wenig leicht gemacht und die
Probleme nicht fcharf genug geftellt habe. Wir finden
faft überall nur die fo beliebten Ausdeutungen und Ab-
fchwächungen der Worte Jefu. Das Wehe gegen die
Reichen ift nur gegen folche Reiche gemünzt, deren
Sinn im irdifchen aufgeht. Das Sorgen ift verboten,
aber nur das ungeiftliche ungläubige Sorgen. Wenn es
heifst: .Verkaufet eure Habe', fo ftehe nicht da: ,eure
ganze Habe' u. f. w.

Dem gegenüber hebe ich nun noch einmal nachdrücklich
zweierlei hervor. 1. Jefus kannte im Grofsen
und Ganzen keinen fittlich verwertheten Reichthum. Die
Reichen, die er kannte, waren zum grofsen Theil die Volks-
ausfauger, die Abtrünnigen und Römlinge. Jefu Anfchau-
ung, dafs der Reichthum feelengefährlich fei, entfprach
der Lage der Dinge. Wenn Jefus mit einzelnen Reichen
verkehrte, fo machte er eben eine Ausnahme und handelte
dabei nach dem Wort, dafs die Kranken des Arztes
bedürfen; er verkehrte mit den Reichen, weil fie die j
Geächteten, die Sünder waren. Das allgemeine Wort Jefu
aber, dafs ein Reicher fo fchwer in das Reich Gottes komme,
wie ein Kameel durch ein Nadelöhr gehe, füllte man doch
nicht mehrdurch die beliebten Ausdeutungen abfchwächen;
fügt doch Jefus felbft hinzu: ,Was bei Menfchen unmöglich
ift, ift bei Gott möglich', d. h., wenn ein Reicher
ins Himmelreich kommt, fo ift das ein Wunder Gottes
und gegen alle menfchliche Möglichkeit. 2. Jefus lebte
unter andern klimatifchen, culturellen und gefellfchaft- I
liehen Bedingungen, als wir modernen Menfchen. Daher j
haben feine Worte: Sorget nicht für den kommenden I
Tag, — fammelt keine Schätze auf Erden, — unfer
täglich Brod gieb uns — für ihn einen andern Sinn als
für uns. Sie find dem Buchftaben nach nicht auf uns
anwendbar, nur dem Geifte nach.

Man follte endlich einmal aufhören ängftlich am Buch- j
ftabenfinn der Worte Jefus zu deuteln und abzuwägen,
ob fie buchftäblich noch uns gelten. Dann erft wird
unfer Blick freier und weiter werden für den gewaltigen
Ernft und die Hoheit des Evangeliums, und dies Evangelium
wird feinerfeits, wenn wir es nicht vorweg auf
den Durchfchnittszuftand der modernen Menfchen zu-
fchneiden, nur gewinnen und kraftvoller, gewaltiger zu
uns reden. An einem Punkt bekennt übrigens Referent
gern und mit Freuden von dem Verfaffer gelernt zu
haben. Ich meine den Hinweis Wiefen's darauf, dafs Jefus
bis zu feinem dreifsigften Jahre feinen Beruf ausgeübt
hat. Das ift allerdings bei der Frage nach Jefus Stellung !
zum Beruf von mir bisher überfehen.

Noch weniger kann ich dem zweiten Auffatz Wiefen's
zuftimmen. Ich gebe ihm recht, wenn er fich gegen 1
eine einfeitige fyftematifirende Behandlung der Parabeln
Jefu nach der Methode von B. Weifs-Jülicher erklärt. [
Aber der Satz: ,ein Vergleich wird durch Verfchweigung
der einen Hälfte in eine Allegorie verwandelt und die
Ergänzung diefer Hälfte ift allegorifche Auslegung', —

halte ich für völlig verfehlt und für einen einfachen
Rückfehritt.

