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Ausgabe:

1897 Nr. 11

Spalte:

298-300

Autor/Hrsg.:

Weingarten, Herm.

Titel/Untertitel:

Zeittafeln und Ueberblicke zur Kirchengeschichte. 5., verb. Aufl 1897

Rezensent:

Deutsch, Samuel Martin

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Theologifche Literaturzeitung. 1897. Nr. II.

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punkt der Entwickelung. Er traut fich zu, diefe Ent- I eine ganz andere Art der Beweisführung in allen Lebenwickelung
ia allen ihren entfcheidenden Phafen noch re- | Jefu-Fragen für nothwendig halten. Wer einmal fich
conftruiren zu können. Er löfst mit Hilfe der Entwicke- ' ernftlich die Art der Ueberlieferung der Worte und Reden
lungstheorien alle Schwierigkeiten und Dunkelheiten, das j Jefu vergegenwärtigt hat an der Hand etwa der claffifchen
Seelenleben Jefu liegt ganz offen vor feinen Augen. 1 Ausführungen in Weizfäcker's apoftolifchem Zeitalter, wird
P. weifs genau, dafs Jefus im Anfang nur mit dem j zu der Erkenntnifs kommen, dafs alle Sicherheit der
Bewufstfein eines Propheten auftrat, dafs dann allmählich j Forfchung hier aufserordentlich erfchwert ift, dafs fie nur
fein Bewufstfein gediegen, und Jefus nun durch den ge- [ da möglich ift, wo eine breite Maffe von Beweifen vor-
heimnifsvollen Titel des Menfchenfohnes das zum Aus- i liegt, dafs man auch aus diefem Grunde auf den Nachdruck
gebracht habe. Doch habe Jefus anfänglich fich ! weis einer Entwickelung des Lebens Jefu von vorn-
noch nicht den Menfchenfohn im vollen Danielifchen und herein wird verzichten müffen, dafs es nur darauf an-
meffianifchen Sinne genannt. Erft ganz am Finde feines 1 kommen kann, die hervorragendften und wichtigften
Lebens habe er fich zum vollen Anfpruch auf die 1 Punkte festzulegen, gewiffe Grundlinien zu ziehen, Grund-
Meffianität erhoben und endlich fich als den Meffias, der j ftimmungen zu zeichnen, dafs immer manches undeutlich
leiden und sterben, aber in Herrlichkeit wiederkehren j und unklar bleiben wird.

folle (wie der Danielifche Menfchenfohn), erfafst. Zu An einigen wenigen Beifpielen möchte ich diefe all-

diefem letzten Schritt aber fei er erft bei feinem letzten | gemeinen Behauptungen illuftriren. Die Behauptung,

dafs Jefus bei feinem erften Auftreten nur das Bewufstfein
eines Propheten gehabt und diefes allmählich zum
meffianifchen Selbftbewufstfein erweitert habe, ift zum
minderten unbeweifsbar, eine reine Phantasie, wie denn
überhaupt jeder ähnliche Verbuch der Kritiker Jefu
Botschaft, dafs das Himmelreich (das Reich vom I Selbftbewufstein durch eine Additionsformel von Prophet
Himmel her) ein Reich des Glückes und Friedens und der j und Meffias zu konftruiren immer von dem vernichtenden
Gerechtigkeit für Ifrael nahe fei, und dafs man fich auf | Urtheil getroffen werden wird: dann hat er die Theile

Aufenthalt in Jerufalem nach dem Mifslingen der Tempel
reform, nach der grofsen Strafpredigt gegen den Phari-
faeismus gekommen. Ebenfo zeigt fich eine klare Entwickelung
in Bezug auf die Reich-Gottes-Idee. Zu-
nächft übernahm Jefus von Johannes dem Täufer die

diefes vorzubereiten habe. Diefe Idee habe Jefus ethifch
vertieft. Mit feinem erwachenden Meffiasbewufstfein entstand
dann der weitere Fortfehritt der Idee, dafs das
Gottesreich wenigstens theilweife fchon vorhanden fei.

in feiner Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Allen
Behauptungen ferner über das Verhältnifs der Reichgottespredigt
Jefu und des Täufers fehlt jeder sichere
Grund und Boden. Von der Reichgottespredigt des