Der Deutung, die Wiefen dem Gleichnifs vom
ungerechten Haushalter giebt, ftimme ich im Grofsen
und Ganzen zu. Nur möchte ich den Sinn des Ganzen
noch fchärfer herausheben und ihn dahin zufammenfaffen,
das der Menfch das irdifche Gut dann am bellen und
feinem Wefen entfprechend verwaltet, wenn er diefes in
möglichft umfaffender Weife an die Armen fortfehenkt.
Nur erhebt fich dann die Frage, ob wirklich diefe Parabel
— beffer diefe Allegorie — von Jefus felbft flamme, und
was für eine urfprüngliche Herren-Parabel der lukanifchen
Umdeutung zu Grunde liege.

Jedenfalls aber ift von der kleinen Schrift eines
rühmend hervorzuheben: Die ruhige, vornehme und durchaus
fachliche Haltung derfelben, die freundliche Aus-
einanderfetzung mit andersdenkenden. Und dafür werden
dem geehrten Verfaffer alle diejenigen Dank wiffen,
welche die Spannung zwifchen weiten Kreifen der
Geiftlichen und den Vertretern der theologifchen Wiffen-
fchaft auf das fchmerzlichfte als ein fchweres Kreuz
unferer Kirche empfinden.

Göttingen. W. Bousset.

Dalmer, Privatdoc. Johs., Die Erwählung Israels nach der
Heilsverkündigung des Apostels Paulus. Gütersloh, Bertelsmann
, 1894. (VIII, 147 S. gr. 8.) M. 2.—

Es find manche Vorzüge diefer Arbeit nachzurühmen,
eine bis in's kleinfte gehende liebevolle Verfenkung in
den behandelten Abfchnitt des Römerbriefs, genaue und
folide Arbeit, ein ernfthaftes Ringen fich wirklich in die
Gedankenwelt des Paulus hineinzuverfetzen, der Muth,
unbequemen Gedankengängen nicht aus dem Wege zu
gehen. Mancher moderne Litterarkritiker, der fchlankweg
bei fich erhebenden exegetifchen Schwierigkeiten mit der
Annahme von Quellen operirt, könnte etwas von dem
befonnenen Scharffinn und der Gründlichkeit des Verfaffers
lernen.

Und dennoch mufs Referent fich in der Hauptfache
ablehnend gegen die ganze Schrift verhalten. Man kann
vom Guten auch zu viel geben, und hier ift fo viel dia-
lectifcher Scharffinn aufgeboten, dafs der Kommentar zu
Rö. 9 —11 fchwieriger und oft fchwer verftändlicher
geworden ift, als die Capitel felbft. Paulus Briefe —
auch der Römerbrief — wollen gelefen werden als
Herzensergüffe einer impulfiven prophetifchen Perfönlich-
keit und nicht als dialectifche Lehrfchriften. Und namentlich
deutlich tragen Rö. 9—11 den ringenden unfertigen
Charakter an fich. Es läfst fich nicht verkennen, dafs
in Rö. 9 —11 nicht weniger als drei Gedankenreihen
nebeneinander liegen: a) wenn Gott das Volk Ifrael
(y.atu oÜQxa) feiner grofsen Mehrheit nach verworfen hat,
fo hat er das als der Gott gethan, der annimmt und verwirft
, wen er will. Der Menfch aber darf nicht rechten.

b) Ifrael felbft trägt die Schuld feiner Verwerfung.

c) Jfrael ift gar nicht endgültig geworfen; es giebt ein
grofses Geheimnifs: auch der verftockte Theil des Volkes
wird dereinft bekehrt werden. — Namentlich die
letzte Gedankenreihe tritt ganz plötzlich und überrafchend
auf, und man wird unwillkürlich an die liebevolle In-
konfequenz der alten Propheten erinnert, von denen auch
manche, nachdem fie Unheil über Unheil und völliges
Verderben über Ifrael geweisfagt haben, einen letzten
fchwachen Hoffnungsfchimmer haben aufleuchten laffen.

Dalmer fetzt jedoch alles daran, um aus Cap. 9—11
einen einheitlichen Gedankengang herauszufchlagen. So
mufs er an dem Eigenthümlichen und Charakteriftifchen
eines jeden der drei Gedankengänge etwas abbrechen
und mindern. In Cap. 9 wird der Gedanke einer doppelten
Prädeftination, wenigftens was die Prädeftination
der Verdammten anbetrifft, entweder geleugnet oder
doch ganz in den Hintergrund gedrängt und nur als