Doch blieb die eschatologifche Auffaffung die herrfchende. ] Täufers wiffen wir gar nichts, wir wiffen nicht ein
Die particularirtifche Auffaffung des Gottesreiches erweitert , mal ob er vom Reich Gottes geredet, oder nicht viel-
fich allmählich zur univerfaliftifchen. Aber am Schluffe mehr wefentlich von Gericht und Untergang. Die einzige
feines Lebens, da fich die reine Seele Jefu im Leiden | Stelle Mt. 3,2 kann hier gar nichts beweifen. Um noch
trübte, mifchten fich in ftärkerem Maafse apokalyptifch einen Punkt herauszugreifen — fo finden fich Worte
theokratifche Ideen ein. Die Gemeinde Jefu hat dann 1 Jefu, die von einer Befchränkung feines Gefichtskreifes
in den Reich-Gottes-Gleichniffen die Lehre vom Reich auf Ifrael zeugen, dicht neben andern voll kühnfter
Gottes weiter geführt, und die Begriffe eines jenfeitigen , und weitblickender Ahnungen. Es ift möglich, dafs hier
Himmelreiches und der diesfeitigen Kirche gebildet. Im eine Entwickelung vorlag, ebenfo wie bei dem Urtheil
Johannesevangelium liegt diefe Entwickelung abgefchloffen Jefu über das Volk Ifrael und deffen Empfänglichkeit
vor. für feine Predigt. Es ift das möglich, aber es bletbt doch

Ich glaube nicht, dafs der Verf. bei feinen ins ein- eine Hypothefe die mit aller Referve und Vorficht auf-
zelne gehenden kühnen Conftructionen es fich einmal [ zuftellen wäre. So könnte man noch viele anführen und
klar gemacht hat, was für ein Wagnifs es ift, wenn wir I das letzte Wort wäre immer: mehr Vorficht und Selbft-
jetzt nach zwei Jahrtaufenden die innerfte Structur eines befcheidung auf dem Gebiete der Leben-Jefu-Fragen.
Perfonlebens noch blofslegen wollen, an dem die zwei Hervorheben mufs ich noch, dafs auch das Urtheil

des Verfassers in den Einzelfragen der fynoptifchen
Kritik mir an vielen Punkten recht getrübt zu fein
fcheint durch eine nunmehr faft veraltete Vorliebe für
die Priorität des Matthäusevangeliums.

Jahrtaufende mit dem Berten was fie hatten, gehangen
haben. Ganz gewifs will ich der hiftorifchen Arbeit am
Leben Jefu den Werth nicht abfprechen. Aber wer fich
an fie heranmacht, müfste vor allem fich die ungeheure

Schwierigkeit der Arbeit erft einmal recht klar machen. 1 Göttinnen W B

Er wird fich von vornherein fagen müffen, dafs hier an _' ' usse

vielen Punkten das Ende der Arbeit ein vorfichtiger .

Verzicht auf ein abfchliefsendes Urtheil fein wird, dafs Weingarten, Prof. Herrn., Zeittafeln und Ueberblicke zur
vieles im Dunkeln uud Ungewiffen bleiben mufs, dafs : Kirchengeschichte. 5. verb. Aufl., durchgefehen und

wir froh fein können, wenn wir hier und da ein weniges
begreifen.

Und namentlich hätte P. fich das fagen müffen. Denn
er fleht noch auf dem nun bereits etwas antiquirten
Standpunkte, nach dem die fynoptifche Literatur erft

ergänzt von Prof. D. Dr. C. Franklin Arnold. Leipzig,
H. Härtung & Sohn, 1897. (IV, 290 S. 4.) M. 5.—•

geb. M. 6.—

Die Weingarten'fchen Zeittafeln, die fich feit ihrem

in den Jahren 130—150 ihre gegenwärtige Geflalt er- ■ erften Erfcheinen im Jahre 1870 als ein nützliches Hülfs-
halten hat. F"ür ihn liegt ein volles Jahrhundert zwifchen mittel für das Studium der .Kirchengefchichte bewährt
diefer Litteratur und dem Leben Jefu. Dennoch treibt j haben, erfcheinen hier in mehrfacher Beziehung in er-
er feine hiftorifche Kritik fo unbekümmert und ficher, neuter Geftalt. Wenn bei der vorhergehenden Auflage
als wenn es fich um Berichte von heute auf morgen fchon die Rückficht auf den damals noch lebenden
handelte. Ihm genügt es noch fehr oft für feine ganze Verfaffer eine Schonung feines Werkes gebot, und die
Auffaffung entfeheidende Behauptungen auf die Nadel- j Veränderungen fich wefentlich auf die Berichtigung von
fpitze eines Wortes zu ftellen, deffen genuinen Wortlaut j Einzelheiten befchränkten, fo hat das Buch diesmal eine
er erft aus der Vergleichung der Synoptiker mit einer nie i durchgreifende Umgeftaltung erfahren, von der nicht zu
fehlenden Sicherheit entnimmt, deffen nähere Situation, | verkennen ift, dafs fie zur Erhöhung feiner Brauchbarkeit
deffen Stellung und Bedeutung im Verlauf des Lebens 1 beiträgt. Aeufserlich ift an die Stelle des Oktav- das
Jefus er erft errathen mufste. — Auch wer der Mei- Quartformat getreten, das, wenn auch weniger handlich,
nung ift, dafs P. mit der Datirung der Synoptiker um 1 doch in diefem Falle fich als zweckmäfsig erweift, weil
ein gutes Menfchenalter vorbeigegriffen hat, wird doch es das die Ueberfichtlichkeit beeinträchtigende Zufammen-

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